Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Münster (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 14 R 744/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 3 R 274/12
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 30.06.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.09.2010 verurteilt, die Rente des Klägers ungekürzt ohne Abschläge aus dem Versorgungs- ausgleich ab September 2009 auszuzahlen. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Nachzahlung der vollen statt der durch Versorgungsausgleich gekürzten Rente ab Inkrafttreten des Versorgungsausgleichsgesetzes (VersAusglG) am 01.09.2009.
Der am 00.00.1936 geborene Kläger erhält von der Beklagten Altersrente ab August 1996 gemäß Bewilligungsbescheid vom 04.09.1996. Durch Bescheid vom 27.07.1999 verfügte die Beklagte die Kürzung dieser Rente wegen Berücksichtigung des Abschlags aus Versorgungsausgleich (Malus) ab Beginn der an die begünstigte frühere Ehefrau gezahlten Rente ab 01.09.1999. Die Begünstigte verstarb am 18.09.2001.
Mit Wirkung ab 01.09.2001 wurde das bis dahin gültige Gesetz über die Regelung der Härten im Versorgungsausgleich (VAHRG) durch das Gesetz über den Versorgungsausgleich (Versorgungsausgleichsgesetz – VersAusglG) vom 03.04.2009 (BGBl. I S. 700) abgelöst. Die Beklagte behauptet im Prozess, dazu eine Pressemitteilung am 07.09.2009 veröffentlicht zu haben.
Der Kläger erfuhr angabegemäß aus der ZDF-Sendung "Frontal 21" im Juni 2010 von der Neureglung und wandte sich mit seinem Schreiben vom 09.06.2010 an die Beklagte. Diese erteilte den angefochtenen Bescheid vom 30.06.2010, mit dem die Neuberechnung der Rente ab Juli 2010 vorgenommen wurde. Die Nettorentenzahlung erhöhte sich um monatlich 520,74 EUR. Der Kläger wandte sich dagegen zunächst mit einem Schreiben, in dem er die Nachzahlung der erhöhten Rente auch für den Zeitraum Oktober 2001 bis Juni 2010 verlangte. Nachdem die Beklagte mit dem Aufklärungsschreiben vom 13.07.2010 darauf hingewiesen hatte, dass nach § 38 Abs. 2 i.V.m. § 34 Abs. 3 VersAusglG die erhöhte Rente erst ab dem Monat nach der Antragstellung gezahlt werde, eine rückwirkende Korrektur sei nicht vorgesehen, verlangte der Kläger mit weiterem Schreiben die Nachzahlung ab September 2009.
In dem dazu erteilten Widerspruchsbescheid vom 28.09.2010 lehnte die Beklagte dies ab. Sie verneinte einen Beratungsmangel. Der Widerspruchsbescheid enthält Ausführungen zu § 14 SGB I, nicht aber zu § 115 Abs. 6 SGB VI.
Hiergegen richtet sich die am 07.10.2010 erhobene Klage. Mit seinem ausführlichen Vorbringen bringt der Kläger zusammengefasst vor, er habe nicht eher wissen können, dass ihm die erhöhte Rente zugestanden habe.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 30.06.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.09.2010 zu verurteilen, die ungekürzte Rente unter Einschluss der durch den Versorgungsausgleich entzogenen Abschläge bereits ab September 2009 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie beruft sich auf den Inhalt der Akten und macht im Übrigen geltend, Gesetze würden im Bundesgesetzblatt verkündet (Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG). Anders als staatliche Verwaltungsakte oder gerichtliche Entscheidungen, die regelmäßig nur einzelne Bürger beträfen und ihnen dann individuell bekannt zu geben seien, genüge für die Bekanntmachung von Gesetzen, die sich an einen unbestimmten Kreis von Personen richteten, die Verkündung im Bundesgesetzblatt (Prinzip der formellen Publikation oder Publizität). Mit Verkündung im Bundesgesetzblatt gälten die Gesetze grundsätzlich allen Normadressaten als bekannt, ohne Rücksicht darauf, ob und wann sie von ihnen tatsächlich Kenntnis erlangt hätten. Es ergebe sich auch keine Hinweispflicht aus § 115 SGB VI. Diese Hinweispflicht beziehe sich nur auf einen speziellen Teilbereich der möglichen Leistungsbeantragung. Dem Berechtigen sei von Amts wegen in geeigneten Fällen aufzuzeigen, dass er auf Antrag eine bestimmte Rentenleistung erhalten könne, für die erkennbar die Leistungsvoraussetzungen vorlägen und er nur bei rechtzeitiger Antragstellung Verspätungsfolgen vermeiden könne. Der Kläger erhalte bereits seit 01.08.1996 eine Altersrente, eine Verpflichtung zum Hinweis auf eine mögliche Rentenleistung ergebe sich daher nicht.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid vom 30.06.2010 beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), weil dieser Bescheid rechtswidrig ist, soweit er die ungekürzte Rentenzahlung erst ab Juli 2010 zulässt.
Die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme der ungekürzten Rentenzahlung – Anpassung von Todes wegen – sind nach § 37 Abs. 1 u. 2 VersAusglG erfüllt. Nach § 37 Abs. 1 S. 1 wird ein Anrecht der ausgleichspflichtigen Person auf Antrag nicht länger aufgrund des Versorgungsausgleichs gekürzt, wenn die ausgleichsberechtigte Person gestorben ist. Nach § 37 Abs. 2 VersAusglG findet die Anpassung nur statt, wenn die ausgleichsberechtigte Person die Versorgung aus dem im Versorgungsausgleich erworbenen Anrecht nicht länger als 36 Monate bezogen hat. Hierüber besteht auch zwischen den Beteiligten kein Streit.
Zu Recht weist die Beklagte darauf hin, dass nach § 38 Abs. 2 i.V.m. § 34 Abs. 3 VersAusglG die Anpassung erst wirkt ab dem ersten Tag des Monats, der auf den Monat der Antragstellung folgt. Die Beklagte verkennt allerdings, dass sie verpflichtet gewesen wäre, den Kläger rechtzeitig auf die Möglichkeit einer Antragstellung hinzuweisen. Als Folge dieses Versäumnisses ist sie im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs gehalten, den Kläger so zu stellen, als hätte er seinen Antrag rechtzeitig zur Erfüllung der vollen Voraussetzungen, also spätestens im August 2009 gestellt.
Das Gericht vermag der Beklagten darin nicht zu folgen, dass sich für sie keine Hinweispflicht aus § 115 Abs. 6 des Sozialgesetzbuches VI (SGB VI) ergibt. Dort ist geregelt, dass die Träger der Rentenversicherung die Berechtigten in geeigneten Fällen darauf hinweisen sollen, dass sie eine Leistung erhalten können, wenn sie diese beantragen. Entgegen dem Vorbringen der Beklagten ist die Hinweispflicht nach ihrem Wortlaut keineswegs auf die erstmalige Bewilligung von Renten beschränkt, vielmehr ist in allgemeiner Form von Leistungen die Rede. Bei genauer Betrachtung bedeutet dies, dass dies eine Verbesserung von Rentenleistungen ebenso einschließt wie mögliche andere Leistungen nach dem SGB VI.
Was geeignete Fälle im Sinne des § 115 Abs. 6 S. 1 SGB VI sind, ist wie stets durch Auslegung zu ermitteln. Dabei kommt es nicht darauf an, welche Fälle bereits in den nach § 115 Abs. 6 S. 2 SGB VI ergangenen Richtlinien geregelt sind. Denn es handelt es sich bei der Formulierung "in geeigneten Fällen" um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der gerichtlich voll überprüfbar ist (Verbandskommentar, SGB VI § 115 Rn 5 S. 7 Mitte). Zur Erfüllung ihrer Hinweispflicht haben die Rentenversicherungsträger generell Rechtsänderungen zu analysieren und ihren Rentenbestand zu beobachten. Sobald ein Träger feststellt oder feststellen kann, dass die Antragstellung Vorteile bringt, ist er zum Handeln verpflichtet, § 115 Abs. 6 SGB VI legt dem Träger damit eine "reaktive Beobachtungspflicht" auf (so die Formulierung in Verbandskommentar aaO S. 7f. mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des BSG).
Zwar gilt diese Hinweispflicht nur, wenn dem Rentenversicherungsträger zunächst schon ohne einzelfallbezogene Sachverhaltsaufklärung erkennbar wird, dass ein abgrenzbarer Kreis von Berechtigten die Anspruchsvoraussetzung für eine Leistung erfüllt. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall allerdings offensichtlich gegeben. Der Kreis der aus einem Versorgungsausgleich Ausgleichsverpflichteten ist über die EDV eines Rentenversicherungsträgers jederzeit zu ermitteln, denn der durchgeführte Versorgungsausgleich ist im Rentenkonto gespeichert; ebenso ist die Begünstigung aus einem Versorgungsausgleich im Konto erfasst. Offenbar nicht vorgesehen, aber ohne Weiteres möglich ist es, darüber hinaus eine Querverbindung zwischen dies beiden Rentenkonten anzulegen, wie dies in den Fällen, in denen die Anrechnung von Einkommen aus eigenem Rentenbezug auf eine bezogene Hinterbliebenenrente zu überwachen ist, nach der aus verschiedenen Streitfällen gewonnenen Kenntnis des Gerichts bereits geschieht. Allein über die EDV der Beklagten wäre somit ohne Weiteres festzustellen, dass im Fall des Klägers die ausgleichsberechtigte Person verstorben ist, im vorliegenden Fall auch schon vor der Geltung des neuen Gesetzes. Nachdem das Versorgungsausgleichsgesetz am 08.04.2009 im Bundesgesetzblatt verkündet worden war, hatte die Beklagte zumindest noch fast fünf Monate Zeit, geeignete Vorkehrungen zu treffen. Dies gilt unabhängig von der Überlegung, dass die Rentenversicherungsträger oder ihr Verband im Rahmen der Änderung von sie betreffenden Gesetzen regelmäßig bereits im Gesetzgebungsverfahren gehört werden.
Das Vorbringen der Beklagten zur Publizität der Gesetze mag grundsätzlich richtig sein, wenn z. B. sich jemand darauf berufen wollte, die Strafbarkeit seines Tuns nicht gekannt zu haben, es trifft indes den vorliegenden Fall nicht. Im Bereich des Sozialrechts gibt es vielmehr allgemeine Aufklärungspflichten aus § 13 SGB I, konkrete Beratungs- und Auskunftspflichten aus §§ 14 und 15 SGB I und daneben die deutlich konkreteren Hinweispflichten des Rentenversicherungsträgers aus § 115 Abs. 6 SGB VI. § 13 SGB I verlangt von allen Leistungsträgern nur eine allgemeine Aufklärung der Bevölkerung, §§ 14 und 15 SGB I fordern – ebenfalls von allen Trägern - Beratung und Auskunft aus gegebenem Anlass, § 115 Abs. 6 SGB VI verpflichtet dagegen bestimmte Träger, die Rentenversicherungsträger – zu denen auch die Beklagte gehört -, zu konkreten Hinweisen an bestimmbare Versicherte, denen andernfalls ohne Antragstellung Leistungen oder Leistungsanteile verloren gehen könnten. Dieser Pflicht ist die Beklagte nicht nachgekommen. Die von der Beklagten behauptete allgemeine Aufklärung der Öffentlichkeit durch eine Pressemitteilung vom 07.09.2009 – die Richtigkeit dieser Behauptung unterstellt - genügt deshalb den Voraussetzungen des § 115 Abs. 6 SGB VI keinesfalls, sie erfüllte allenfalls die allgemeinen Aufklärungspflichten aus § 13 SGB I ... Unabhängig davon ist für das Gericht nicht erkennbar, warum die Beklagte beansprucht, mit einer erst im Laufe des Monats September 2009 ergangenen aufklärenden Mitteilung diejenigen Versicherten, die Ansprüche ab dem 01.09.2009 haben könnten, in die Lage versetzt zu haben, den gem. §§ 38 Abs. 2, 34 Abs. 3 VersAusglG bereits im Monat vor dem möglichen Leistungsbeginn – also im August 2009 - zu stellenden Antrag rechtzeitig einzureichen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Nachzahlung der vollen statt der durch Versorgungsausgleich gekürzten Rente ab Inkrafttreten des Versorgungsausgleichsgesetzes (VersAusglG) am 01.09.2009.
Der am 00.00.1936 geborene Kläger erhält von der Beklagten Altersrente ab August 1996 gemäß Bewilligungsbescheid vom 04.09.1996. Durch Bescheid vom 27.07.1999 verfügte die Beklagte die Kürzung dieser Rente wegen Berücksichtigung des Abschlags aus Versorgungsausgleich (Malus) ab Beginn der an die begünstigte frühere Ehefrau gezahlten Rente ab 01.09.1999. Die Begünstigte verstarb am 18.09.2001.
Mit Wirkung ab 01.09.2001 wurde das bis dahin gültige Gesetz über die Regelung der Härten im Versorgungsausgleich (VAHRG) durch das Gesetz über den Versorgungsausgleich (Versorgungsausgleichsgesetz – VersAusglG) vom 03.04.2009 (BGBl. I S. 700) abgelöst. Die Beklagte behauptet im Prozess, dazu eine Pressemitteilung am 07.09.2009 veröffentlicht zu haben.
Der Kläger erfuhr angabegemäß aus der ZDF-Sendung "Frontal 21" im Juni 2010 von der Neureglung und wandte sich mit seinem Schreiben vom 09.06.2010 an die Beklagte. Diese erteilte den angefochtenen Bescheid vom 30.06.2010, mit dem die Neuberechnung der Rente ab Juli 2010 vorgenommen wurde. Die Nettorentenzahlung erhöhte sich um monatlich 520,74 EUR. Der Kläger wandte sich dagegen zunächst mit einem Schreiben, in dem er die Nachzahlung der erhöhten Rente auch für den Zeitraum Oktober 2001 bis Juni 2010 verlangte. Nachdem die Beklagte mit dem Aufklärungsschreiben vom 13.07.2010 darauf hingewiesen hatte, dass nach § 38 Abs. 2 i.V.m. § 34 Abs. 3 VersAusglG die erhöhte Rente erst ab dem Monat nach der Antragstellung gezahlt werde, eine rückwirkende Korrektur sei nicht vorgesehen, verlangte der Kläger mit weiterem Schreiben die Nachzahlung ab September 2009.
In dem dazu erteilten Widerspruchsbescheid vom 28.09.2010 lehnte die Beklagte dies ab. Sie verneinte einen Beratungsmangel. Der Widerspruchsbescheid enthält Ausführungen zu § 14 SGB I, nicht aber zu § 115 Abs. 6 SGB VI.
Hiergegen richtet sich die am 07.10.2010 erhobene Klage. Mit seinem ausführlichen Vorbringen bringt der Kläger zusammengefasst vor, er habe nicht eher wissen können, dass ihm die erhöhte Rente zugestanden habe.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 30.06.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.09.2010 zu verurteilen, die ungekürzte Rente unter Einschluss der durch den Versorgungsausgleich entzogenen Abschläge bereits ab September 2009 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie beruft sich auf den Inhalt der Akten und macht im Übrigen geltend, Gesetze würden im Bundesgesetzblatt verkündet (Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG). Anders als staatliche Verwaltungsakte oder gerichtliche Entscheidungen, die regelmäßig nur einzelne Bürger beträfen und ihnen dann individuell bekannt zu geben seien, genüge für die Bekanntmachung von Gesetzen, die sich an einen unbestimmten Kreis von Personen richteten, die Verkündung im Bundesgesetzblatt (Prinzip der formellen Publikation oder Publizität). Mit Verkündung im Bundesgesetzblatt gälten die Gesetze grundsätzlich allen Normadressaten als bekannt, ohne Rücksicht darauf, ob und wann sie von ihnen tatsächlich Kenntnis erlangt hätten. Es ergebe sich auch keine Hinweispflicht aus § 115 SGB VI. Diese Hinweispflicht beziehe sich nur auf einen speziellen Teilbereich der möglichen Leistungsbeantragung. Dem Berechtigen sei von Amts wegen in geeigneten Fällen aufzuzeigen, dass er auf Antrag eine bestimmte Rentenleistung erhalten könne, für die erkennbar die Leistungsvoraussetzungen vorlägen und er nur bei rechtzeitiger Antragstellung Verspätungsfolgen vermeiden könne. Der Kläger erhalte bereits seit 01.08.1996 eine Altersrente, eine Verpflichtung zum Hinweis auf eine mögliche Rentenleistung ergebe sich daher nicht.
Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsakten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid vom 30.06.2010 beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), weil dieser Bescheid rechtswidrig ist, soweit er die ungekürzte Rentenzahlung erst ab Juli 2010 zulässt.
Die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme der ungekürzten Rentenzahlung – Anpassung von Todes wegen – sind nach § 37 Abs. 1 u. 2 VersAusglG erfüllt. Nach § 37 Abs. 1 S. 1 wird ein Anrecht der ausgleichspflichtigen Person auf Antrag nicht länger aufgrund des Versorgungsausgleichs gekürzt, wenn die ausgleichsberechtigte Person gestorben ist. Nach § 37 Abs. 2 VersAusglG findet die Anpassung nur statt, wenn die ausgleichsberechtigte Person die Versorgung aus dem im Versorgungsausgleich erworbenen Anrecht nicht länger als 36 Monate bezogen hat. Hierüber besteht auch zwischen den Beteiligten kein Streit.
Zu Recht weist die Beklagte darauf hin, dass nach § 38 Abs. 2 i.V.m. § 34 Abs. 3 VersAusglG die Anpassung erst wirkt ab dem ersten Tag des Monats, der auf den Monat der Antragstellung folgt. Die Beklagte verkennt allerdings, dass sie verpflichtet gewesen wäre, den Kläger rechtzeitig auf die Möglichkeit einer Antragstellung hinzuweisen. Als Folge dieses Versäumnisses ist sie im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs gehalten, den Kläger so zu stellen, als hätte er seinen Antrag rechtzeitig zur Erfüllung der vollen Voraussetzungen, also spätestens im August 2009 gestellt.
Das Gericht vermag der Beklagten darin nicht zu folgen, dass sich für sie keine Hinweispflicht aus § 115 Abs. 6 des Sozialgesetzbuches VI (SGB VI) ergibt. Dort ist geregelt, dass die Träger der Rentenversicherung die Berechtigten in geeigneten Fällen darauf hinweisen sollen, dass sie eine Leistung erhalten können, wenn sie diese beantragen. Entgegen dem Vorbringen der Beklagten ist die Hinweispflicht nach ihrem Wortlaut keineswegs auf die erstmalige Bewilligung von Renten beschränkt, vielmehr ist in allgemeiner Form von Leistungen die Rede. Bei genauer Betrachtung bedeutet dies, dass dies eine Verbesserung von Rentenleistungen ebenso einschließt wie mögliche andere Leistungen nach dem SGB VI.
Was geeignete Fälle im Sinne des § 115 Abs. 6 S. 1 SGB VI sind, ist wie stets durch Auslegung zu ermitteln. Dabei kommt es nicht darauf an, welche Fälle bereits in den nach § 115 Abs. 6 S. 2 SGB VI ergangenen Richtlinien geregelt sind. Denn es handelt es sich bei der Formulierung "in geeigneten Fällen" um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der gerichtlich voll überprüfbar ist (Verbandskommentar, SGB VI § 115 Rn 5 S. 7 Mitte). Zur Erfüllung ihrer Hinweispflicht haben die Rentenversicherungsträger generell Rechtsänderungen zu analysieren und ihren Rentenbestand zu beobachten. Sobald ein Träger feststellt oder feststellen kann, dass die Antragstellung Vorteile bringt, ist er zum Handeln verpflichtet, § 115 Abs. 6 SGB VI legt dem Träger damit eine "reaktive Beobachtungspflicht" auf (so die Formulierung in Verbandskommentar aaO S. 7f. mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des BSG).
Zwar gilt diese Hinweispflicht nur, wenn dem Rentenversicherungsträger zunächst schon ohne einzelfallbezogene Sachverhaltsaufklärung erkennbar wird, dass ein abgrenzbarer Kreis von Berechtigten die Anspruchsvoraussetzung für eine Leistung erfüllt. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall allerdings offensichtlich gegeben. Der Kreis der aus einem Versorgungsausgleich Ausgleichsverpflichteten ist über die EDV eines Rentenversicherungsträgers jederzeit zu ermitteln, denn der durchgeführte Versorgungsausgleich ist im Rentenkonto gespeichert; ebenso ist die Begünstigung aus einem Versorgungsausgleich im Konto erfasst. Offenbar nicht vorgesehen, aber ohne Weiteres möglich ist es, darüber hinaus eine Querverbindung zwischen dies beiden Rentenkonten anzulegen, wie dies in den Fällen, in denen die Anrechnung von Einkommen aus eigenem Rentenbezug auf eine bezogene Hinterbliebenenrente zu überwachen ist, nach der aus verschiedenen Streitfällen gewonnenen Kenntnis des Gerichts bereits geschieht. Allein über die EDV der Beklagten wäre somit ohne Weiteres festzustellen, dass im Fall des Klägers die ausgleichsberechtigte Person verstorben ist, im vorliegenden Fall auch schon vor der Geltung des neuen Gesetzes. Nachdem das Versorgungsausgleichsgesetz am 08.04.2009 im Bundesgesetzblatt verkündet worden war, hatte die Beklagte zumindest noch fast fünf Monate Zeit, geeignete Vorkehrungen zu treffen. Dies gilt unabhängig von der Überlegung, dass die Rentenversicherungsträger oder ihr Verband im Rahmen der Änderung von sie betreffenden Gesetzen regelmäßig bereits im Gesetzgebungsverfahren gehört werden.
Das Vorbringen der Beklagten zur Publizität der Gesetze mag grundsätzlich richtig sein, wenn z. B. sich jemand darauf berufen wollte, die Strafbarkeit seines Tuns nicht gekannt zu haben, es trifft indes den vorliegenden Fall nicht. Im Bereich des Sozialrechts gibt es vielmehr allgemeine Aufklärungspflichten aus § 13 SGB I, konkrete Beratungs- und Auskunftspflichten aus §§ 14 und 15 SGB I und daneben die deutlich konkreteren Hinweispflichten des Rentenversicherungsträgers aus § 115 Abs. 6 SGB VI. § 13 SGB I verlangt von allen Leistungsträgern nur eine allgemeine Aufklärung der Bevölkerung, §§ 14 und 15 SGB I fordern – ebenfalls von allen Trägern - Beratung und Auskunft aus gegebenem Anlass, § 115 Abs. 6 SGB VI verpflichtet dagegen bestimmte Träger, die Rentenversicherungsträger – zu denen auch die Beklagte gehört -, zu konkreten Hinweisen an bestimmbare Versicherte, denen andernfalls ohne Antragstellung Leistungen oder Leistungsanteile verloren gehen könnten. Dieser Pflicht ist die Beklagte nicht nachgekommen. Die von der Beklagten behauptete allgemeine Aufklärung der Öffentlichkeit durch eine Pressemitteilung vom 07.09.2009 – die Richtigkeit dieser Behauptung unterstellt - genügt deshalb den Voraussetzungen des § 115 Abs. 6 SGB VI keinesfalls, sie erfüllte allenfalls die allgemeinen Aufklärungspflichten aus § 13 SGB I ... Unabhängig davon ist für das Gericht nicht erkennbar, warum die Beklagte beansprucht, mit einer erst im Laufe des Monats September 2009 ergangenen aufklärenden Mitteilung diejenigen Versicherten, die Ansprüche ab dem 01.09.2009 haben könnten, in die Lage versetzt zu haben, den gem. §§ 38 Abs. 2, 34 Abs. 3 VersAusglG bereits im Monat vor dem möglichen Leistungsbeginn – also im August 2009 - zu stellenden Antrag rechtzeitig einzureichen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
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