Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 131 AS 28467/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 10 AS 123/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Berlin vom 16. Januar 2012 wird der Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig für die Zeit vom 01. November 2011 bis 30. April 2012 weiteres Arbeitslosengeld II zur Deckung des Bedarfs für Unterkunft und Heizung iHv monatlich 328,91 Euro zu zahlen. Dabei ist der Betrag für die Monate November 2011 bis März 2012 iHv insgesamt 1.644,55 Euro sofort auf das Konto des Vermieters der Antragstellerin zu überweisen. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten des gesamten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu erstatten.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde gegen den im Tenor bezeichneten Beschluss ist begründet. Mit ihr verfolgt die geborene, alleinstehende Antragstellerin ihr erstinstanzliches Begehren weiter, den Antragsgegner im Wege einer Regelungsanordnung iS von § 86b Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu verpflichten, weiteres Arbeitslosengeldes II iHv monatlich Euro für die Zeit vom 01. November 2011 bis 30. April 2012 unter Berücksichtigung eines Bedarfs für Unterkunft und Heizung in dieser Höhe für die Wohnung A in B-W zu zahlen, nachdem der Vermieter den Mietvertrag über diese Wohnung wegen des Ausbleibens der Mietzahlungen für die Monate Oktober (teilweise) sowie November und Dezember 2011 (der Antragsgegner hat die Leistung von Unterkunftskosten seit September 2011 eingestellt) mit Schreiben vom 22. Dezember 2011 (Bl 214 Gerichtsakte (GA)) fristlos gekündigt hat.
Dem Eilantrag der Antragstellerin war in Anwendung des § 86b Abs 2 SGG stattzugeben, weil der Senat die Sachlage im einstweiligen Verfahren nicht vollständig durchdringen kann und eine Folgenabwägung (Leistung/Nichtleistung) zu ihren Gunsten zu treffen ist. Die folgende Begründung ist an den Maßstäben ausgerichtet, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in dem Beschluss vom 12. Mai 2005 (1 BvR 569/05 - 3. Kammer des Ersten Senats – info also 2005, 166 und juris) entwickelt hat.
Nach § 86b Abs 2 Satz 2 SGG kann das Gericht auf Antrag zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die danach zu treffende Entscheidung kann sowohl auf eine Folgenabwägung ((vorläufige und möglicherweise teilweise) Zuerkennung/aktuelle Versagung des Anspruchs) als auch auf eine Überprüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache ge¬stützt werden, wobei Art 19 Abs 4 Grundgesetz (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt. Soll die Entscheidung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientiert werden, ist das erkennende Gericht verpflichtet, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen, insbesondere dann, wenn das einstweilige Verfahren die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht, wie dies im Streit um laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende regelmäßig der Fall ist, da der elementare Lebensbedarf für die kaum je absehbare Dauer des Hauptsacheverfahrens bei (teilweise) ablehnender Entscheidung nicht gedeckt ist. Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand der Folgenabwägung zu entscheiden, die daran ausgerichtet ist, eine Verletzung grundgesetzlicher Gewährleistungen zu verhindern, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert. Die Sicherung des Existenzminimums (verwirklicht durch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose) ist eine grundgesetzliche Gewährleistung in diesem Sinne, da die Sicherung eines menschenwürdigen Lebens eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates ist, die aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip folgt.
Der Antragstellerin sind die aus dem Entscheidungssatz ersichtlichen Leistungen im Rahmen einer Folgenabwägung vorläufig zuzuerkennen. Dem liegen folgende Erwägungen zu Grunde:
Nach § 22 Abs 1 Satz 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. Bei den in der A angemieteten Räumlichkeiten handelt es sich um eine Wohnung, das heißt um eine nach ihrer Beschaffenheit zu Wohnzwecken aktuell geeignete Baulichkeit. Für die Anmietung entstehen Aufwendungen in Höhe von Euro monatlich, diese halten sich im Rahmen der Kosten, die für die Unterkunft und Heizung einer leistungsberechtigten Einzelperson in Berlin angemessen sind.
Ob ein den Unterkunftskosten, die für diese Wohnung anfallen, entsprechender Bedarf im Sinne von § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II besteht, ist allein deshalb zweifelhaft, weil massive Hinweistatsachen dafür vorliegen, dass sich die Antragstellerin nicht (mehr) in erheblichem Umfang in der Wohnung A aufhält. Für die Belange des einstweiligen Verfahrens ist ausgehend von der im Folgenabwägungszusammenhang insoweit maßgebenden Tatsachenlage (dazu später) zu fragen, ob sie es noch rechtfertigt, vom (Fort-) Bestand eines bezüglich der Wohnung A geltend gemachten Unterkunftsbedarfs auszugehen. Dies erfordert es, zu bestimmen, in welchem Umfang eine Nutzung der Wohnung Anspruchsvoraussetzung ist bzw ob (ausnahmsweise) auch allein die Nutzungsmöglichkeit einen Bedarf iSv § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II begründet.
Zur näheren Bestimmung der nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II abzudeckenden Bedarfsposition ist auf die für den Anspruch grundlegenden Gesichtspunkte zurückzugreifen. Die Leistungen für Unterkunft und Heizung sind eine Geldleistung zur Deckung des zur Führung eines menschenwürdigen Lebens notwendigen Bedarfs, die als Bestandteil des soziokulturellen Minimums garantiert sind. Über den Schutz physischer Bedürfnisse ("Schutz vor den Unbilden des Wetters") hin¬aus umfasst die gesetzliche Gewährleistung einen Raum für Privatheit – einen persönlichen Lebensbereich (vgl Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 16. Dezember 2008 – B 4 AS 1/08 R, RdNr 13ff; BSG, Urteil vom 17. Juni 2010 – B 14 AS 58/09 R, RdNr 28, dort: Wohnungslosigkeit entfällt nicht, wenn eine Unterbringung in einer Not- oder Obdachlosenunterkunft möglich ist, beide zitiert nach juris). Das BVerfG formuliert, die Wohnung bilde die räumliche Sphäre, in der sich Privatleben entfalte und verbürge dem Einzelnen mit Blick auf die Menschenwürde sowie im Interesse der Entfaltung der Persönlichkeit einen elementaren Lebensraum (vgl BVerfG, Beschluss vom 26. Mai 1993 – 1 BvR 208/93, zitiert nach juris). Diese Begriffsbestimmung geht ersichtlich nicht vom Umfang der Nutzung einer Wohnung aus, die sicherlich nicht dauerhaft und vollständig entfallen darf, im Übrigen aber angesichts der Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse kaum eine verlässliche und sachgemäße Begriffsbildung ermöglicht. Zwar ist es der Regelfall, dass eine Wohnung innegehalten und dauerhaft für alle Bedürfnisse genutzt wird, die das Wohnen ausmachen (etwa Schlafen, Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten, Körperpflege, Aufbewahrung und Unterhalt der persönlichen Habe, Kontakt nach außen, Freizeitgestaltung). Es sind jedoch vielfältige Abweichungen bezüglich der Anwesenheitszeiten, des Nutzungsumfangs und der Abspaltung von Teilfunktionen vorstellbar, ohne dass damit in der Eigen- oder Fremdwahrnehmung die Einschätzung einherginge, der Wohngebrauch werde durch solche Verhaltensweisen beendet. Davon ausgehend sieht der Senat keine hinreichende Grundlage, die Aussage, der Leistungsberechtigte bewohne eine Wohnung (= es bestehe ein Unterkunftsbedarf) bzw er tue dies nicht, von einem überwiegenden oder anderweitig als Quote bestimmten Umfang des Aufenthalts oder der Nutzung abhängig zu machen. Dies bedeutet nicht, dass der Umstand, dass eine steuerfinanzierte Leistung in Anspruch genommen wird, ohne Bedeutung bleibt. Dem Bemittelten steht es frei, das Inne¬haben einer Wohnung (oder mehrerer Wohnungen) von der Nutzung derselben zu entkoppeln und die Deckung seines Wohnbedarfs beliebig aufzuspalten. Im Rahmen des § 22 SGB II werden dagegen immer nur die tatsächlich anfallenden Aufwendungen (angemessenen Umfangs) für eine Wohnung (zur Abspaltung der Funktion Aufbewahrung von Hab und Gut vgl BSG Urteil vom 16. Dezember 2008 aaO) gedeckt, sofern sie durch das Objekt verursacht werden, das inne zu haben den Unterkunftsbedarfs befriedigt (dies aber – wie oben dargelegt –, ohne dass eine intensive Nutzung des Objekts Voraussetzung wäre). Dies bedeutet zunächst, dass für eine nur teilweise benutzte Wohnung dann kein einen Unterkunftsbedarf berücksichtigender Leistungsanspruch entstehen kann, wenn der Bedarf anderweitig gedeckt ist, der Leistungsberechtigte etwa tatsächlich (kostenfrei) bei Familienangehörigen oder dauerhaft in einer Zweitunterkunft (zB einer Laube) wohnt. Derartige Verhältnisse stellen nach der dargestellten Sichtweise eine den Bedarf iSv § 20 Abs 1 Satz 1 SGB II deckende Unterkunft aber nur dann dar, wenn ihr Potential diesem Bedarf entspricht, dh wenn sie den Aufbau oder Erhalt einer Privatsphäre ermöglicht, selbstbestimmtes Wohnen gewährleistet und faktisch und/oder rechtlich gesichert ist.
Die festgestellten Umstände und das Ergebnis der Anhörung der Antragstellerin und der Vernehmung des Zeugen R ergeben, dass - ausgehend von der soeben dargestellten Begriffsbildung zu den Voraussetzungen des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II - diese Voraussetzungen nicht mit der für eine Klageabweisung in der Hauptsache notwendigen Sicherheit verneint werden können. Die Würdigung der Tatsachenlage (dabei bleibt zu beachten, dass es zur Folgenabwägung führt, wenn die der Antragstellerin ungünstige Sachverhaltsvariante (iS einer möglichen Betrachtungsweise) nicht feststeht, vgl oben zur Folgenabwägung) lässt weder erkennen, dass die Antragstellerin die Wohnung A im Wesentlichen und dauerhaft aufgegeben hat – dazu (1) – und es lässt sich derzeit auch nicht positiv feststellen, dass ihr Unterkunftsbedarf durch die Aufenthaltsmöglichkeit in der Wohnung des Zeugen R(ob und in welchem Umfang andere Aufenthaltsorte eine Rolle spielen könne, ist derzeit noch nicht ermittelt) gedeckt ist – dazu (2).
(1) Zu Aufenthalt und Nutzung der Wohnung in der A hat das Sozialgericht (SG) den (nicht widerspruchsfreien) Angaben der Antragstellerin und des Zeugen T R zu regelmäßi¬gen Übernachtungen der Antragstellerin in der A und zur Nutzung der Waschmaschine dort die Werte aus den Stromabrechnungen der vergangenen Jahre und den Abrechnungen der verbrauchsabhängigen Heizungskosten gegenübergestellt. Insoweit wird Bezug genommen auf die Ausführungen des SG in der angefochtenen Entscheidung (S 4 ff). Zwar liegt danach der Schluss nahe, dass die Wohnung nur in geringem Umfang genutzt wird. So liegt der Jahresstromverbrauch für die gesamte Wohnung bei zuletzt 133 kwh (Abrechnung vom 02. Januar 2012 –Bl 242 der GA). Die für die Wohnung der Antragstellerin bei der Heizkostenabrechnung festgestellten Verbrauchswerte betragen lediglich rund ein Viertel des Durchschnittsverbrauchs der Wohnanlage (Heizkostenabrechnung vom 27. April 2011: durchschnittlicher Verbrauch 606.386 Einheiten: 8.864,61 qm= 68,40 Einheiten/qm im Vergleich zu dem Verbrauch der Antragstellerin von 705 Einheiten: 42,47 qm Wohnfläche = 16,60 Einheiten/qm). Zudem war die Antragstellerin bei einer Mehrzahl von Außendienstbesuchen nicht anzutreffen. Indes konnte ein nahezu vollständiges Erliegen der Wohnnutzung der Räume durch die Antragstellerin – auch nach Auffassung des Antragsgegners – bei der unangekündigten Besichtigung der Wohnung im Rahmen des Termins am 13. Dezember 2011 nicht festgestellt werden. So fanden sich in der Wohnung verderbliche Lebensmittel im Kühlschrank, auch war die Schlafcoach bezogen. Weiter fanden sich im Wohnzimmer auf dem Tisch Kerzen und benutzte Gläser; Stereoanlage und Fernseher waren im Standby-Modus eingeschaltet.
(2) Es liegt durchaus nahe als Ergebnis der Beweisaufnahme des SG anzusehen, dass sich die Antragstellerin häufig und mit Wahrscheinlichkeit überwiegend in der Wohnung des Zeugen R in der O aufgehalten hat und aufhält. Sowohl die Antragstellerin als auch der Zeuge R sprechen von regelmäßigen Aufenthalten der Antragstellerin in der Wohnung des Zeugen R, aber auch von (getrennten und gemeinsamen) Übernachtungen in der Wohnung der Antragstellerin in der A bzw von gelegentlichen Übernachtungen der Antragstellerin anderen Orts. Der Zeuge R hat die Verhältnisse bei seiner Vernehmung am 10. Januar 2012 als "lockere Beziehung mit getrennten Wohnungen" (Bl 254 GA) charakterisiert. Zwar hat er eingeräumt, der Antragstellerin einen Zweitschlüssel für seine Wohnung überreicht zu haben. Mit seinen weiteren Angaben über die Umstände des Aufenthalts der Antragstellerin in seiner Wohnung (Anwesenheit der Antragstellerin zweimal die Woche an arbeitsfreien Tagen, am Wochenende oder nach einem Krankenhausaufenthalt, keine Möbel der Antragstellerin in seiner Wohnung, Vorhaltung von Wechselwäsche) hat er indes keine Verhältnisse beschrieben, die dadurch gekennzeichnet wären, dass sich die Antragstellerin dort nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft und zukunftsoffen aufgehalten hat und ob sie bei der Nutzung der Wohnung eigene Vorstellungen annährend gleichberechtigt umsetzen kann. Auch die Antragstellerin hat solche Verhältnisse nicht angegeben. Die Beweisaufnahme weist damit eher in die Richtung, dass die Antragstellerin in dem Umfang, in dem sie sich bisher einverständlich in der Wohnung des Zeugen R aufhalten wollte, dort nur "geduldet" war. Damit ist eine (unter dem Aspekt anderweitiger Deckung des Unterkunftsbedarfs) durchschlagend anspruchsausschließende Sachlage mit der erforderlichen Gewissheit nicht zum Ausdruck gekommen, die darin bestehen müsste, dass die Antragstellerin die Wohnung O (deren Größe und Zuschnitt nicht bekannt sind) ohne wesentliche Einschränkungen "wie eine Mieterin" nutzen konnte und dies zukunftsoffen ("bis auf Weiteres") auch derzeit kann.
Die bei dieser Sachlage vorzunehmende Folgenabwägung ist zugunsten der Antragstellerin zu treffen, da einer möglichen Rechtsverletzung der Antragstellerin (gegeben für den Fall, dass ihr ein Leistungsanspruch zusteht), abgesehen vom Ausfallrisiko im Rückforderungsfalle, keine darstellbaren Interessen des Antragsgegners gegenüber stehen. Allein der fiskalische Gesichtspunkt überwiegt die grundrechtlich gestützte Position der Antragsteller nicht.
Angesichts der bereits ausgesprochenen fristlosen Kündigung vom 22. Dezember 2011 (Bl 214 GA) und dem von der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin versicherten Umstand, dass eine Räumungsklage bislang nur wegen des vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht erhoben wurde, sind hier wegen der Annahme eines Nachholbedürfnisses die während des laufenden einstweiligen Rechtsschutzverfahrens angefallenen Mietzahlungen rückwirkend in Form einer Einmalzahlung zu übernehmen. Die Antragstellerin hat am 10. Januar 2012 bekundet, den darüber hinaus noch offenen Betrag der Miete für Oktober 2012 iHv Euro selbst aufbringen zu können. Die Zahlung der Kosten der Unterkunft und Heizung für April 2012 wird zur Fälligkeit anzuweisen sein.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar, § 177 SGG.
Gründe:
Die zulässige Beschwerde gegen den im Tenor bezeichneten Beschluss ist begründet. Mit ihr verfolgt die geborene, alleinstehende Antragstellerin ihr erstinstanzliches Begehren weiter, den Antragsgegner im Wege einer Regelungsanordnung iS von § 86b Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu verpflichten, weiteres Arbeitslosengeldes II iHv monatlich Euro für die Zeit vom 01. November 2011 bis 30. April 2012 unter Berücksichtigung eines Bedarfs für Unterkunft und Heizung in dieser Höhe für die Wohnung A in B-W zu zahlen, nachdem der Vermieter den Mietvertrag über diese Wohnung wegen des Ausbleibens der Mietzahlungen für die Monate Oktober (teilweise) sowie November und Dezember 2011 (der Antragsgegner hat die Leistung von Unterkunftskosten seit September 2011 eingestellt) mit Schreiben vom 22. Dezember 2011 (Bl 214 Gerichtsakte (GA)) fristlos gekündigt hat.
Dem Eilantrag der Antragstellerin war in Anwendung des § 86b Abs 2 SGG stattzugeben, weil der Senat die Sachlage im einstweiligen Verfahren nicht vollständig durchdringen kann und eine Folgenabwägung (Leistung/Nichtleistung) zu ihren Gunsten zu treffen ist. Die folgende Begründung ist an den Maßstäben ausgerichtet, die das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in dem Beschluss vom 12. Mai 2005 (1 BvR 569/05 - 3. Kammer des Ersten Senats – info also 2005, 166 und juris) entwickelt hat.
Nach § 86b Abs 2 Satz 2 SGG kann das Gericht auf Antrag zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die danach zu treffende Entscheidung kann sowohl auf eine Folgenabwägung ((vorläufige und möglicherweise teilweise) Zuerkennung/aktuelle Versagung des Anspruchs) als auch auf eine Überprüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache ge¬stützt werden, wobei Art 19 Abs 4 Grundgesetz (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt. Soll die Entscheidung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientiert werden, ist das erkennende Gericht verpflichtet, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen, insbesondere dann, wenn das einstweilige Verfahren die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht, wie dies im Streit um laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende regelmäßig der Fall ist, da der elementare Lebensbedarf für die kaum je absehbare Dauer des Hauptsacheverfahrens bei (teilweise) ablehnender Entscheidung nicht gedeckt ist. Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand der Folgenabwägung zu entscheiden, die daran ausgerichtet ist, eine Verletzung grundgesetzlicher Gewährleistungen zu verhindern, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert. Die Sicherung des Existenzminimums (verwirklicht durch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose) ist eine grundgesetzliche Gewährleistung in diesem Sinne, da die Sicherung eines menschenwürdigen Lebens eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates ist, die aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip folgt.
Der Antragstellerin sind die aus dem Entscheidungssatz ersichtlichen Leistungen im Rahmen einer Folgenabwägung vorläufig zuzuerkennen. Dem liegen folgende Erwägungen zu Grunde:
Nach § 22 Abs 1 Satz 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. Bei den in der A angemieteten Räumlichkeiten handelt es sich um eine Wohnung, das heißt um eine nach ihrer Beschaffenheit zu Wohnzwecken aktuell geeignete Baulichkeit. Für die Anmietung entstehen Aufwendungen in Höhe von Euro monatlich, diese halten sich im Rahmen der Kosten, die für die Unterkunft und Heizung einer leistungsberechtigten Einzelperson in Berlin angemessen sind.
Ob ein den Unterkunftskosten, die für diese Wohnung anfallen, entsprechender Bedarf im Sinne von § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II besteht, ist allein deshalb zweifelhaft, weil massive Hinweistatsachen dafür vorliegen, dass sich die Antragstellerin nicht (mehr) in erheblichem Umfang in der Wohnung A aufhält. Für die Belange des einstweiligen Verfahrens ist ausgehend von der im Folgenabwägungszusammenhang insoweit maßgebenden Tatsachenlage (dazu später) zu fragen, ob sie es noch rechtfertigt, vom (Fort-) Bestand eines bezüglich der Wohnung A geltend gemachten Unterkunftsbedarfs auszugehen. Dies erfordert es, zu bestimmen, in welchem Umfang eine Nutzung der Wohnung Anspruchsvoraussetzung ist bzw ob (ausnahmsweise) auch allein die Nutzungsmöglichkeit einen Bedarf iSv § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II begründet.
Zur näheren Bestimmung der nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II abzudeckenden Bedarfsposition ist auf die für den Anspruch grundlegenden Gesichtspunkte zurückzugreifen. Die Leistungen für Unterkunft und Heizung sind eine Geldleistung zur Deckung des zur Führung eines menschenwürdigen Lebens notwendigen Bedarfs, die als Bestandteil des soziokulturellen Minimums garantiert sind. Über den Schutz physischer Bedürfnisse ("Schutz vor den Unbilden des Wetters") hin¬aus umfasst die gesetzliche Gewährleistung einen Raum für Privatheit – einen persönlichen Lebensbereich (vgl Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 16. Dezember 2008 – B 4 AS 1/08 R, RdNr 13ff; BSG, Urteil vom 17. Juni 2010 – B 14 AS 58/09 R, RdNr 28, dort: Wohnungslosigkeit entfällt nicht, wenn eine Unterbringung in einer Not- oder Obdachlosenunterkunft möglich ist, beide zitiert nach juris). Das BVerfG formuliert, die Wohnung bilde die räumliche Sphäre, in der sich Privatleben entfalte und verbürge dem Einzelnen mit Blick auf die Menschenwürde sowie im Interesse der Entfaltung der Persönlichkeit einen elementaren Lebensraum (vgl BVerfG, Beschluss vom 26. Mai 1993 – 1 BvR 208/93, zitiert nach juris). Diese Begriffsbestimmung geht ersichtlich nicht vom Umfang der Nutzung einer Wohnung aus, die sicherlich nicht dauerhaft und vollständig entfallen darf, im Übrigen aber angesichts der Vielgestaltigkeit der Lebensverhältnisse kaum eine verlässliche und sachgemäße Begriffsbildung ermöglicht. Zwar ist es der Regelfall, dass eine Wohnung innegehalten und dauerhaft für alle Bedürfnisse genutzt wird, die das Wohnen ausmachen (etwa Schlafen, Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten, Körperpflege, Aufbewahrung und Unterhalt der persönlichen Habe, Kontakt nach außen, Freizeitgestaltung). Es sind jedoch vielfältige Abweichungen bezüglich der Anwesenheitszeiten, des Nutzungsumfangs und der Abspaltung von Teilfunktionen vorstellbar, ohne dass damit in der Eigen- oder Fremdwahrnehmung die Einschätzung einherginge, der Wohngebrauch werde durch solche Verhaltensweisen beendet. Davon ausgehend sieht der Senat keine hinreichende Grundlage, die Aussage, der Leistungsberechtigte bewohne eine Wohnung (= es bestehe ein Unterkunftsbedarf) bzw er tue dies nicht, von einem überwiegenden oder anderweitig als Quote bestimmten Umfang des Aufenthalts oder der Nutzung abhängig zu machen. Dies bedeutet nicht, dass der Umstand, dass eine steuerfinanzierte Leistung in Anspruch genommen wird, ohne Bedeutung bleibt. Dem Bemittelten steht es frei, das Inne¬haben einer Wohnung (oder mehrerer Wohnungen) von der Nutzung derselben zu entkoppeln und die Deckung seines Wohnbedarfs beliebig aufzuspalten. Im Rahmen des § 22 SGB II werden dagegen immer nur die tatsächlich anfallenden Aufwendungen (angemessenen Umfangs) für eine Wohnung (zur Abspaltung der Funktion Aufbewahrung von Hab und Gut vgl BSG Urteil vom 16. Dezember 2008 aaO) gedeckt, sofern sie durch das Objekt verursacht werden, das inne zu haben den Unterkunftsbedarfs befriedigt (dies aber – wie oben dargelegt –, ohne dass eine intensive Nutzung des Objekts Voraussetzung wäre). Dies bedeutet zunächst, dass für eine nur teilweise benutzte Wohnung dann kein einen Unterkunftsbedarf berücksichtigender Leistungsanspruch entstehen kann, wenn der Bedarf anderweitig gedeckt ist, der Leistungsberechtigte etwa tatsächlich (kostenfrei) bei Familienangehörigen oder dauerhaft in einer Zweitunterkunft (zB einer Laube) wohnt. Derartige Verhältnisse stellen nach der dargestellten Sichtweise eine den Bedarf iSv § 20 Abs 1 Satz 1 SGB II deckende Unterkunft aber nur dann dar, wenn ihr Potential diesem Bedarf entspricht, dh wenn sie den Aufbau oder Erhalt einer Privatsphäre ermöglicht, selbstbestimmtes Wohnen gewährleistet und faktisch und/oder rechtlich gesichert ist.
Die festgestellten Umstände und das Ergebnis der Anhörung der Antragstellerin und der Vernehmung des Zeugen R ergeben, dass - ausgehend von der soeben dargestellten Begriffsbildung zu den Voraussetzungen des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II - diese Voraussetzungen nicht mit der für eine Klageabweisung in der Hauptsache notwendigen Sicherheit verneint werden können. Die Würdigung der Tatsachenlage (dabei bleibt zu beachten, dass es zur Folgenabwägung führt, wenn die der Antragstellerin ungünstige Sachverhaltsvariante (iS einer möglichen Betrachtungsweise) nicht feststeht, vgl oben zur Folgenabwägung) lässt weder erkennen, dass die Antragstellerin die Wohnung A im Wesentlichen und dauerhaft aufgegeben hat – dazu (1) – und es lässt sich derzeit auch nicht positiv feststellen, dass ihr Unterkunftsbedarf durch die Aufenthaltsmöglichkeit in der Wohnung des Zeugen R(ob und in welchem Umfang andere Aufenthaltsorte eine Rolle spielen könne, ist derzeit noch nicht ermittelt) gedeckt ist – dazu (2).
(1) Zu Aufenthalt und Nutzung der Wohnung in der A hat das Sozialgericht (SG) den (nicht widerspruchsfreien) Angaben der Antragstellerin und des Zeugen T R zu regelmäßi¬gen Übernachtungen der Antragstellerin in der A und zur Nutzung der Waschmaschine dort die Werte aus den Stromabrechnungen der vergangenen Jahre und den Abrechnungen der verbrauchsabhängigen Heizungskosten gegenübergestellt. Insoweit wird Bezug genommen auf die Ausführungen des SG in der angefochtenen Entscheidung (S 4 ff). Zwar liegt danach der Schluss nahe, dass die Wohnung nur in geringem Umfang genutzt wird. So liegt der Jahresstromverbrauch für die gesamte Wohnung bei zuletzt 133 kwh (Abrechnung vom 02. Januar 2012 –Bl 242 der GA). Die für die Wohnung der Antragstellerin bei der Heizkostenabrechnung festgestellten Verbrauchswerte betragen lediglich rund ein Viertel des Durchschnittsverbrauchs der Wohnanlage (Heizkostenabrechnung vom 27. April 2011: durchschnittlicher Verbrauch 606.386 Einheiten: 8.864,61 qm= 68,40 Einheiten/qm im Vergleich zu dem Verbrauch der Antragstellerin von 705 Einheiten: 42,47 qm Wohnfläche = 16,60 Einheiten/qm). Zudem war die Antragstellerin bei einer Mehrzahl von Außendienstbesuchen nicht anzutreffen. Indes konnte ein nahezu vollständiges Erliegen der Wohnnutzung der Räume durch die Antragstellerin – auch nach Auffassung des Antragsgegners – bei der unangekündigten Besichtigung der Wohnung im Rahmen des Termins am 13. Dezember 2011 nicht festgestellt werden. So fanden sich in der Wohnung verderbliche Lebensmittel im Kühlschrank, auch war die Schlafcoach bezogen. Weiter fanden sich im Wohnzimmer auf dem Tisch Kerzen und benutzte Gläser; Stereoanlage und Fernseher waren im Standby-Modus eingeschaltet.
(2) Es liegt durchaus nahe als Ergebnis der Beweisaufnahme des SG anzusehen, dass sich die Antragstellerin häufig und mit Wahrscheinlichkeit überwiegend in der Wohnung des Zeugen R in der O aufgehalten hat und aufhält. Sowohl die Antragstellerin als auch der Zeuge R sprechen von regelmäßigen Aufenthalten der Antragstellerin in der Wohnung des Zeugen R, aber auch von (getrennten und gemeinsamen) Übernachtungen in der Wohnung der Antragstellerin in der A bzw von gelegentlichen Übernachtungen der Antragstellerin anderen Orts. Der Zeuge R hat die Verhältnisse bei seiner Vernehmung am 10. Januar 2012 als "lockere Beziehung mit getrennten Wohnungen" (Bl 254 GA) charakterisiert. Zwar hat er eingeräumt, der Antragstellerin einen Zweitschlüssel für seine Wohnung überreicht zu haben. Mit seinen weiteren Angaben über die Umstände des Aufenthalts der Antragstellerin in seiner Wohnung (Anwesenheit der Antragstellerin zweimal die Woche an arbeitsfreien Tagen, am Wochenende oder nach einem Krankenhausaufenthalt, keine Möbel der Antragstellerin in seiner Wohnung, Vorhaltung von Wechselwäsche) hat er indes keine Verhältnisse beschrieben, die dadurch gekennzeichnet wären, dass sich die Antragstellerin dort nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft und zukunftsoffen aufgehalten hat und ob sie bei der Nutzung der Wohnung eigene Vorstellungen annährend gleichberechtigt umsetzen kann. Auch die Antragstellerin hat solche Verhältnisse nicht angegeben. Die Beweisaufnahme weist damit eher in die Richtung, dass die Antragstellerin in dem Umfang, in dem sie sich bisher einverständlich in der Wohnung des Zeugen R aufhalten wollte, dort nur "geduldet" war. Damit ist eine (unter dem Aspekt anderweitiger Deckung des Unterkunftsbedarfs) durchschlagend anspruchsausschließende Sachlage mit der erforderlichen Gewissheit nicht zum Ausdruck gekommen, die darin bestehen müsste, dass die Antragstellerin die Wohnung O (deren Größe und Zuschnitt nicht bekannt sind) ohne wesentliche Einschränkungen "wie eine Mieterin" nutzen konnte und dies zukunftsoffen ("bis auf Weiteres") auch derzeit kann.
Die bei dieser Sachlage vorzunehmende Folgenabwägung ist zugunsten der Antragstellerin zu treffen, da einer möglichen Rechtsverletzung der Antragstellerin (gegeben für den Fall, dass ihr ein Leistungsanspruch zusteht), abgesehen vom Ausfallrisiko im Rückforderungsfalle, keine darstellbaren Interessen des Antragsgegners gegenüber stehen. Allein der fiskalische Gesichtspunkt überwiegt die grundrechtlich gestützte Position der Antragsteller nicht.
Angesichts der bereits ausgesprochenen fristlosen Kündigung vom 22. Dezember 2011 (Bl 214 GA) und dem von der Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin versicherten Umstand, dass eine Räumungsklage bislang nur wegen des vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht erhoben wurde, sind hier wegen der Annahme eines Nachholbedürfnisses die während des laufenden einstweiligen Rechtsschutzverfahrens angefallenen Mietzahlungen rückwirkend in Form einer Einmalzahlung zu übernehmen. Die Antragstellerin hat am 10. Januar 2012 bekundet, den darüber hinaus noch offenen Betrag der Miete für Oktober 2012 iHv Euro selbst aufbringen zu können. Die Zahlung der Kosten der Unterkunft und Heizung für April 2012 wird zur Fälligkeit anzuweisen sein.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar, § 177 SGG.
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