L 3 AL 164/11 B ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 31 AL 646/11 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AL 164/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der die vorläufige Gewährung von Arbeitslosengeld begehrt
wird, fehlt in der Regel der Anordnungsgrund, wenn dem Antragsteller bereits Leistungen zur Sicherung des
Lebensunterhaltes nach dem SGB II gewährt worden sind. Ausnahmsweise kann ein Anordnungsgrund dann
vorliegen, wenn die beanspruchte Leistung, hier das Arbeitslosengeld, erheblich über dem
Grundsicherungsniveau liegt und der Antragsteller bei einer Verweisung auf die Leistung der Grundsicherung
schwerwiegende und unzumutbare Nachteile erleiden würde.
I. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 30. November 2011 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

III. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe:

I.

Der Antragsteller wendet sich gegen den Beschluss des Sozialgerichtes Dresden vom 30. November 2011, mit dem sein Antrag auf vorläufige Gewährung von Arbeitslosengeld abgelehnt worden ist.

Am 4. Oktober 2011 meldete sich der Antragsteller mit Wirkung zum 4. Oktober 2011 bei der Antragsgegnerin arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Arbeitslosengeld.

Mit Bescheid vom 19. Oktober 2011 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag ab. Der Antragsteller habe keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, da er in den letzten zwei Jahren vor dem 4. Oktober 2011 weniger als 12 Monate versicherungspflichtig gewesen sei und damit die Anwartschaftszeit gemäß der §§ 123 und 124 des Sozialgesetzbuches Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) nicht erfüllt habe. Dieser Bescheid enthielt eine Rechtsbehelfsbelehrung. Einen Widerspruch legte der Antragsteller dagegen nicht ein.

Dem Antragsteller wurden durch das Jobcenter Sächsische Schweiz-Osterzgebirge für den Zeitraum vom 1. Oktober 2011 bis 31. März 2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) bewilligt.

Mit Schriftsatz vom 15. November 2011 hat der Kläger beim Sozialgericht Dresden vorläufigen Rechtsschutz und die Gewährung von Arbeitslosengeld beantragt. Mit Beschluss vom 30. November 2011 hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt. Es fehle bereits an einem Anordnungsgrund. Denn eine einstweilige Anordnung auf Zahlung von Arbeitslosengeld komme nur in Betracht, wenn der Antrag auf Leistungen nach dem SGB II abgelehnt worden und der Anspruch auf Arbeitslosengeld offensichtlich begründet sei. Diese Voraussetzungen lägen nicht vor. Der Antragsteller beziehe seit dem 1. Oktober 2011 Leistungen nach dem SGB II. Auch sei der Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht offensichtlich begründet, da der Kläger innerhalb der Rahmenfrist nicht mindestens 12 Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden habe.

Gegen diesen Beschluss hat der Antragsteller am 8. Dezember 2011 Beschwerde eingelegt. Er habe Anspruch auf Arbeitslosengeld. Dieser sei am 21. Februar 2011 nicht erloschen. Darüber hinaus sei er innerhalb dieses Zeitraumes von ca. 14 Monaten sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Dresden vom 30. November 2011 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19. Oktober 2011 aufzuheben und ihm vorläufig Arbeitslosengeld zu gewähren.

Mit Schreiben vom 13. Februar 2012 und 15. Februar 2012 hat der Antragsteller weiter beantragt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwälten aus der Kanzlei K Rechtsanwälte, D , beantragt.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen. Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Sie hält den angefochtenen Beschluss für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Beteiligtenvorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen.

II.

1. Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Regelungsanordnung). Voraussetzung für den Erlass einer derartigen einstweiligen Anordnung ist stets, dass sowohl ein Anordnungsgrund, das heißt, die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, als auch ein Anordnungsanspruch, das heißt die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs, glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]).

Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander. Es besteht vielmehr eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils, dem Anordnungsgrund, zu verringern sind und umgekehrt. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden nämlich aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System (vgl. Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz [9. Aufl., 2008], § 86b Rdnr. 27 und 29). Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so mindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, wenn etwa eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden.

Unter Beachtung dieser Grundsätze war der Antrag auf Gewährung von Arbeitslosengeld, wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat, wegen des fehlenden Anordnungsgrundes abzulehnen.

Hinsichtlich des Anordnungsgrundes ist geklärt, dass dieser grundsätzlicher nach den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung zu beurteilen ist, es sei denn aus dem materiellen Recht (ausdrückliche gesetzliche Reglung, Zweckrichtung bzw. zeitliche Beschränkung des materiellen Anspruchs in der Hauptsache) oder aus Gründen prozessualen Bestandsschutzes ergibt sich ein anderer Beurteilungszeitpunkt oder Zeitraum (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 4. Februar 2010 – L 3 SO 51/09 B ER – JURIS-Dokument Rdnr. 34, m. w. N.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4.Januar 2008 – L 28 B 2130/07 AS ER – JURIS-Dokument Rdnr. 3, m. w. N.; Bay. LSG, Beschluss vom 9. Dezember 2011 – L 17 U 356/11 B ER – JURIS-Dokument Rdnr. 16; Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren [3. Aufl., 2012], Rdnr. 387, m. w. N.).

Danach besteht vorliegend kein Anordnungsgrund, da dem Antragsteller ausweislich des Bescheides des Jobcenters Sächsische Schweiz-Osterzgebirge vom 4. November 2011 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes SGB II für die Zeit vom 1. Oktober 2011 bis 31. März 2012 in Höhe von 539,00 EUR monatlich bewilligt worden sind.

Zwar ist die Frage umstritten, ob ein Anordnungsgrund vorliegt, wenn dem Antragsteller die Möglichkeit offen steht, Leistungen der Grundsicherung in Anspruch zu nehmen (be-jahend z. B. LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 23. November 2009 – L 19 B 37/09 AL ER – JURIS-Dokument Rdnr. 12 ff.; verneinend z. B. Bay. LSG, Beschluss vom 9. Dezember 2011, a. a. O., Rdnr. 24, m. w. N.). Nach der Kommentarliteratur wird ein Anordnungsgrund für die Zahlung von Arbeitslosengeld nur dann bejaht, wenn ein Antrag auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch abgelehnt wurde und der Anspruch auf Arbeitslosengeld offensichtlich unbegründet ist (vgl. Brand, in: Niesel, SGB III [5. Aufl., 2010], § 118 Rdnrn. 11). Dem hat sich zum Teil die Rechtsprechung angeschlossen (vgl. z. B. LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 8. November 2010 – L 19 AL 244/10 B ER – JURIS-Dokument Rdnr. 25). Der erkennende Senat hat im Beschluss vom 19. März 2003 einen Anordnungsgrund verneint, nachdem die dortige Antragstellerin nach der Ablehnung des Antrages auf einstweilige Gewährung von Arbeitslosenhilfe durch das Sozialgericht einen Antrag auf Sozialhilfe gestellt hatte (vgl. Sächs. LSG vom 19. März 2003 – L 3 B 120/00 AL-ER – JURIS-Dokument Rdnr. 24 ff.). Im vorliegenden Zusammenhang kann auch eine Passage im Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes vom 19. Oktober 1977 Beachtung finden. Das Bundesverfassungsgericht hat unter anderem festgestellt, dass "bei den Vornahmesachen, für die die Sozialgerichte zuständig sind, vor allem wegen des subsidiär eingreifenden Bundessozialhilfegesetzes das Bedürfnis nach dem Erlaß einstweiliger Anordnungen oftmals nicht oder nicht in dem Maße bestehen mag wie bei der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit" (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 1977 – 2 BvR 42/76BVerfGE 46, 166 [179] = JURIS-Dokument Rdnr. 35).

Der Frage nach einem Anordnungsgrund für einen Anspruch auf einstweilige Gewährung von Arbeitslosengeld bei einem möglichen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II muss vorliegend aber nicht weiter erörtert werden. Denn für den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der die vorläufige Gewährung von Arbeitslosengeld begehrt wird, fehlt in der Regel der Anordnungsgrund, wenn dem Antragsteller bereits Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II gewährt worden sind. Denn beide Leistungen dienen dazu, dem Betroffenen Mittel zur Verfügung zu stellen, mit denen er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Ausnahmsweise kann ein Anordnungsgrund dann vorliegen, wenn die beanspruchte Leistung, hier das Arbeitslosengeld, erheblich über dem Grundsicherungsniveau liegt und der Antragsteller bei einer Verweisung auf die Leistung der Grundsicherung schwerwiegende und unzumutbare Nachteile erleiden würde. Ein solcher Ausnahmefall ist vorliegend nicht gegeben. Es ist weder vorgetragen noch nach Aktenlage ersichtlich, dass die vom Antragsteller begehrten Leistungen auf Arbeitslosengeld der Höhe nach deutlich über den ihm bewilligten und gezahlten Grundsicherungsleistungen liegen würden. Aus diesen Gründen fehlt dem Antragsteller der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsgrund.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

3. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren war abzulehnen. Denn die für eine Bewilligung erforderlichen hinreichende Erfolgsaussicht (vgl. § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 114 ZPO) war, wie dargestellt wurde, nicht gegeben. Die hinreichende Erfolgsaussicht fehlte bereits zu dem Zeitpunkt, als der Prozesskostenhilfeantrag gestellt wurde.

4. Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

Dr. Scheer Höhl Atanassov
Rechtskraft
Aus
Saved