L 1 KR 186/11

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 27 KR 180/10
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 186/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. zur Frage der Familienversicherung während eines Promotionsstudiums

2. Die weite Auslegung des Merkmals der Berufsausbildung durch den BFH in § 32 Abs. 4 EStG seit 01.01.1996 ist nicht übertragbar auf den Begriff der Berufsausbildung in § 10 Abs. 2 Nr. 3 SGB V.
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 16. August 2011 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über den Zeitpunkt der Beendigung der Familienversicherung der Klägerin und Berufungsklägerin (im Folgenden: Klägerin).

Die am 1986 geborene Klägerin absolvierte in der Zeit vom 01.10.2004 bis 30.09.2009 ein Studium der Biologie an der Universität L ... Seit 01.10.2009 ist sie für den Studiengang Verfahrenstechnik an der Universität M. immatrikuliert. Als Studienabschluss strebt sie die Promotion an. Das Thema ihrer Doktorarbeit lautet: "Studien zur Proteinexpression von Säugerzellen - Zellwachstum und Infektion". Seit 01.09.2009 erhält die Klägerin von der M.-P.-Gesellschaft ein Stipendium in Höhe von 1.100,00 EUR monatlich (Bewilligungen vom 11.08.2009, 22.10.2009, 13.04.2010). Ausweislich der Bewilligungen der M.-P.-Gesellschaft wird das Stipendium bis 31.08.2012 als Zuschuss zum Lebensunterhalt und nicht als Gegenleistung für wissenschaftliche Tätigkeit gezahlt; es ist einkommensteuer- und sozialversicherungsfrei.

Mit Bescheid vom 09.11.2009 teilte die Beklagte und Berufungsbeklagte (im Folgenden: Beklagte) der Klägerin mit, mit Beendigung ihrer Schul- und Berufsausbildung zum 30.09.2009 ende auch ihre Familienversicherung. Die Promotion ab 01.10.2009 sei nicht Teil des Studiums, sondern setze ein erfolgreich abgeschlossenes Studium voraus. Das Promotionsstudium sei auch kein Aufbau- oder Erweiterungsstudium, sondern diene der wissenschaftlichen Qualifikation nach Abschluss des Studiums.

Hiergegen legte die Klägerin am 08.12.2009 Widerspruch ein. Zur Begründung führte sie aus, nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) gehöre die Vorbereitung auf die Promotion im direkten Anschluss an das Studium zur Berufsausbildung. Im Übrigen wäre eine Familienversicherung über einen "(zurzeit nicht vorhandenen) Ehepartner möglich". Werde ihr die Familienversicherung verwehrt, werde insofern gegen das Gleichbehandlungsgebot verstoßen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27.04.2010 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Die Hochschulausbildung im Sinne von § 10 Abs. 2 Nr. 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) ende grundsätzlich mit der Exmatrikulation. Die Zeit der Promotion an einer Hochschule stelle nur dann eine Schulausbildung dar, wenn anstelle einer Abschlussprüfung die Promotion vorgeschrieben sei.

Dagegen hat die Klägerin am 02.06.2010 Klage beim Sozialgericht (SG) Leipzig erhoben.

Die Klägerin hat vorgetragen, zur Berufsausbildung gehöre nach der Rechtsprechung des BFH auch die Vorbereitung auf eine Promotion, wenn diese im Anschluss an das Studium ernsthaft und nachhaltig durchgeführt werde (Hinweis auf BFH, Urteil vom 09.06.1999 – VI R 92/98 – juris Rn. 13 f.). Unabhängig davon werde im Bereich der Biologie sowohl im wissenschaftlichen als auch im industriellen Sektor in der Regel ein abgeschlossenes Promotionsstudium für eine berufliche Tätigkeit vorausgesetzt. Daher sei zumindest in Bezug auf eine Ausbildung zur Biologin das Promotionsstudium als Teil der Berufsausbildung zu sehen.

Die Beklagte hat an ihrer bisherigen Auffassung festgehalten.

Mit Urteil vom 16.08.2011 hat das SG die Klage abgewiesen. Bei dem Promotionsstudium der Klägerin handele es sich nicht um eine Berufsausbildung im Sinne des § 10 Abs. 2 Nr. 3 SGB V. Zur Berufsausbildung gehörten nur die notwendigen Bildungsmaßnahmen für den betreffenden Beruf. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Kindergeld sei unter einer Ausbildung zu einem Beruf nur die Vermittlung der notwendigen, unverzichtbaren Kenntnisse für diesen Beruf zu verstehen (Hinweis auf BSG, Urteil vom 25.04.1984 – 10 RKg 2/83 – juris). Soweit für einen Beruf ein bestimmter Ausbildungsgang vorgeschrieben sei, zähle zu der notwendigen Berufsausbildung nur die Absolvierung des entsprechenden Ausbildungsganges. Dagegen komme es nicht darauf an, ob der Erwerb von weiteren Kenntnissen und Fähigkeiten - z.B. im Rahmen eines Promotionsstudiums - für die Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt günstiger wäre. Allein aufgrund ihres abgeschlossenen Studiums an der Universität L. als Biologin sei es der Klägerin möglich, als Biologin zu arbeiten. Eine Promotion sei für die Tätigkeit als Biologin zwar erwünscht, aber nicht zwingend vorgeschrieben.

Gegen das ihr am 26.08.2011 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 26.09.2011 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, zur Frage, ob während eines Promotionsstudiums eine Familienversicherung bestehe, existiere keine höchstrichterliche Rechtsprechung. Die vom SG zitierte Rechtsprechung des BSG sei nicht mehr aktuell. Maßgeblich sei nunmehr die Sichtweise des BFH, so dass der Begriff der Berufsausbildung weit auszulegen sei.

Die Klägerin beantragt,

1. das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 16. August 2011 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. November 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. April 2010 aufzuheben,

2. festzustellen, dass die Klägerin auch über den 30. September 2009 hinaus bis 2. April 2011 unter den Versicherungsschutz der Familienversicherung fällt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Dem Senat haben die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage ist zulässig, aber unbegründet. Das Urteil des SG und die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind zu Recht ergangen.

Der Klägerin steht kein Anspruch auf die begehrte Feststellung zu, dass sie über den 30.09.2009 hinaus bis 02.04.2011 unter den Versicherungsschutz der Familienversicherung fällt. Die Zeit der Promotion nach einem abgeschlossenen Biologiestudium gehört nicht zur Berufsausbildung. Die Klägerin war deshalb während ihres Promotionsstudiums nicht familienversichert.

1. Die Klägerin war in der streitigen Zeit vom 01.10.2009 bis zum Ablauf des Tages vor dem 25. Geburtstag (02.04.2011) nicht familienversichert. Zutreffend hat die Beklagte festgestellt, dass die Familienversicherung der Klägerin zum 30.09.2009 (erfolgreiche Beendigung des Studiums der Biologie an der Universität L.) endete.

Gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB V in der hier maßgeblichen und ab 01.06.2008 geltenden Fassung des Gesetzes zur Förderung von Jugendfreiwilligendiensten (Jugendfreiwilligendienstegesetz – JFDG) vom 16.05.2008 (BGBl. I S. 842) sind die Kinder von Mitgliedern versichert, wenn sie 1. ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, 2. nicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 1, 2, 3 bis 8, 11 oder 12 oder nicht freiwillig versichert sind, 3. nicht versicherungsfrei oder nicht von der Versicherungspflicht befreit sind; dabei bleibt die Versicherungsfreiheit nach § 7 SGB V außer Betracht, 4. nicht hauptberuflich selbstständig erwerbstätig sind und 5. kein Gesamteinkommen haben, das regelmäßig im Monat ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IV) überschreitet; bei Renten wird der Zahlbetrag ohne den auf Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten entfallenden Teil berücksichtigt; für geringfügig Beschäftigte nach § 8 Abs. 1 Nr. 1, § 8 a SGB IV beträgt das zulässige Gesamteinkommen 400,00 EUR.

Nach § 10 Abs. 2 Nr. 3 SGB V sind Kinder bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres familienversichert, wenn sie sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden oder ein freiwilliges soziales Jahr oder ein freiwilliges ökologisches Jahr im Sinne des Jugendfreiwilligendienstegesetzes leisten; wird die Schul- oder Berufsausbildung durch Erfüllung einer gesetzlichen Dienstpflicht des Kindes unterbrochen oder verzögert, besteht die Versicherung auch für einen der Dauer dieses Dienstes entsprechenden Zeitraum über das 25. Lebensjahr hinaus.

a) Zwar sind die Voraussetzungen von § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB V erfüllt, insbesondere auch diejenigen der Nr. 5. Der Begriff Gesamteinkommen wird in § 16 SGB IV definiert (siehe nur Felix in jurisPK-SGB V, § 10 Rn. 41). Durch das Ersetzen der "Einnahmen zum Lebensunterhalt" durch den Begriff des "Gesamteinkommens" im Sinne des § 16 SGB IV wollte der Gesetzgeber bewirken, dass vor allem "der Bezug steuerfreier Sozialleistungen nicht zum Ausscheiden aus der Familienversicherung führen kann" (BT-Drucksache 11/3480 S. 49). Die Bezugnahme auf das Gesamteinkommen gemäß § 16 SGB IV hat freilich zur Konsequenz, dass in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V ausschließlich auf "die Summe der Einkünfte im Sinne des Einkommensteuerrechts" abgestellt werden kann. Dazu gehören nicht die in § 3 Einkommensteuergesetz (EStG) genannten steuerfreien Einnahmen (siehe Fischer in jurisPK-SGB IV, § 16 Rn. 44).

Das Stipendium der Klägerin unterfällt § 3 Nr. 44 EStG.

Danach sind Stipendien steuerfrei, die unmittelbar aus öffentlichen Mitteln oder von zwischenstaatlichen oder überstaatlichen Einrichtungen, denen die Bundesrepublik Deutschland als Mitglied angehört, zur Förderung der Forschung oder zur Förderung der wissenschaftlichen oder künstlerischen Ausbildung oder Fortbildung gewährt werden. Das Gleiche gilt für Stipendien, die zu den in Satz 1 bezeichneten Zwecken von einer Einrichtung, die von einer Körperschaft des öffentlichen Rechts errichtet ist oder verwaltet wird, oder von einer Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 9 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) gegeben werden. Voraussetzung für die Steuerfreiheit ist, dass

a) die Stipendien einen für die Erfüllung der Forschungsaufgaben oder für die Bestreitung des Lebensunterhalts und die Deckung des Ausbildungsbedarfs erforderlichen Betrag nicht übersteigen und nach den von dem Geber erlassenen Richtlinien vergeben werden, b) der Empfänger im Zusammenhang mit dem Stipendium nicht zu einer bestimmten wissenschaftlichen oder künstlerischen Gegenleistung oder zu einer bestimmten Arbeitnehmertätigkeit verpflichtet ist.

Die M.-P.-Gesellschaft ist ein eingetragener gemeinnütziger Verein und daher eine Körperschaft im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 9 Satz 1 (KStG – siehe auch Heinicke in Schmidt, EStG, 30. Auflage, § 3, ABC, Stichwort "Stipendien", Buchstabe d, S. 115).

Die Klägerin hat daher kein Einkommen, das gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V zu berücksichtigen ist.

b) Jedoch sind die Voraussetzungen von § 10 Abs. 2 Nr. 3 SGB V nicht erfüllt. Die Zeit vom 01.10.2009 bis 02.04.2011 liegt zwar vor Vollendung des 25. Lebensjahres der Klägerin. Ab 01.10.2009 befand sie sich aber nicht mehr in Schul- oder Berufsausbildung.

Nach der Rechtsprechung des BSG setzt Berufsausbildung ein echtes Ausbildungsverhältnis voraus, welches planmäßig ausgestaltet ist und sich an einem bestimmten Ausbildungsziel orientiert. Dazu gehört in der Regel, dass sachkundige verantwortliche Ausbilder bestellt sind, die den Auszubildenden anleiten, belehren und ihn mit dem Ziel unterweisen, ihm die für den erstrebten Beruf notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln (BSG, Urteil vom 22.11.1994 – 10 RKg 11/94 – juris Rn. 20). Dabei umfasst eine Berufsausbildung nur den Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten, die für die Ausübung des angestrebten Berufs unverzichtbare Voraussetzung sind (BSG, Urteil vom 25.04.1984 – 10 RKg 2/83 – juris Rn. 16, und BSG, Urteil vom 23.08.1989 – 10 RKg 12/88 – juris Rn. 19). Auch wenn eine Promotion für die Ausübung des angestrebten Berufs nützlich, förderlich oder gar erwünscht sein kann, kann die Vorbereitung auf die Promotion nicht als Berufsausbildung berücksichtigt werden, sofern die Promotion in der maßgeblichen Ausbildungsordnung nicht verlangt ist (BSG Urteil vom 27.09.1994 – 10 RKg 1/93 – juris Rn. 18).

Da eine Promotion eine eigenständige wissenschaftliche Leistung darstellen soll, stellt das Promotionsstudium der Klägerin kein Ausbildungsverhältnis dar. Die Promotion dient vielmehr dem Nachweis der Befähigung zu vertiefter wissenschaftlicher Arbeit (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23.03.1993 – 12 RK 45/92 – juris Rn. 13, und BSG, Urteil vom 22.11.1994 – 10 RKg 11/94 – juris Rn. 23). Die Promotion und ihre Dauer werden weitgehend von der Klägerin selbst bestimmt (vgl. insoweit auch Baier in Krauskopf, SGB V, Stand Juli 2011, § 10 Rn. 51). Letzteres zeigt sich schon an dem Umstand, dass die Bewilligung des Stipendiums mehrmals verlängert wurde. Darüber hinaus genügt der Abschluss eines Biologiestudiums formal für die Ausübung einer entsprechenden Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt.

c) Die Rechtsprechung des BFH zum Tatbestandsmerkmal "für einen Beruf ausgebildet" in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 a EStG (im Hinblick auf Kindergeld in Verbindung mit § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG) steht dem nicht entgegen.

aa) Nach der neueren Rechtsprechung des BFH ist der Begriff "Berufsausbildung" weit auszulegen (zusammenfassend Loschelder in Schmidt, EStG, 30. Auflage, § 32 Rn. 26 m.w.N.). Diese neuere Rechtsprechung des BFH betrifft aber erst die ab 01.01.1996 geltende Rechtslage (BFH, Urteil vom 26.11.2003 – VIII R 30/03 – juris Rn. 29).

Aufgrund der Neuregelung des Familienlastenausgleichs durch das ab 01.01.1996 geltende Jahressteuergesetz 1996 vom 11.10.1995 (BGBl. I S. 1250) hat der Gesetzgeber in § 32 Abs. 4 EStG eine zweistufige Prüfung vorgesehen, die in ihren Grundzügen bis 31.12.2011 galt. Danach war zur Beantwortung der Frage, ob die steuerliche Leistungsfähigkeit der Eltern infolge der an ihr volljähriges Kind zu erbringenden Unterhaltsleistungen gemindert ist, nicht schon im Rahmen der Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG, sondern erst im Rahmen der Ermittlung des Grenzbetrages des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG und damit auf einer nachgelagerten Stufe zu prüfen.

bb) Bis zum 31.12.1995 allerdings gab es in § 32 Abs. 4 EStG insoweit nur eine einstufige Prüfung, die Beachtung eines Grenzbetrages war von Gesetzes wegen nicht vorgesehen. Entsprechend der bis 31.12.1995 geltenden Rechtslage ist deshalb auch der BFH davon ausgegangen, die Formulierung "für einen Beruf ausgebildet" sei eng auszulegen (BFH, Urteil vom 02.07.1993 – III R 79/92 – juris Rn. 13). Das Vorliegen einer Berufsausbildung hat der BFH daher bei einem Kind verneint, das zur Vorbereitung auf ein höher gestecktes Berufsziel einen Beruf ausgeübt hat, der von vielen als Dauerberuf ausgeübt wird oder ausgeübt werden kann. In diesem Fall liege eine vom Gesetz typisierend unterstellte Minderung der Leistungsfähigkeit der Eltern durch das in Berufsausbildung befindliche Kind nicht vor. Es sei nicht gerechtfertigt, Eltern steuerlich zu entlasten, deren Kind ein höher gestecktes Berufsziel anstrebe, während anderen Eltern für ein Kind, das den Beruf unter sonst gleichen Bedingungen ausübe, aber ohne den Wunsch nach weiterer Qualifikation, eine Entlastung versagt werde. Kriterium des BFH war bis zum 31.12.1995 somit, ob die Berufsausbildung des Kindes zu einer Minderung der Leistungsfähigkeit der Eltern führt.

cc) Diese enge Auslegung des Merkmals Berufsausbildung hat der BFH mit Einführung einer zweistufigen Prüfung zum 01.01.1996 aufgegeben (BFH, Urteil vom 26.11.2003 – VIII R 30/03 R – juris Rn. 29, und BFH, Urteil vom 16.04.2002 – VIII R 58/01 – juris Rn. 13 f.). Ab diesem Zeitpunkt bestand aber auch kein Bedürfnis mehr für eine enge Auslegung des Tatbestands (erste Prüfungsstufe). Denn die Beurteilung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern richtete sich mit Einführung des Grenzbetrags nach der zweiten Prüfungsstufe. Der BFH verstand nunmehr unter Berufsausbildung im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 a EStG die Ausbildung zu einem künftigen Beruf (BFH, Urteil vom 26.11.2003 – VIII R 30/03 – juris Rn. 16). Der Vorbereitung auf ein Berufsziel dienten danach alle Maßnahmen, bei denen es sich um den Erwerb von Kenntnissen, Fähigkeiten und Erfahrungen handele, die als Grundlage für die Ausübung des angestrebten Berufs geeignet seien. Hierzu rechne auch die Vorbereitung auf eine Promotion, wenn diese im Anschluss an das Studium ernsthaft und nachhaltig durchgeführt werde, und zwar unabhängig davon, ob die Promotion für den angestrebten Beruf zwingende Voraussetzung sei (BFH, a.a.O. Rn. 17 f.; ebenso schon BFH, Urteil vom 09.06.1999 – VI R 92/98 – juris Rn. 10 f.; siehe ferner – ausdrücklich den Fall eines Stipendiums betreffend, welches zum Überschreiten des Grenzbetrags führte – BFH, Urteil vom 17.02.2004 – VIII R 84/03 – juris Rn. 1 f., 11-13, 21; BFH, Urteil vom 16.03.2004 – VIII R 65/03 – juris Rn. 13-17; BFH, Urteil vom 22.10.2009 – III R 29/08 – juris Rn. 10).

Die Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit der Eltern ist aber auch nach dieser neueren Rechtsprechung des BFH daran geknüpft, dass sie diese ergänzende Ausbildung auch finanzieren (BFH, Urteil vom 09.06.1999 – VI R 92/98 – juris Rn. 11).

dd) Wendet man die neuere Rechtsprechung des BFH auf den Fall der Klägerin an, so ergibt sich Folgendes:

Das Stipendium von 1.100,00 EUR monatlich führt zur Überschreitung des Grenzbetrages.

Gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 a EStG in der bis 31.12.2011 geltenden Fassung wird ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, berücksichtigt, wenn es noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat und für einen Beruf ausgebildet wird. Nach Satz 1 Nr. 2 wird ein Kind nur berücksichtigt, wenn es Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 8.004,00 EUR im Kalenderjahr hat (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG).

Wie unter a ausgeführt, verfügt die Klägerin über keine Einkünfte im Sinne des Einkommensteuerrechts. Sie erhält aufgrund ihres Stipendiums aber Bezüge.

Bezüge sind in der Regel alle Zuflüsse in Geld oder Naturalleistung, die nicht im Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung erfasst werden. Die Bezüge müssen zur Bestreitung des Unterhalts bestimmt oder geeignet sein (Loschelder in Schmidt, EStG, 30. Auflage, § 32 Rn. 54).

Das Studium der Klägerin ist ausweislich der Bewilligungen durch die M.-P.-Gesellschaft zur Bestreitung des Unterhalts bestimmt.

Mit dem Stipendium in Höhe von (12 Monate x 1.100,00 EUR =) 13.200,00 EUR pro Jahr wird der bis 31.12.2011 maßgebliche Grenzbetrag von 8.004,00 EUR im Kalenderjahr überschritten (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der bis 31.12.2011 geltenden Fassung). Das Stipendium beinhaltet keine Bezüge, die für besondere Ausbildungszwecke im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 5 EStG bestimmt sind. Denn darunter sind über die Lebensführung hinausgehende ausbildungsbedingte Mehraufwendungen zu verstehen (Loschelder in Schmidt, EStG, 30. Auflage, § 32 Rn. 58).

Das bedeutet, die weite Auslegung des Begriffs Berufsausbildung durch den BFH führt dazu, dass der Grenzbetrag auf der zweiten Prüfungsstufe eine steuerrechtliche Privilegierung der Eltern der Klägerin ausschließt.

ee) Würde man - wie von der Klägerin gefordert - die weite Auslegung des BFH auch im Rahmen der Anwendung des § 10 SGB V vornehmen, ergäbe sich ein unhaltbares Ergebnis: Während die einkommensteuerrechtliche Privilegierung aufgrund des Grenzbetrags ausgeschlossen wäre, würde die Klägerin durch die Familienversicherung privilegiert. Dies liefe dem vom Gesetzgeber beabsichtigten Gleichlauf zwischen dem Bezug steuerfreier Sozialleistungen und dem Verbleiben in der Familienversicherung zuwider (vgl. BT-Drucksache 11/3480 S. 49).

§ 10 SGB V bezweckt zwar genauso wie § 32 EStG einen Familienlastenausgleich (vgl. Loschelder in Schmidt, EStG, 30. Auflage, § 32 Rn. 3 einerseits, und Just in Becker/Kingreen, SGB V, 2. Auflage, § 10 Rn. 1, sowie Peters in Kasseler Kommentar, SGB V, § 10 Rn. 2, und derselbe, a.a.O., § 3 Rn. 7). Die Maßstäbe müssen aber in unterschiedlichen gesetzlichen Regelungsmaterien zumindest ähnlich bleiben. Wenn ein Stipendium im Einkommensteuerrecht über die zweite Stufe aufgrund von Bezügen zum Wegfall des Kinderfreibetrages führt, darf bei der Familienversicherung nach dem SGB V nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben, dass das Stipendium eine Unterhaltsersatzfunktion hat und insoweit die Notwendigkeit zum Familienlastenausgleich entfällt. § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB V verbietet aber die Berücksichtigung des Stipendiums beim Gesamteinkommen. Nach alledem ist im Hinblick auf die Berufsausbildung im Sinne von § 10 Abs. 2 Nr. 3 SGB V nach wie vor die enge Auslegung des BSG geboten. Nur so ist gewährleistet, dass die Rechtsfolgen im Einkommensteuerrecht und im Sozialversicherungsrecht der Krankenversicherung vergleichbar bleiben. Wenn aufgrund der Bezüge der Klägerin in Höhe von 13.200,00 EUR pro Jahr kein Kinderfreibetrag besteht, so ist auch kein Raum für die Annahme einer Familienversicherung. Allein diese am Gesetzeszweck orientierte (teleologische) Auslegung ist konsistent und wird dem Zweck des § 10 SGB V gerecht. Denn § 10 Abs. 2 Nr. 3 SGB V soll nur diejenigen Kinder in das Sozialversicherungssystem einbinden, die sich für einen Beruf ausbilden lassen und deren Unterhalt aus diesem Grund typischerweise durch die Eltern sichergestellt werden muss (so Gerlach in Hauck/Noftz, SGB V, Stand August 2005, § 10 Rn. 37). Nur in diesem Fall kann von einer Minderung der Leistungsfähigkeit der Eltern ausgegangen werden. Diese Auffassung vertritt – wie bereits dargelegt – auch der BFH (BFH, Urteil vom 09.06.1999 – VI R 92/98 – juris Rn. 11).

ff) Die voneinander abweichende Definition von Berufsausbildung durch das BSG einerseits und den BFH andererseits resultiert aus dem Umstand, dass der BFH unter Hinweis auf eine geänderte Rechtslage eine Abgrenzung zur früheren Rechtsprechung des BSG zum sozialrechtlichen Kindergeld im Bereich des Bundeskindergeldgesetzes vorgenommen hat (BSG, Urteil vom 18.06.2003 – B 4 RA 37/02 R – juris Rn. 31). Mit einer Auslegung des Begriffs "Berufsausbildung" in anderen Gebieten des Sozialrechts hat er sich nicht befasst. Bei der Sache nach unverändert fortbestehenden sozialrechtlichen Vorschriften – wie § 10 SGB V – besteht deshalb kein Anlass, die Rechtsprechung des BFH zu deren Auslegung heranzuziehen (vgl. BSG, a.a.O.; in diesem Sinne auch BFH, Urteil vom 09.06.1999 – VI R 92/98 – juris Rn. 15, und BFH, Urteil vom 16.03.2004 – VIII R 65 /03 – juris Rn. 24).

2. Das Argument der Klägerin, es verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz, wenn ihr die Möglichkeit einer Familienversicherung verschlossen bleibe, während sich ein verheirateter Stipendiat bei sonst gleicher Sachlage über seinen Ehegatten familienversichern könne, verfängt nicht. Denn die Klägerin vergleicht bereits unterschiedliche Sachverhalte. Die Klägerin ist eben gerade nicht verheiratet. Darüber hinaus wäre auch bei einem verheirateten Stipendiaten Voraussetzung, dass überhaupt eine gesetzliche Krankenversicherung des Ehepartners besteht.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

4. Gründe, die Revision zuzulassen, bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG). Insbesondere lassen sich der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BSG ausreichende Anhaltspunkte zur Beantwortung der streitgegenständlichen Rechtsfrage entnehmen, so dass eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht bejaht werden kann.

Klotzbücher Dr. Wahl Dr. Wietek
Rechtskraft
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