L 4 SB 20/10

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 12 SB 19/09
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 SB 20/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 20. August 2010 wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen&8195;

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) streitig.

Bei dem am XXXXX 1948 geborenen Kläger waren zuletzt mit Bescheid vom 28. April 1997 ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 und das Vorliegen der Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" (erhebliche Gehbehinderung) und "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) festgestellt worden. Sein erster Antrag auf Zuerkennung des Merkzeichens "RF" wurde mit Bescheid vom 29. Februar 2008 abgelehnt. Mit Antrag vom 28. Mai 2008 machte er erneut das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" geltend. Nach Beiziehung und Auswertung von Befundberichten der behandelnden Ärzte stellte die Beklagte als Behinderung a. Muskelschwäche und Gefühlsstörungen im Bereich der Gliedmaßen bei Nervenleiden, Klumpfuß beidseits, Versteifung beider oberen Sprunggelenke (Einzel-GdB 90), b. Leberschaden, Refluxkrankheit der Speiseröhre (Einzel-GdB 30) c. Diabetes Mellitus (Einzel-GdB 10) und das Vorliegen der Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" und "B" fest, lehnte aber mit Bescheid vom 17. November 2008 und Widerspruchsbescheid vom 15. Dezember 2008 das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" ab.

Während des nachfolgenden Klageverfahrens hat das Sozialgericht weitere Befundberichte beigezogen und das nervenärztliche Gutachten vom 28. Oktober 2009 durch Prof. Dr. Meins erstellen lassen. Dieser ist nach Untersuchung des Klägers zu dem Ergebnis gelangt, dieser könne trotz seiner schweren Bewegungsstörung noch mit Hilfe einer Begleitperson ohne besondere technische Hilfsmittel öffentliche Veranstaltungen besuchen. Die Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" lägen nicht vor. Daraufhin hat das Sozialgericht die Klage durch Gerichtsbescheid vom 20. August 2010 abgewiesen.

Mit seiner rechtzeitig eingelegten Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter und meint, da er nicht in der Lage sei, ohne technische Hilfsmittel weiter als 100 Meter zu gehen, könne er auch keine öffentlichen Veranstaltungen besuchen. Außerdem fehle ihm das Geld für Fahrdienst, Begleitperson und Eintritt. Allerdings würde er auch ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen – wie schon früher – keine öffentlichen Veranstaltungen besuchen.

Der Kläger beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 20. August 2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 17. November 2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 15. Dezember 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei ihm das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" festzustellen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, das Sozialgericht habe die Klage zu Recht und mit zutreffenden Gründen abgewiesen. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "RF" seien beim Kläger nicht erfüllt. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass er nicht mehr in der Lage sei, mit Hilfe einer Begleitperson oder mit technischen Hilfsmitteln (z.B. Rollstuhl) öffentliche Veranstaltungen in zumutbarer Weise zu besuchen.

Nachdem der Senat die Berufung durch Beschluss vom 12. November 2010 dem Berichterstatter übertragen hatte, hat das Gericht weitere Befundberichte der behandelnden Ärzte beigezogen, aus denen sich eine koronare Herzkrankheit sowie eine weitere Verschlechterung des Gehvermögens ergeben. Nach Auswertung dieser Unterlagen hat die Beklagte mit Bescheid vom 10. März 2011 zusätzlich das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) festgestellt.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der in der Sitzungsniederschrift vom 1. November 2011 aufgeführten Akten und Unterlagen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Der Berichterstatter kann zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern an Stelle des Senats entscheiden, da der Senat ihm durch Beschluss vom 12. November 2010 die Berufung übertragen hat (§ 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz – SGG –). Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung (§§ 143, 144, 151 Abs. 1 SGG) des Klägers ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" abgewiesen. Der Bescheid vom 17. November 2008 und der Widerspruchsbescheid vom 15. Dezember 2008, mit denen die Beklagte den Erlass des von dem Kläger begehrten feststellenden Verwaltungsaktes abgelehnt hat, sind rechtmäßig, weil er keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "RF" hat. Anspruchsgrundlage für das klägerische Begehren ist § 69 Abs. 4 SGB IX. Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Hierzu gehören auch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht, bei deren Erfüllung in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "RF" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 5 Schwerbehindertenausweisverordnung). Für den in Hamburg wohnhaften Kläger ist mit Wirkung ab April 2005 Art 5 § 6 Abs. 1 Nr. 8 des Achten Staatsvertrages zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge vom 8. bis 15. Oktober 2004 idF des Hamburgischen Gesetzes vom 1. März 2005 (HmbGVBl I, 40) heranzuziehen. Diese Normen regeln die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht ("behinderte Menschen, deren GdB nicht nur vorübergehend wenigstens 80 beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können"). Sie sind grundsätzlich für die inhaltliche Beurteilung, ob dem Kläger die begehrte Feststellung zusteht, zugrunde zu legen. An der Vereinbarkeit der in den genannten Normen aufgeführten gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "RF" mit höherrangigem Recht bestehen für sich genommen – auch seitens des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 8. November 2007 – B 9/9a SB 3/06 R –) – keine Zweifel.

Unter Berücksichtigung dieser gesetzlichen Regelungen fehlt es beim Kläger für die Zuerkennung des Merkzeichen "RF" an den Voraussetzungen. Zwar wurde ihm durchgehend für den streitigen Zeitraum ein GdB von mehr als 80 zuerkannt, jedoch war er trotzdem nicht durch bei ihm bestehende Leiden ständig gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Dies steht zur Überzeugung des Senats aufgrund des Ergebnisses der durchgeführten Ermittlungen und insbesondere des vom Sozialgericht eingeholten Gutachtens des Nervenarztes Prof. Dr. M. fest. Dessen Beurteilung steht im Einklang mit den Berichten der behandelnden Ärzte, denen sich Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger öffentliche Veranstaltungen aus gesundheitlichen Gründen nicht besuchen könnte, in keiner Weise entnehmen lassen. Zu den Personen, die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können, zählen Behinderte, bei denen schwere Bewegungsstörungen auch durch innere Leiden bestehen und die deshalb auf Dauer selbst mit technischer oder persönlicher Hilfe öffentliche Veranstaltungen nicht in zumutbarer Weise besuchen können. Darüber hinaus gehören dazu Behinderte, die auf ihre Umgebung unzumutbar abstoßend wirken wobei nach der Rechtsprechung besonders hohe Anforderungen zu stellen sind -, die an einer ansteckenden Lungentuberkulose leiden oder die wegen einer Organtransplantation große Menschenansammlungen meiden müssen sowie geistig oder seelisch Behinderte, bei denen zu befürchten ist, dass sie beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen durch motorische Unruhe, lautes Sprechen oder aggressives Verhalten auch unter Zugrundelegung einer hohen Toleranzschwelle – unzumutbar stören. Der Kläger ist weder in der genannten Art geistig oder seelisch behindert, noch leidet er an einer ansteckenden oder abstoßenden Erkrankung und muss ebenfalls nicht wegen einer Organtransplantation den Kontakt zu anderen Menschen meiden. Bei ihm liegt auch keine derart schwere Bewegungsstörung vor, die es ihm unmöglich macht, Veranstaltungen zu besuchen. Daran ändert der Umstand nichts, dass er wegen der Gesundheitsstörungen im Bereich der Beine und Füße mittlerweile außergewöhnlich gehbehindert ist. Trotzdem kann er noch in nennenswertem Umfang zumindest mit Begleitperson und/oder im Rollstuhl sitzend an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen. Der Besuch derartiger Veranstaltungen durch Rollstuhlfahrer ist mittlerweile ein mehr oder weniger zum Alltag zählendes Bild und die Bemühungen um eine behindertengerechte Ausgestaltung von Veranstaltungsorten sind sichtbar verstärkt worden. Soweit sich dennoch die Teilnahme an einzelnen Veranstaltungen bestimmter Art verbietet, genügt dies nicht zur Zuerkennung des Merkzeichens. Letztlich wird die Fähigkeit des Klägers zur Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen auch durch seine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht am 1. November 2011 belegt. Die von dem Kläger angeführten finanziellen Hemmnisse, durch die er sich subjektiv an dem Besuch öffentlicher Veranstaltungen gehindert sieht, erfüllen gleichfalls nicht die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "RF". Auf die Möglichkeit, unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen für dieses Merkzeichen aus sozialen Gründen wegen des geringen monatlichen Einkommens einen Erlass der Rundfunkgebühren zu erhalten, hat bereits das Sozialgericht den Kläger zutreffend hingewiesen.

Da nach Sinn und Zweck des Merkzeichens "RF" nur dann die Notwendigkeit für dessen Zuerkennung vorliegt, wenn ausschließlich durch Rundfunk, Fernsehen und Telefon ein Kontakt zur Außenwelt hergestellt werden kann, weil eine ständige, nicht überwindbare Bindung an die Wohnung besteht, kommt die Zuerkennung bei dem Kläger unabhängig davon, dass er nach eigenem Bekunden auch bei erhaltener Fähigkeit ohnehin keine öffentlichen Veranstaltungen besuchen würde, nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Der Senat hat die Revision gegen das Urteil nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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