L 5 R 4211/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 22 R 5649/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 R 4211/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 27.7.2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Weitergewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente (§ 44 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch, SGB VI, a.F.) über den 30.6.2000 hinaus im Wege des Überprüfungsverfahrens nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X).

Die 1960 (in I.) geborene Klägerin (1964 nach D. eingereist) absolvierte ab 1982 eine zweijährige Ausbildung zur Anwaltsgehilfin und war in diesem Beruf von August 1985 bis Dezember 1986 tätig. Ab April 1988 war sie als Angestellte im Schreibdienst (Vergütungsgruppe BAT VII) beim Landratsamt E. versicherungspflichtig (teilzeit-)beschäftigt; der Wechsel der beruflichen Tätigkeit beruhte nicht auf gesundheitlichen Gründen. Seit 13.9.1996 war die Klägerin durchgängig arbeitsunfähig.

Am 9.4.1997 beantragte die Klägerin Erwerbsunfähigkeitsrente, worauf die Beklagte (bzw. deren Rechtsvorgängerin, im Folgenden nur: Beklagte) das Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. M. vom 2.6.1997 erhob. Dieser diagnostizierte eine angstneurotische Entwicklung und eine neurasthenische Persönlichkeitsstruktur sowie Asthma bronchiale (Psychosomatose). Deswegen könne die Klägerin als Verwaltungsangestellte nur halb- bis unter vollschichtig arbeiten.

Mit Bescheid vom 3.9.1997 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit (§§ 43, 44 SGB VI a. F.) liege nicht vor, da die Klägerin auf dem ihrem Leistungsvermögen entsprechenden Teilzeitarbeitsplatz der Verwaltungsangestellten erwerbstätig sein könne.

Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren (Widerspruchsbescheid vom 17.11.1997) erhob die Klägerin am 27.11.1997 Klage beim Sozialgericht Stuttgart (Verfahren S 17 An 5831/97). Das Sozialgericht befragte behandelnde Ärzte und erhob das nervenärztliche Gutachten der Dr. Sch. vom 11.5.1998. Diese diagnostizierte Panikattacken mit Agoraphobie und hielt die Klägerin für außerstande eine Berufstätigkeit auszuüben.

Mit Schriftsatz vom 25.6.1998 gab die Beklagte ein Anerkenntnis ab und bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 19.2.1999 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit vom 1.11.1997 bis 30.6.2000 (monatlich 1.309,06 DM).

Am 5.4.2000 stellte die Klägerin einen Weitergewährungsantrag, worauf die Beklagte das Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. W. vom 6.7.2000 erhob. Dieser diagnostizierte eine Angststörung und Panik bei Attacken von Dyspnoe. Das Beschwerdebild habe sich gebessert, die Erkrankung sei medikamentös und verhaltenstherapeutisch angehbar, eine wesentliche Einschränkung der Leistungsfähigkeit bestehe nicht. Die Berentung sei nicht indiziert gewesen. Als Verwaltungsangestellte könne die Klägerin vollschichtig arbeiten.

Mit Bescheid vom 11.8.2000 lehnte die Beklagte den Weitergewährungsantrag ab. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren (Widerspruchsbescheid vom 2.2.2001) erhob die Klägerin am 13.2.2001 Klage beim Sozialgericht Stuttgart (Verfahren S 8 RA 737/01). Das Sozialgericht befragte behandelnde Ärzte und erhob das Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. F. vom 15.10.2001 (mit ergänzenden Stellungnahmen vom 7.1.2002 und 8.8.2002). Dieser diagnostizierte eine leichte, nicht mehr mit Panikstörung verbundene Agoraphobie; die hieraus resultierenden Einschränkungen hielten sich in sehr engen Grenzen. Die diagnostizierte Störung sei bis auf eine Residualsymptomatik weitgehend ausgeheilt. Als Verwaltungsangestellte (oder Rechtsanwaltsgehilfin) könne die Klägerin vollschichtig arbeiten.

Mit Beschluss vom 30.10.2002 verwies das Sozialgericht Stuttgart den Rechtsstreit an das örtlich zuständige Sozialgericht Heilbronn (Verfahren S 4 RA 2911/02). Dieses erhob das Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. H. (Chefarzt der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum W., W.) vom 2.6.2003. Dr. H. diagnostizierte eine Dysthymie und eine Agoraphobie mit leichten Panikattacken; beide Erkrankungen seien grundsätzlich einer Therapie und Besserung zugänglich. Die Leistungseinschätzung des Dr. M. (Gutachten vom 2.6.1997: halb- bis untervollschichtiges Leistungsvermögen) sei aufgrund der jetzt erhobenen Befunde nicht nachvollziehbar. Die Klägerin könne leichte Tätigkeiten (unter qualitativen Einschränkungen: u.a. keine das Normalmaß deutlich übersteigende Verantwortung oder geistige Beanspruchung) vollschichtig (8 Stunden täglich) verrichten.

Mit Urteil vom 17.2.2004 (- S 4 RA 2911/02 -) wies das Sozialgericht die Klage ab; Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit liege nach den Erkenntnissen der Rentengutachter nicht (mehr) vor.

Am 7.5.2004 legte die Klägerin beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung ein (Verfahren L 13 R 1780/04). Das LSG erhob auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das Gutachten der Neurologin und Psychiaterin Dr. G.-P. vom 10.5.2005. Diese führte u.a. psychometrische Selbstbeurteilungsverfahren durch und diagnostizierte eine schwere Angststörung mit Panikstörung und Agoraphobie sowie Selbstverletzungstendenzen. Tätigkeiten außerhalb der eigenen Wohnung könnten im Prinzip nicht ausgeübt werden, da die Klägerin Menschansammlungen (Arbeitsteam) nicht zuverlässig ertragen könne. Da sie auch nicht konfliktfähig zu sein scheine, sei Teamarbeit nicht möglich. Sie könne nur unter 3 Stunden täglich arbeiten. Auch Arbeitswege könne die Klägerin nicht zurücklegen, da sie ohne Begleitung das Haus nicht verlassen könne. Das Ausmaß der Angststörung und die Auswirkungen auf das alltägliche soziale Leben seien von den Vorgutachtern nicht ausreichend gewürdigt worden.

Mit Urteil vom 13.12.2005 (- L 13 R 1780/04 -) wies das LSG Baden-Württemberg die Berufung zurück. Zur Begründung führte es aus, die Klägerin, die sich vom Beruf der Rechtsanwaltsgehilfin nicht aus gesundheitlichen Gründen gelöst habe, könne seit 1.7.2000 wieder vollschichtig als Verwaltungsangestellte (im Schreibdienst des Landratsamts E., BAT VII) arbeiten. Das folge aus den überzeugenden Gutachten der Dres. W., F. und H ... Eine zu rentenberechtigenden Leistungseinschränkungen (Erwerbsunfähigkeit nach § 44 SGB VI a. F.) führende psychiatrische Erkrankung liege nicht vor. Der abweichenden Auffassung der Dr. G.-P. in deren gem. § 109 SGG erhobenen Gutachten bzw. der behandelnden Psychiaterin K. sei nicht zu folgen. Das Gutachten der Dr. G.-P. sei nicht widerspruchsfrei und lasse im Übrigen nicht erkennen, weshalb eine schwerwiegende Angststörung mit Panikstörung vorliegen solle. Außerdem würden - im Unterschied zu den Gutachten der Dres. W. und H. - Tagesstrukturierung, allgemeines Interessenspektrum und soziale Interaktionsfähigkeit der Klägerin nicht ausreichend gewürdigt. Das Urteil ist rechtskräftig.

Am 27.9.2006 stellte die Klägerin einen Überprüfungsantrag gem. § 44 SGB X; man möge den Bescheid vom 11.8.2000 (Widerspruchsbescheid vom 2.2.2001) zurücknehmen und ihr über den 30.6.2000 hinaus Erwerbsunfähigkeitsrente gewähren. Zur Begründung trug sie vor, das LSG Baden-Württemberg sei der (von den behandelnden Ärzten geteilten) Auffassung der Dr. G.-P. nicht gefolgt, obwohl diese eine erfahrene Gutachterin sei. Ihre Erkrankungen hätten sich verschlechtert.

Die Beklagte erhob den Befundbericht der behandelnden Neurologin und Psychiaterin K. vom 30.3.2007. Darin ist (bei den Diagnosen Dysthymie, rezidivierende depressive Störung, Panikattacken) ausgeführt, seit einer kontinuierlichen Psychotherapie habe es gute Fortschritte in der Entwicklung der Ich-Stärke und der Reduktion des Vermeidungsverhaltens gegeben. Es sei der Klägerin gelungen, eine Tätigkeit im Büro der Schwester (2 Stunden täglich) aufzunehmen, was sie deutlich motiviert habe. Insofern sei eine Besserung in den letzten 2 Jahren zu verzeichnen.

Mit Bescheid vom 3.5.2007 lehnte die Beklagte die Rücknahme des Bescheids vom 11.8.2000 (Widerspruchsbescheid vom 2.2.2001) ab; dieser sei rechtmäßig gewesen.

Zur Begründung des dagegen eingelegten Widerspruchs trug die Klägerin vor, sie ziehe sich stark zurück und leide (nach eigener Einschätzung) an schweren Depressionen, weswegen sie nicht arbeiten könne. Die Klägerin legte außerdem ein Schreiben der Dipl.-Psych. v. H. vom 4.6.2007 vor. Darin heißt es, mittelschwere bis schwere depressive Störungen mit körperlichen Symptomen, phobische Reaktionen und Selbstverletzungstendenzen hätten sich im Lauf des Jahres 2006 deutlich beruhigt, weswegen eine Arbeitserprobung im familiären Bereich eingeleitet worden sei. Die Klägerin ziehe sich aber erneut vermehrt zurück. Alte Ängste, wie von Männern beobachtet zu werden, behinderten sie bei der Arbeit und lösten Konzentrations- und Selbstwertprobleme aus.

Die Beklagte erhob das Gutachten der Neurologin und Psychiaterin Dr. B. vom 13.11.2007. Diese diagnostizierte eine Panikstörung mit Agoraphobie und eine emotional instabile Persönlichkeit, Typ Borderline. Die Klägerin sei seit Antragstellung außerstande, leichte Tätigkeiten mehr als 3 Stunden täglich auszuüben.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17.7.2008 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Klägerin stehe Erwerbsunfähigkeitsrente (§ 44 SGB VI a. F.) über den 30.6.2000 hinaus nicht zu, da sie ab 1.7.2000 wieder habe vollschichtig arbeiten können. Allerdings sei zum 27.9.2006 (Stellung des Überprüfungsantrags) volle Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI n. F.) eingetreten. Erwerbsminderungsrente könne aber nicht gewährt werden, weil die Klägerin im Zeitraum vom 27.9.2001 bis 26.9.2006 nur 21 mit Pflichtbeitragszeiten belegte Monate aufzuweisen habe. Die Zeit vom 25.2.2001 bis 31.12.2004 sei nicht mit Anwartschaftserhaltungszeiten (§ 241 Abs. 2 SGB VI) belegt.

Am 20.8.2008 erhob die Klägerin Klage beim Sozialgericht Stuttgart. Sie trug vor, sie sei seit Jahren gesundheitlich schwer angeschlagen. Die Gutachterin G.-P. und ihre behandelnden Therapeutinnen hätten eine Leistungsfähigkeit von unter 3 Stunden täglich angenommen. Die Beklagte habe den von ihr angenommenen Zeitpunkt (27.9.2006) für den Eintritt voller Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI n. F.) nicht hinreichend begründet.

Die Beklagte teilte mit, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Rentengewährung seien letztmals zum 31.3.2003 erfüllt.

Mit Gerichtsbescheid vom 27.7.2010 wies das Sozialgericht die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, der Bescheid vom 11.8.2000 (Widerspruchsbescheid vom 2.2.2001) sei – aus heutiger Sicht nach der bei seinem Erlass bestehenden Sach- und Rechtslage beurteilt (BSG, Urt. v. 14.11.2002, - B 13 RJ 47/01 R -) - rechtmäßig gewesen und deshalb nicht gem. § 44 SGB X zurückzunehmen. Die Neurologin und Psychiaterin Brandt habe im Gutachten vom 13.11.2007 keine Befunde mitgeteilt, aus denen das Fortbestehen von Erwerbsunfähigkeit über den 30.6.2000 hinaus abzuleiten wäre. Der von ihr erhobene psychopathologische Befund lasse Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand der Klägerin am 1.7.2000 nicht zu. Die Beklagte habe seinerzeit auch das einschlägige materielle Recht (§ 44 SGB VI a.F.) zutreffend angewandt. Erwerbsunfähigkeit (§ 44 SGB VI a. F.) über den 30.6.2000 hinaus könne damit – wie das LSG Baden-Württemberg im rechtskräftigen Urteil vom 13.12.2005 (- L 13 R 1780/04 -) entschieden habe – nicht festgestellt werden. Rente wegen voller Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI n. F.) nach einem Leistungsfall vom 27.9.2006 stehe der Klägerin nicht zu, da die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Rentengewährung nicht erfüllt seien.

Auf den ihr am 30.7.2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 6.9.2011 Berufung eingelegt und gleichzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Widerspruchsfrist beantragt und hierzu vorgetragen, die Frist sei wegen eines Versehens der ansonsten zuverlässigen und überwachten Büroleiterin ihres Prozessbevollmächtigten versäumt worden; die Büroleiterin, die eingehende Post grundsätzlich vorzulegen habe, habe ein Schreiben, mit dem der Auftrag zur Berufungseinlegung erteilt worden sei, dem Prozessbevollmächtigten versehentlich nicht vorgelegt (eidesstattliche Versicherung der Büroleiterin vom 6.9.2010).

Die Klägerin bekräftigt im Übrigen ihr bisheriges Vorbringen. Dr. G.-P. sei eine erfahrene Gutachterin, weshalb man ihrer Auffassung bzw. der Auffassung der behandelnden Therapeutinnen hätte folgen müssen. Sie werde seit Jahren von der Nervenärztin K. behandelt. Diese habe ihr noch am 22.11.2010 bestätigt, dass sie seit 2001 durchgängig arbeitsunfähig gewesen sei. Der ihr zuerkannte GdB sei durch Vergleich vor dem Sozialgericht Augsburg am 9.11.2011 (Verfahren S 17 SB 284/10) von 50 auf 80 erhöht worden (außerdem Merkzeichen G und B). Insgesamt liege durchgehend über den 30.6.2000 hinaus bis heute Erwerbsunfähigkeit vor. Dr. B. habe 2007 eine Panikstörung und eine emotional instabile Persönlichkeit und deswegen ein auf unter 3 Stunden täglich abgesunkenes Leistungsvermögen festgestellt. Der Leistungsfall (voller Erwerbsminderung) sei nicht erst 2006 eingetreten. Diese Auffassung verträten die sie seit 10 Jahren behandelnde Nervenärztin K. und die Therapeutin v. H ... Da sie bereits seit 2001 arbeitsunfähig krank gewesen sei, komme es auf die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Gewährung von Erwerbsminderungsrente nicht an.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 27.7.2010 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 3.5.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.7.2008 zu verurteilen, den Bescheid vom 11.8.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2.2.2001 zurückzunehmen und ihr über den 30.6.2000 hinaus Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (§ 44 SGB VI a. F.) weiterzugewähren, hilfsweise, Rente wegen voller Erwerbsminderung (§ 43 SGB VI n. F.) zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend. Ergänzend trägt sie (nach Konsultation ihres beratungsärztlichen Dienstes) vor, eine überdauernde quantitative Leistungsminderung sei nicht festzustellen. Neue medizinische Aspekte gebe es nicht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des Sozialgerichts und des Senats sowie die beigezogenen Gerichtsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I. Die Berufung der Klägerin ist gem. §§ 143, 144, 151 SGG statthaft und auch sonst zulässig. Die Klägerin hat auf den ihr am 30.7.2010 zugestellten Gerichtsbescheid erst am 6.9.2011 und damit nach Ablauf der einmonatigen Berufungsfrist des § 151 SGG Berufung eingelegt. Die Berufungsfrist gilt jedoch als gewahrt, da der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 SGG gewährt wird. Sie war ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist gehindert (§ 67 Abs. 1 SGG).

Verschulden i. S. d. § 67 Abs. 1 SGG liegt vor, wenn der Beteiligte hinsichtlich der Wahrung der Frist diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war. Dabei ist das Verschulden eines Bevollmächtigten dem vertretenen Beteiligten gemäß § 73 Abs. 6 Satz 6 SGG i. V. m. § 85 Abs. 2 ZPO stets wie eigenes Verschulden zuzurechnen. Für ein Verschulden von Hilfspersonen des Bevollmächtigten gilt dasselbe dann, wenn dieses vom Bevollmächtigten selbst zu vertreten, also als dessen eigenes Verschulden anzusehen ist. Kein Verschulden des Prozessbevollmächtigten liegt dagegen vor, wenn er darlegen kann, dass ein Büroversehen vorliegt und er alle Vorkehrungen getroffen hat, die nach vernünftigem Ermessen die Nichtbeachtung von Fristen auszuschließen geeignet sind, und dass er durch regelmäßige Belehrung und Überwachung seiner Bürokräfte für die Einhaltung seiner Anordnungen Sorge getragen hat (BSG, Beschl. v. 8.09.2010, - B 14 AS 96/10 B -).

Hier beruhte das Fristversäumnis auf dem Versehen einer gut ausgebildeten und überwachten Mitarbeiterin (Büroleiterin) des Prozessbevollmächtigten der Klägerin. Das geht aus dem Vorbringen des Prozessbevollmächtigten und der eidesstattlichen Versicherung seiner Büroleiterin vom 6.9.2010 glaubhaft hervor. Auch Organisationsverschulden kann dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin nicht zur Last gelegt werden. Die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist (§ 67 Abs. 2 SGG) sind ebenfalls erfüllt.

II. Die Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, den Bescheid vom 11.8.2000 (Widerspruchsbescheid vom 2.2.2001) zurückzunehmen und der Klägerin über den 30.6.2000 hinaus Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (§ 44 SGB VI a. F.) zu gewähren. Der Klägerin steht auch Erwerbsminderungsrente gem. § 43 SGB VI n. F. auf Grund eines neuen Leistungsfalls nicht zu, weshalb offen bleiben kann, ob hierüber nicht ein neues Verwaltungsverfahren (Rentenverfahren) durchzuführen gewesen wäre.

1. Die Klägerin begehrt in erster Linie die Weitergewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente (§ 44 SGB VI a. F.) über den 30.6.2000 hinaus im Wege des Überprüfungsverfahrens gem. § 44 SGB X. Die Beklagte das das zu Recht abgelehnt.

Gem. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen (wie Renten wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit nach §§ 43, 44 SGB VI a. F.) zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Die Vorschrift gilt auch für Verwaltungsakte, die durch eine rechtskräftige sozialgerichtliche Entscheidung bestätigt worden sind (BSG, Urt. v. 7.12.1989, - 4 RA 110/88 -). Die Rechtmäßigkeit eines Rentenablehnungsbescheids i. S. d. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X beurteilt sich nach der zum Zeitpunkt seines Erlasses bestehenden Sach- und Rechtslage aus heutiger Sicht (vgl. BSG , Urt. v. 14.11.2002, - B 13 RJ 47/01 R -).

Die Beklagte hat bei Erlass des Bescheids vom 11.8.2000 (Widerspruchsbescheid vom 2.2.2001) das (seinerzeit geltende) Recht richtig angewandt und die Weitergewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente zu Recht abgelehnt. Sie ist nicht von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erweist. Der Senat nimmt hierfür auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheids und außerdem auf die Entscheidungsgründe des Urteils des Sozialgerichts Heilbronn vom 17.2.2004 (- S 4 RA 2911/02 -) und des LSG Baden-Württemberg vom 13.12.2005 (- L 13 R 1780/04 -) Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG). Ergänzend ist anzumerken:

Die Erfahrung der Gutachterin Dr. G.-P. in der sozialmedizinischen (Renten)-Begutachtung ändert nichts daran, dass ihr gem. § 109 SGG erstattetes Gutachten vom 10.5.2005 aus den im Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 13.12.2005 (a. a. O.) dargelegten Gründen nicht überzeugen kann; Entsprechendes gilt für die Auffassung der behandelnden Psychiaterin K ... Außerdem sind von Dr. G.-P. angewandte Selbstbeurteilungsverfahren für die sozialmedizinische Begutachtung in Rentenverfahren nicht validiert und nicht aussagekräftig (vgl. Senatsurteil vom 11.5.2011, - L 5 R 1823/10 -).

Im Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X haben sich neue Erkenntnisse nicht ergeben. Das Gutachten der Dr. B. vom 13.11.2007 trifft Feststellungen zum derzeitigen bzw. bei Stellung des Überprüfungsantrags am 27.9.2006 bestehenden Leistungsvermögen der Klägerin, nicht jedoch zum Leistungsvermögen am 1.7.2000 bzw. bei Ablehnung der Weitergewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente durch Bescheid vom 11.8.2000 (Widerspruchsbescheid vom 2.2.2001). Die von Dr. B. erhobenen Befunde lassen Rückschlüsse auf das damalige Leistungsvermögen nicht zu. Das gilt entsprechend für das Attest der Dipl.-Psych. v. H. vom 4.6.2007, zumal darin über eine deutliche Beruhigung der psychischen Erkrankung im Jahr 2006 berichtet wird. Die Ansicht der behandelnden Therapeutinnen (K. und v. H.), wonach die Klägerin seit 10 Jahren durchgängig erwerbsunfähig sei, stellt eine Meinungsäußerung dar, jedoch keine durch Befunde nachvollziehbar begründete sozialmedizinische (rentenrechtliche) Leistungseinschätzung. Mit Behauptungen dieser Art ist die fundierte Beurteilung der Rentengutachter Dres. W., F. und H. nicht in Zweifel zu ziehen.

2). Rente wegen (voller) Erwerbsminderung gem. § 43 SGB VI n. F. steht der Klägerin ebenfalls nicht zu. Der Senat lässt offen, ob über einen Rentenanspruch nach § 43 SGB VI n. F. im Zuge eines Rechtsstreits zu entscheiden ist, der unmittelbar ein Überprüfungsverfahren gem. § 44 SGB X wegen der Ablehnung der (Weiter-)Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente nach § 44 SGB VI a. F. und nicht ein Verfahren auf Gewährung von Rente (gem. §§ 43, 44 SGB VI a. F. bzw. § 43 SGB VI n. F.) zum Gegenstand hat.

Für die Gewährung von Erwerbsminderungsrente gem. § 43 SGB VI n. F. kommt nur ein während des Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X von Dr. B. (Gutachten vom 13.11.2007) festgestellter neuer Versicherungsfall in Betracht. Ein Rentenanspruch der Klägerin scheitert aber daran, dass die hierfür erforderlichen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind.

Versicherungsrechtliche Voraussetzung der Gewährung von Erwerbsminderungsrente ist neben der Erfüllung der allgemeinen Wartezeit (§ 50 Abs. 1 Satz 1 SGB VI), dass der Versicherte in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit hat (§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bzw. § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI n. F.). Pflichtbeitragszeiten nach den genannten Vorschriften sind Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge gezahlt worden sind oder als gezahlt gelten (§ 55 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB VI). Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängert sich gem. § 43 Abs. 4 Nr. 1 SGB VI n. F. (u.a.) um nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegte Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Gem. § 241 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 5 SGB VI sind Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit vor Eintritt der Erwerbsminderung für Versicherte nicht erforderlich, die vor dem 1.1.1984 die allgemeine Wartezeit erfüllt haben, wenn jeder Kalendermonat (zur Monatsrechnung § 122 Abs. 1 SGB VI) vom 1.1.1984 bis zum Kalendermonat vor Eintritt der Erwerbsminderung mit Beitragszeiten bzw. mit Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (Anwartschaftserhaltungszeiten) belegt ist.

Nach Maßgabe dieser Vorschriften sind die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Rentengewährung, wie die Beklagte dargelegt hat, letztmals zum 31.3.2003 erfüllt gewesen; hierüber streiten die Beteiligten nicht. Erwerbsminderung gem. § 43 SGB VI n. F. lag bis zu diesem Zeitpunkt aber nicht vor. Das folgt nach dem Gesagten vor allem aus dem - zeitnah zu diesem Stichtag - erstatteten Gutachten des Dr. H. vom 2.6.2003, der (sogar) Erwerbsunfähigkeit gem. § 44 SGB VI a. F. ausgeschlossen hat. Daran können, wie ebenfalls bereits dargelegt wurde, die von der Klägerin für ihr Rentenbegehren angeführten Meinungsäußerungen ihrer Therapeutinnen K. und v. H. nichts ändern. Das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit im krankenversicherungsrechtlichen Sinn (§ 44 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch, SGB V) ist für die Gewährung von Erwerbsminderungsrente nicht maßgeblich; ebenso wenig kommt es auf die Erhöhung des GdB der Klägerin im Jahr 2011 von 50 auf 80 an.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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