S 3 AS 834/10 ER

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 3 AS 834/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 80,16 Euro monatlich ab dem 2. März 2010 bis längstens zum 30. Juni 2010 zu gewähren. 2. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der Antragsteller, der von der Antragsgegnerin laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) bezieht, begehrt im Wege des einstweiligen Rechtschutzes die Verpflichtung der Antragsgegnerin, ihm über die bewilligten Leistungen hinaus weitere Leistungen für Unterkunft und Heizung zu erbringen. I. Gegenstand des Verfahrens ist allein der geltend gemachte Anspruch auf Leistungen für Unterkunft und Heizung. Es handelt sich dabei um einen abtrennbaren selbständigen Anspruch, so dass eine Beschränkung des Streitgegenstandes insoweit möglich ist (BSG SozR 4-4200 § 22 Nr. 1).

Entscheidungsgründe:

II. Der so verstandene Eilantrag ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in Form der Regelungsanordnung zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Eine Regelungsanordnung kann getroffen werden, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Hierfür muss sowohl ein Anordnungsanspruch bestehen, also ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die begehrte Leistung, sowie ein Anordnungsgrund, nämlich ein Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. §§ 294, 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung). Diese Voraussetzungen sind erfüllt.

1. Der Antragsteller hat einen Anspruch auf höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung glaubhaft gemacht.

a. Die Antragsgegnerin bewilligte ihm für Januar bis Juni 2010 Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von 434 Euro monatlich (vgl. Bewilligungsbescheid vom 2009 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 19. Februar 2010: 284 Euro als angemessen erachtete (Nettokalt-) Miete, zuzüglich 58 Euro Heizkostenvorauszahlung, 78 Euro Betriebskostenvorauszahlung und 14 Euro Wassergeld). Tatsächlich beträgt die (Nettokalt-) Miete des Antragstellers 364,16 Euro, so dass seine monatlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung um 80,16 Euro über dem von der Antragsgegenerin berücksichtigten Betrag liegen.

b. Die tatsächlichen Aufwendungen des Antragstellers sind nicht mehr angemessen. Das Gericht hat keine durchgreifenden Bedenken, sich jedenfalls im Eilverfahren hinsichtlich der Höchstwerte für die Nettokaltmiete an der aktuell gültigen Fachanweisung der Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz zu § 22 SGB II (Stand: 26. Mai 2009) zu orientieren (vgl. hierzu LSG Hamburg, Beschl. v. 3. Sept. 2007, L 5 B 235/07 ER AS; Beschl. v. 20. 1. 2009, L 5 B 1142/08 ER AS). Danach richten sich die Höchstwerte für die noch als angemessen geltenden freifinanzierten Wohnungen nach bestimmten Baualtersklassen. Die vom Antragsteller bewohnte Wohnung befindet sich in einem 1961 erbauten Wohnhaus, so dass die Baualtersklasse von 1961 bis 1967 maßgeblich ist. In diesem Segment gilt ein Höchstwert von 284 Euro.

c. Grundsätzlich werden Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nur im angemessenen Umfang übernommen, § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Der Antragsteller hat jedoch einen Anspruch auf die Übernahme seiner tatsächlichen Unterkunftskosten aus § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II glaubhaft gemacht. Nach dieser Vorschrift sind die Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, soweit sie den der Besonderheit des Einzelfalls angemessenen Umfang übersteigen, als Bedarf des allein stehenden Hilfebedürftigen so lange zu berücksichtigen, wie es ihm nicht möglich ist oder nicht zumutbar ist, die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate.

aa. Nach dem Erkenntnisstand im Eilverfahren war es dem Antragsteller nicht möglich, seine Aufwendungen zu senken.

(1) Allerdings hat das Gericht entgegen seinem Vorbringen keine Zweifel daran, dass es dem Antragsteller objektiv möglich war, seine Unterkunftskosten zu senken und insbesondere im Stadtgebiet H. eine 1-Personen-Wohnung im Rahmen der geltenden Höchstwerte zu finden. So werden zum Beispiel von der S. aktuell drei Wohnungen in H1 bzw. M. in diesem Preissegment angeboten. Ebenso wenig kann sich der Antragsteller darauf berufen, die Antragsgegnerin habe ihn bei der Wohnungssuche nicht ausreichend unterstützt. Eine Kostensenkungsaufforderung bzw. eine Information ist weder in § 22 SGB II normiert noch sonst formelle Voraussetzung für die Weigerung des Grundsicherungsträgers, mehr als die angemessenen Kosten zu übernehmen. Der Hinweis hat vielmehr alleine Aufklärungs- und Warnfunktion, damit der Hilfebedürftige Klarheit über die aus Sicht des Leistungsträgers angemessenen Aufwendungen für die Unterkunft und einen Hinweis auf die Rechtslage erhält (BSG, Urt. v. 7. Nov. 2006, B 7b AS 10/06 R). Der Grundsicherungsträger ist nicht verpflichtet, den Leistungsempfänger "an die Hand zu nehmen" und ihm im Einzelnen aufzuzeigen, auf welche Weise er die Kosten der Unterkunft senken bzw. welche Wohnungen er anmieten kann (BSG, Urt. v. 19. Febr. 2009, B 4 AS 30/08 R; Urt. v. 27. Febr. 2008, B 14/7b AS 70/06 R).

(2) Nach dem Erkenntnisstand im Eilverfahren fehlte es indes an der subjektiven Möglichkeit der Kostensenkung.

(i) Subjektiv möglich sind einem Hilfebedürftigen Kostensenkungsmaßnahmen nur dann, wenn er Kenntnis von seiner Obliegenheit hat, die Unterkunftskosten zu senken (BSG, Urt. v. 17. Dez. 2009, B 4 AS 19/09 R m.w.N.). Hierzu gehört die Kenntnis darüber, welche Miethöhe als angemessen gilt. Eine Kostensenkungsaufforderung kann ihre Aufklärungs- und Warnfunktion nur erfüllen, wenn sie zumindest die Angabe des angemessenen Mietpreises enthält, da dieser nach der Produkttheorie der entscheidende Maßstab zur Beurteilung der Angemessenheit ist (ebenda). Der Hilfebedürftige erhält so die erforderliche Information um zu erkennen, in welchem Umfang er sich um eine Senkung der Kosten bemühen muss, wenn er die Gewährung bedarfsdeckender Leistungen sicherstellen will (Lauterbach, in: Gagel, SGB II/SGB III, Stand: 36. EL 2009, § 22 Rn. 49).

(ii) Mit dem Erkenntnisstand im Eilverfahren muss davon auszugegangen werden, dass der Antragsteller nicht ausreichend über den angemessenen Mietpreis informiert war. Die Kostensenkungsaufforderung vom 30. Juni 2009 nannte einzig den Höchstwert für eine Wohnung aus der Baualtersklasse der derzeit bewohnten Wohnung und gab diesen Wert zudem mit 280 statt mit 284 Euro an. Über die Höchstwerte für die übrigen Baualtersklassen informiert das Schreiben nicht. Dies wäre aber erforderlich gewesen, gerade weil der Grundsicherungsträger in Hamburg bei Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs der "angemessenen Aufwendungen" eine Differenzierung nach Baualtersklassen vornimmt. Wenn das Gericht keine durchgreifenden Bedenken hat, sich jedenfalls im Eilverfahren an den Höchstwerten aus der aktuell gültigen Fachanweisung zu orientieren, muss auch der Grundsicherungsträger sich an der dort vorgegebenen Spreizung der Höchstwerte über die Baualtersklassen festhalten lassen.

(iii) Die Antragsgegnerin dringt nicht mit ihrem Vorbringen durch, für den Antragsteller sei selbst nach einem Umzug der Höchstwert für die Baualtersklasse der derzeitigen Wohnung maßgeblich, so dass für ihn weiterhin nur eine Nettokaltmiete bis maximal 284 Euro angemessen sei. Es trifft zwar zu, dass die als angemessen geltenden und damit vom Grundsicherungsträger zu übernehmenden Unterkunftskosten andernfalls nach einem erforderlichen Umzug sogar noch steigen könnten: Der für die derzeit bewohnte Wohnung maßgebliche Höchstwert von 284 Euro ist von allen Höchstwerten der Zweitniedrigste; der maximale Höchstwert (Baualtersklasse ab 1994) liegt bei 382,50 Euro und übersteigt damit sogar noch die derzeitige Nettokaltmiete des Antragstellers. Doch wäre selbst eine solche Kostensteigerung (anstatt der eigentlich vorzunehmenden Kostensenkung) lediglich die Konsequenz aus der vom Grundsicherungsträger vorgenommenen Differenzierung der Höchstwerte nach Baualtersklassen.

Insbesondere in dem Bestreben, die Wohngebiete möglichst sozialverträglich zu mischen, und in Anlehnung an den Mietenspiegel, der ebenfalls nach Baualtersklassen unterscheidet, hat die Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz, als Grundsicherungsträger der Leistungen für Unterkunft und Heizung Angemessenheitsgrenzen gezogen, die nach dem Baualter unterscheiden. Für die Hilfeempfänger hängt der Umfang der vom Träger übernommenen Unterkunftskosten damit von der maßgeblichen Baualtersklasse ab: Absolut gesehen werden für Wohnungen aus teuren Baualtersklassen höhere Aufwendungen übernommen als für solche aus günstigen Baualtersklassen. Zwar haben die Hilfeempfänger keinen Anspruch darauf, die Höchstwerte in jedem Einzelfall in vollem Umfang auszuschöpfen und sind gehalten, sich um eine möglichst kostengünstige bedarfsgerechte Wohnung zu bemühen. Darüber hinaus ist ihnen jedoch nicht auferlegt, sich vorrangig um eine Unterkunft aus einer günstigen Baualtersklasse zu bemühen. Dies würde auch einer sozialverträglichen Durchmischung der Wohngebiete entgegenwirken, die der Grundsicherungsträger gerade anstrebt.

Mit der von der Antragsgegnerin vertretenen Auffassung würden die angemessenen Unterkunftskosten für den Antragsteller selbst nach einem Auszug aus der derzeitigen – unangemessen teuren – Wohnung durch den Höchstwert für eine Unterkunft aus der Baualtersklasse 1961 bis 1967 gedeckelt. Er müsste sich für die weitere Dauer seines Bezugs von SGB II-Leistungen an diesem Höchstwert festhalten lassen, selbst wenn er eine Wohnung aus einer anderen, womöglich teureren Baualtersklasse bezöge. Für die übrigen Hilfeempfänger würde hingegen die gesamte Spreizung der Höchstwerte gelten. Das Gericht hat erhebliche Bedenken, ob sich eine solche Ungleichbehandlung sachlich rechtfertigen lässt. Es liegt in der Natur eines Konzepts, das bei der Angemessenheitsgrenze nach Baualtersklassen differenziert, dass sich die zu übernehmenden Unterkunftskosten nach einem erforderlichen Umzug allein deswegen erhöhen können, weil die neue Wohnung einer anderen – vergleichsweise teuren – Baualtersklasse entstammt.

Letztlich kann das im Eilverfahren aber dahin stehen. Die Vorgabe des Grundsicherungsträgers, auch nach einem Umzug den Höchstwert für die Baualtersklasse der derzeitigen Wohnung nicht zu überschreiten, findet sich ausdrücklich nur in den "Hinweisen für die Anmietung von Wohnraum durch die Empfängerinnen und Empfänger von ALG II, Sozialhilfe und Grundsicherung" (Merkblatt) der Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz. In der Fachanweisung findet sich diese Einschränkung nicht. Allein auf ein Merkblatt vermag der Grundsicherungsträger die geltend gemachte Einschränkung aber nicht zu stützen.

(iv) Nach dem Erkenntnisstand im Eilverfahren war dem Antragsteller die Höhe der angemessenen Nettokaltmiete auch nicht aus anderen Quellen als der Kostensenkungsaufforderung bekannt. Das gilt selbst dann, wenn ihm das Merkblatt ausgehändigt worden sein sollte. Dieses enthält gerade die – im Rahmen eines Konzepts, das die Angemessenheitsgrenze in Abhängigkeit von der Baualtersklasse bestimmt: unzulässige – Einschränkung, bei einer Kostensenkung durch Umzug dürfe die zukünftige Nettokaltmiete den derzeit geltenden Höchstwert nicht überschreiten.

bb. Liegen die Voraussetzungen des § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II vor, wie demnach hier glaubhaft gemacht worden ist, werden die tatsächlichen Aufwendungen in der Regel für längstens sechs Monate übernommen. Die im Gesetz genannten Grenze von sechs Monaten fingiert jedoch nicht das Entfallen von Unzumutbarkeit oder Unmöglichkeit nach Ablauf dieser Zeit (Breitkreuz, in: Beck’scher Online Kommentar SGB II, § 22 Rn. 13, m.w.N.). Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller erst im Rahmen dieses Verfahrens Kenntnis darüber erlangt hat, dass die nach Baualtersklassen differenzierten Höchstwerte auch für ihn gelten.

Gleichzeitig folgt daraus aber, dass dem Antragsteller eine Kostensenkung durch Umzug ab sofort auch subjektiv möglich ist. Er muss damit rechnen, dass die Antragsgegnerin seine tatsächlichen Aufwendungen spätestens nach Ablauf des aktuellen Bewilligungszeitraums nicht länger übernimmt.

2. Der Antragsteller hat auch glaubhaft gemacht, zur Abwendung wesentlicher Nachteile auf eine sofortige Entscheidung des Gerichts angewiesen zu sein. Das folgt bereits aus dem existenzsicherenden Charakter der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Es erscheint indes ausreichend, die Verpflichtung der Antragsgegnerin nur für den tenorierten Zeitraum vom Eingang des Eilantrags beim Sozialgericht bis längstens zum Ende des laufenden Bewilligungszeitraums auszusprechen. Dabei berücksichtigt das Gericht, dass der Antragsteller nunmehr alle Information hat, um die objektiv mögliche Senkung seiner Unterkunftskosten, insbesondere durch Umzug, auch vorzunehmen. Hierfür erscheint ein Zeitraum von gut drei Monaten ab Datum dieses Beschlusses auch mit Blick auf die gesetzlichen Kündigungsfristen ausreichend.

II. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei. Die Entscheidung zu den außergerichtlichen Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.

III. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 172 Abs. 3 SGG). Der maximale Beschwerdewert würde den Schwellenwert von 750 Euro nicht überschreiten.
Rechtskraft
Aus
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