L 5 R 3486/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 24 R 7102/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 R 3486/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 20.07.2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die im Jahr 1954 geborene Klägerin ist k. Staatsangehörige. Sie hat keinen Beruf erlernt und zog im November 1968 in das Bundesgebiet. Anschließend war sie nach eigenen Angaben bis Anfang 1981 als Produktionsmitarbeiterin in einer Schuhfabrik und sodann - mit Unterbrechung - bis Ende 2005 als Fließbandarbeiterin sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Seitdem ist sie ohne Beschäftigung. Ihr wurde im August 2007 ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 zuerkannt.

Die Klägerin befand sich in der Zeit vom 17.07.2007 bis zum 21.08.2007 erstmals zu einem stationären psychosomatischen Heilverfahren in der Klinik am S. in Bad N ... Dr. F. vom sozialmedizischen Dienst der B. erstellte am 20.08.2008 ein Gutachten, in dem er eine chronisch anhaltende depressive Verstimmung ohne wesentliche Besserungstendenz diagnostizierte. Die Klägerin sei nur noch in einem Umfang von unter drei Stunden arbeitstäglich leistungsfähig. Die nach der Entlassung aus dem stationären Heilverfahren erwartete Besserung binnen drei bis sechs Monaten sei nicht eingetreten, so dass, auch aufgrund von der Klägerin berichtete Angstzustände, mit einer Leistungsunfähigkeit von mehr als sechs Monaten, aber nicht auf Dauer auszugehen sei.

Am 03.03.2009 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Die Beklagte zog den Entlassbericht der Klinik am S. in Bad N. vom 13.02.2009 über eine erneute stationäre Rehabilitationsmaßnahme der Klägerin in der Zeit vom 31.12.2008 bis 04.02.2009 bei. Darin werden folgende Diagnosen genannt: rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode, Hyperlipidämie, Eisenmangelanämie, chronische Bronchitis sowie chronisches Halswirbelsäulensyndrom. Leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes könne die Klägerin unter gewissen qualitativen Einschränkungen noch über sechs Stunden täglich verrichten. Dies gelte auch für eine Beschäftigung als Fließbandarbeiterin. Die Klägerin wurde arbeitsunfähig aus der Rehabilitationsmaßnahme entlassen.

Mit Bescheid vom 25.03.2009 lehnte die Beklagte den Rentenantrag der Klägerin ab, da auf Grundlage des Entlassberichts vom 13.02.2009 weder volle noch teilweise Erwerbsminderung und auch keine Berufsunfähigkeit vorlägen.

Mit ihrem am 30.03.2009 erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, dass die von der Beklagten zugrunde gelegten Gesundheitsstörungen "alt" seien und ihr aktuelles Beschwerdebild nicht wiedergeben würden. Sie legte der Beklagten zur weiteren Begründung einen Arztbrief des Orthopäden Dr. G. vom 03.04.2009 vor, der als Diagnose eine BWS-Blockierung, eine Fingergelenkpolyarthrose beidseits und eine degenerative Skoliose mitteilte. Ferner legte sie eine "gutachterliche Stellungnahme" des Neurologen und Psychiaters Dr. L. vom 20.04.2009 vor. Dieser führte aus, dass die Klägerin an einer chronifizierten Depression und einer somatoformen Schmerzstörung leide. Ihr Restleistungsvermögen liege bei unter drei Stunden. Der Leistungseinschätzung im Reha-Entlassungsbericht könne nicht gefolgt werden, da dieser auf Unsicherheiten in der Einschätzung beruhe. Die dort empfohlene Behandlung in einer Tagesklink und anschließende Psychotherapie zeige, dass die Klägerin doch als erheblich krank eingeschätzt worden sei. Eine Psychotherapie komme bei ihr im Übrigen wegen mangelhafter Introspektionsfähigkeit gar nicht in Betracht.

Mit Widerspruchsbescheid vom 13.10.2009 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Unter Berücksichtigung sämtlicher vorhandener medizinischer Unterlagen liege volle bzw. teilweise Erwerbsminderung nicht vor. Berufsschutz genieße die Klägerin nicht. Als ungelernte Arbeiterin könne sie vielmehr sozial und medizinisch zumutbar auf sämtliche ungelernte Tätigkeiten verwiesen werden.

Hiergegen erhob die Klägerin am 23.10.2009 Klage vor dem Sozialgericht Stuttgart (SG), die sie im Wesentlichen damit begründete, dass sie an multiplen Gesundheitsstörungen leide. Sie habe ganztags zunehmend Schmerzen und könne nur noch im Wechselrhythmus gehen, sitzen und liegen. Eine Tätigkeit von drei Stunden oder mehr komme nicht mehr in Betracht. Ihre psychiatrischen Störungen seien erheblich und führten zu einem sozialen Rückzug aus dem gesellschaftlichen Bereich. Außerdem bestehe bei ihr auch ein Tinnitus.

Das SG erhob zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhaltes Beweis durch schriftliche Vernehmung der behandelnden Ärzte der Klägerin als sachverständige Zeugen.

Die Internistin und Fachärztin für Lungen- und Bronchialheilkunde Dr. T. teilte in ihrer Auskunft vom 24.11.2009 mit, die Klägerin leide an Asthma bronchiale. Die Lungenfunktion sei normal, das maßgebliche Leiden liege auf nervenärztlichem Fachgebiet. Mit der Leistungsbeurteilung im Reha-Entlassbericht vom 13.02.2009 stimme sie überein.

Der Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr. O. nannte in seiner Auskunft vom 24.11.2009 folgende Diagnosen: Verdacht auf Innenohrschwerhörigkeit beidseits, Dysphagie sowie Dysphonie. Das maßgebliche Leiden der Klägerin liege auf neuropsychiatrischem bzw. orthopädischem Fachgebiet. Mit Schreiben vom 24.11.2009 übersandte Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr. O. dem Gericht ferner ein Tonaudiogramm, bestätigte die Diagnose einer Innenohrschwerhörigkeit beidseits und teilte mit, dass bei der Klägerin in allen Frequenzen ein nahezu identischer Hörverlust beidseits für ca. 40 dB bestehe. Mit dem Reha-Entlassbericht bestehe keine Übereinstimmung, da der HNO-Bereich nicht berücksichtigt worden sei. Eine Leistungsbeurteilung könne auf HNO-ärztlichem Gebiet nicht erfolgen. Es bestehe keine Arbeitsunfähigkeit.

Der behandelnde Neurologe und Psychiater Dr. L. gab in seiner Stellungnahme vom 09.12.2009 an, bei der Klägerin bestehe eine chronifizierte Depression mit diffusen Schmerzsymptomen. Hinzukämen inzwischen auch Erkrankungen des Knochengerüsts. Das noch mögliche Arbeitsvolumen liege deutlich unter drei Stunden. Eine sechsstündige Tätigkeit täglich als Fließbandarbeiterin komme nicht mehr in Betracht.

Orthopäde Dr. G. berichtete in seiner Auskunft vom 09.12.2009 über eine Spondylose bei der Klägerin im Bereich der Halswirbelsäule sowie über eine Spondylarthrose im Bereich der Brust- bzw. Lendenwirbelsäule. Mit der Leistungsbeurteilung im Reha-Entlassbericht vom 13.02.2009 stimme er überein. Im einzelnen beschriebene qualitative Leistungseinschränkungen seien zu beachten.

Der praktische Arzt Dr. T. verwies in seiner Auskunft vom 19.01.2010 im Wesentlichen auf die behandelnden Fachärzte der Klägerin.

Das SG holte das nervenärztliche Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. P. vom 04.05.2010 ein, der die Klägerin am 29.04.2010 untersuchte. Er diagnostizierte bei der Klägerin eine depressive Anpassungsstörung bei erheblicher narzisstischer Kränkung infolge ihres Arbeitsplatzverlustes Ende 2005 sowie Somatisierungsstörungen - somatoforme Schmerzstörung. Leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes seien ihr unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen aufgrund der orthopädischen Gesundheitsbeschwerden noch vollschichtig möglich.

Mit Gerichtsbescheid vom 20.07.2010 wies das Sozialgericht die Klage ab.

Die Klägerin sei weder voll noch teilweise erwerbsgemindert. Gestützt auf das Gutachten von Dr. P. vom 04.05.2010 stellte das Gericht fest, dass die Klägerin noch in der Lage sei, leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Berücksichtigung qualitativer Einschränkungen mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Die Klägerin leide an Beschwerden auf psychiatrischem und orthopädischem Fachgebiet. In psychiatrischer Hinsicht bestünden eine depressive Anpassungsstörung und eine Somatisierungsstörung. Die entsprechenden Feststellungen von Dr. P. seien nachvollziehbar und schlüssig. Der neurologische Befund sei unauffällig gewesen und habe keine Anomalien, insbesondere keine Hinweise auf eine manifeste zentrale, radikuläre oder sonstige peripher-neurogene Störung ergeben. Auch die von der Klägerin gegenüber Dr. P. geschilderten Alltagsumstände sprächen gegen eine schwerwiegende, manifeste seelische Erkrankung. Danach halte die Klägerin guten Kontakt zu ihren erwachsenen Kindern, habe einen Freundeskreis, gehe mit Freundinnen spazieren, erhalte oft Einladungen, erledige ihren Haushalt und besuche oft und regelmäßig die Kirche. Auch im Entlassbericht der Klinik am S. in Bad N. vom 13.02.2009 sei bei der Klägerin lediglich eine leichte depressive Störung festgestellt worden. Soweit der Neurologe und Psychiater Dr. L. in seiner Auskunft vom 20.04.2009 von einer schwerwiegenden seelischen Störung bei der Klägerin ausgehe, sei dies nicht nachvollziehbar. Die von der Klägerin gegenüber Dr. P. am 29.04.2010 geschilderten Alltagsumstände sprächen gegen die von Dr. L. angegebenen sozialen Rückzugstendenzen. Dem Gutachten des Dr. P. vom 04.05.2010 sei zudem zu entnehmen, dass die Klägerin Dr. L. nur einmal im Quartal konsultiere, dass sie nur ein niedrig dosiertes Antidepressivum einnehme und dass sie sich auch keiner ambulanten Psychotherapie unterziehe. Darüber hinaus leide die Klägerin auf orthopädischem Fachgebiet an einem Halswirbelsäulen-syndrom sowie an einer (beginnenden) Spondylarthrose im Bereich der Brust- bzw. Lendenwir-belsäule. Dies ergebe sich aus der Auskunft des Orthopäden Dr. G. vom 09.12.2009. Auch im Reha-Entlassbericht vom 13.02.2009 werde von Halswirbelsäulenbeschwerden berichtet. Schwerwiegende orthopädische Schädigungen seien bei der Klägerin nicht zu erkennen, zumal im vorliegenden Zusammenhang auch nicht Diagnosen, sondern Funktionsbeeinträchtigungen anhand objektiv- klinischer Befunde maßgeblich seien. Außerhalb des psychiatrischen und orthopädischen Fachgebiets leide die Klägerin noch an einem Asthma bronchiale bei normaler Lungenfunktion. Ob bei der Klägerin darüber hinaus auch noch eine Hyperlipidämie, eine Eisenmangelanämie, eine Schluckstörung, eine Stimmstörung bzw. eine Innenohrschwerhörigkeit bestehen, könne auf sich beruhen. Insoweit sei für das Gericht schon nicht ersichtlich, dass diese Gesundheitsstörungen bei der Klägerin zu einer signifikanten Funktionsbeeinträchtigung bzw. zu einer quantitativen Leistungseinschränkung führten. Bezüglich der Innenohrschwerhörigkeit sei die Klägerin auf eine vorrangige Versorgung mit Hörhilfen zu verweisen. Für die von der Klägerin behauptete Tinnituserkrankung fehle jeglicher objektiver Anhaltspunkt. Auf Grund der hier festgestellten Gesundheitsstörungen sei die Klägerin nicht mehr in der Lage, schwere und mittelschwere körperliche Arbeiten zu verrichten. Zu vermeiden seien Tätigkeiten in Nacht- und Wechselschicht, Akkord- und Fließbandarbeiten sowie Tätigkeiten mit erhöhten Anforderungen an das Konzentrations-, Reaktions-, Umstellungs- oder Anpassungsvermögen. Das Heben und Tragen von Lasten über fünfzehn Kilogramm und Zwangshaltungen seien ebenfalls nicht mehr leidensgerecht. Die Klägerin könne nach Überzeugung des Gerichts nur noch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen unter Beachtung der genannten qualitativen Leistungseinschränkungen verrichten. Derartige Tätigkeiten könne sie jedoch nach Überzeugung des Gerichts trotz der aufgeführten qualitativen Leistungseinschränkungen mindestens sechs Stunden täglich ausüben. Soweit Dr. L. in seiner Auskunft vom 09.12.2009 von einem erloschenen Leistungsvermögen ausgehe, überzeuge dies bereits deshalb nicht, weil er Gesundheitsstörungen bei der Klägerin zugrunde lege, die nach Überzeugung des Gerichts nicht vorliegen würden. Berufsunfähigkeit liege nicht vor, da die Klägerin als ungelernte Arbeiterin sowohl medizinisch als auch sozial zumutbar auf sämtliche ungelernte leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden könne. Ebenso liege keine nur eine Teilzeit erlaubende Erwerbsminderung oder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen bzw. eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vor, so dass sich auch kein ausnahmsweiser Rentenanspruch ergeben würde. Insbesondere sei weder die Wegefähigkeit eingeschränkt noch bestehe ein Erfordernis besonderer unüblicher Arbeitsbedingungen.

Gegen den ihrem Prozessbevollmächtigten am 23.07.2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 26.07.2010 Berufung eingelegt. Sie wiederholt im Wesentlichen ihr Vorbringen aus dem erstinstanzlichen Verfahren und legt eine erneute "Gutachterliche Stellungnahme" des Neurologen und Psychiaters Dr. L. vom 22.09.2010 vor. Dieser führt aus, dass ihm das Gutachten von Dr. P. zwar nicht vorliege, dieser seine Diagnose aber bestätige. Mit der Diagnose einer depressiven Anpassungsstörung sei offenbar nichts anderes als eine chronifizierte Depression gemeint. Dr. P. verneine in seinem Gutachten das Vorliegen sozialer Rückzugstendenzen. Da er die Klägerin aber über Jahre hinweg betreue, könne er den Krankheitsverlauf intensiv beobachten. Nicht nur soziale Rückzugstendenzen, sondern ein ausgeprägter sozialer Rückzug mit Meidung von so gut wie allen sozialen Kontakten bestimme den Alltag der Klägerin nachhaltig. Außerdem sehe er diese nicht nur einmal, sondern meistens zwei bis drei Mal im Quartal. Der Klägerin könne nicht entgegen gehalten werden, dass sie sich keiner ambulanten Psychotherapie unterziehe. Ihr fehlten die dafür erforderlichen Deutschkenntnisse und ein Mindestmaß an Empathie. Die Behandlung müsse sich deshalb neben der Versorgung mit Medikamenten auf das normale psychiatrisch-ärztliche Gespräch beschränken. Das Gutachten von Dr. P. werde der Krankheit der Klägerin und der hieraus sich ergebenden Leistungsunfähigkeit nicht gerecht. Es sei doch offensichtlich, dass der behandelnde Arzt, der die Patientin über Jahre hin beobachte, trotz aller fürsorglichen Einstellung sich durchaus so viel Objektivität vorbehalte, die Echtheit der Erkrankung und die Leistungsfähigkeit seiner Patientin sicher und vorbehaltlos beurteilen zu können.

Die Klägerin beantragt - sachdienlich gefasst -, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 20.07.2010 und den Bescheid der Beklagten vom 25.03.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.10.2009 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab dem 01.03.2009 Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angegriffene Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz - SGG - hat der Senat das nervenfachärztlich-psychiatrische Gutachten von Dr. R. vom 06.10.2010 erhoben. Dieser hat bei der Untersuchung der Klägerin am 05.10.2010 folgende Diagnosen erhoben:

1. Erschöpfungsdepression. 2. Astroide Bronchitis 3. Fingergelenksarthrose 4. Belastungsstörung nach Ehekonflikt, Trennung und bevorstehender Scheidung. 5. Reaktive Depression nach Kränkung durch Kündigung 2007.

Es handele sich um depressive und somatoform verstärke psychische Störungen im Zusammenhang mit Lebensereignissen bzw. anlagenbedingten Fehlhaltungen oder Bereitschaften auf schwerwiegende Ereignisse zu reagieren. Eine Vortäuschung (Simulation, Aggravation) liege nicht vor. Der Klägerin sei allenfalls eine Tätigkeit von drei bis vier Stunden zuzumuten. Eine Tätigkeit von über sechs Stunden sei ihr auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zumutbar. Durch die Gewährung einer Rente könne die Klägerin eine Chance erhalten, um ihre Probleme intensiv zu verarbeiten und diese ebenfalls zu überwinden, indem sie einer Psychotherapie, am besten sogar in der Muttersprache, zugeführt werde. Auch im Rahmen einer Zeitrente sei diese Möglichkeit gegeben. Das Gutachten von Dr. P. erscheine abwertend, am ehesten komme der erste Bericht der Klinik Bad N. und der Bericht von Dr. F. von der Bundesagentur für Arbeit der Realität am nächsten.

Der Senat hat sodann Dr. H. von Amts wegen mit der Erstellung eines nervenärztlichen Gutachtens beauftragt. In seinem Gutachten vom 28.02.2011 stellt Dr. H. auf neurologischem Fachgebiet Kopfschmerzen und Beschwerden, die auf ein Restless-Leg-Syndrom hindeuteten, fest, denen aber keine leistungsmindernde Bedeutung zukomme. Auf psychiatrischem Gebiet diagnostizierte er eine leichte depressive Episode, ein phasenhafter Verlauf im Sinne einer rezidivierenden Episode habe sich nicht herausarbeiten lassen. Die Kriterien für das Vorliegen einer somatoformen Störung seien eindeutig nicht erfüllt worden. Trotz der beklagten Ängste seien die Kriterien einer eigenständigen Angsterkrankung ebenfalls nicht erfüllt worden. Im Hinblick auf die Leistungsbeurteilung würde sich aber auch keine Änderung ergeben, wenn man diagnostisch zusätzlich vom Vorliegen einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung oder auch einer Angsterkrankung ausginge. Die vorliegende Erkrankung bedinge qualitative Leistungseinschränkungen. So müsse eine Überforderung durch Akkordarbeit, Nachtarbeit oder durch Arbeiten unter besonderem Zeitdruck vermieden werden. Dies gelte gleichermaßen für besonders hohe Ansprüche an Auffassung und Konzentration sowie für eine besonders hohe Verantwortung und eine besonders hohe geistige Beanspruchung. Tätigkeiten mit einer das normale Maß deutlich übersteigenden Verantwortung oder mit einer das normale Maß deutlich übersteigenden geistigen Beanspruchung könne die Klägerin aufgrund bei ihr vorliegenden Erkrankung nicht verrichten. Bei Berücksichtigung dieser qualitativen Leistungseinschränkungen sei die Klägerin noch in der Lage, ohne eine unmittelbare Gefährdung der Gesundheit leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sechs Stunden und mehr an fünf Tagen in der Woche auszuüben. Von dem Gutachten des Dr. P. bestehe zwar in diagnostischer Hinsicht eine gewisse Abweichung, da die Diagnose einer Anpassungsstörung schon alleine aufgrund des zeitlichen Verlaufs (deutlich länger als zwei Jahre) nicht statthaft sei. Außerdem seien die Kriterien für das Vorliegen einer somatoformen Schmerzstörung nicht erfüllt. Im Hinblick auf die Leistungsbeurteilung bestehe gegenüber der Einschätzung von Dr. P. jedoch keine wesentliche Abweichung. Die von Dr. L. getroffene Leistungsbeurteilung lasse sich auf dem Boden des jetzt erhobenen Befundes nicht nachvollziehen. Gleiches gelte für die Leistungseinschätzung von Dr. R ... Es sei vom Vorliegen eines vollschichtigen Leistungsvermögens mit gewissen qualitativen Leistungseinschränkungen auszugehen. Dr. H. hat insbesondere darauf hingewiesen, dass sich keine Störung der Auffassung, der Konzentration oder des Durchhaltevermögens gezeigt hätten. Dr. R. habe nicht schlüssig begründet, warum eine drei- bis vierstündige tägliche Leistungsfähigkeit gegeben sein solle, nicht jedoch eine sechsstündige tägliche Leistungsfähigkeit. Der äußerst knapp und wenig prägnant beschriebene psychische Befund stütze die von Dr. R. getroffene Leistungsbeurteilung nicht.

Mit Schreiben vom 14.03.2011 und vom 28.03.2011 haben die Beteiligten einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Akten der Beklagten des Sozialgerichts und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist gemäß §§ 143, 144, 151 SGG statthaft und auch sonst zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, der Klägerin Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren. Sie hat darauf keinen Anspruch.

Gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI).

Versicherte haben gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein ( 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI).

Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Der Senat ist auch nach den Ermittlungen im Berufungsverfahren zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin nach den oben genannten Maßstäben nicht erwerbsgemindert ist.

Im Vordergrund stehen vor allem die Erkrankungen der Klägerin auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet. Der Senat folgt hierzu den Feststellungen des Gutachters Dr. H., der eine depressive Erkrankung mit dem Grad einer leichten depressiven Episode diagnostiziert hat. Dies ist für den Senat nachvollziehbar anhand der von der Klägerin hierzu beschriebenen Beschwerden. Sie hat bei Dr. H. angegeben, eine stressige Arbeit gehabt zu haben, die Depression sei aber erst nach der Kündigung gekommen und seitdem immer da. Es sei mal ausgeprägter und mal weniger ausgeprägt. Sie müsse oft weinen und esse aus Frust Schokolade. Einen sozialen Rückzug hat Dr. H. nicht feststellen könne. Darin stimmt er auch mit dem Vorgutachter Dr. P. überein. Beide Gutachter haben die Klägerin zu ihren Sozialkontakten befragt. Die Klägerin hat jeweils über gute Kontakte zu ihren Kindern und zu Freundinnen berichtet, die sie besuchen würden. Den von Dr. L. in seiner Stellungnahme vom 22.09.2010 beschriebenen ausgeprägten sozialen Rückzug mit Meidung so gut wie aller sozialer Kontakte vermag der Senat vor dem Hintergrund der Angaben der Klägerin bei Dr. P. und Dr. H. nicht zu erkennen. Beide Gutachter kommen zu der übereinstimmenden Leistungseinschätzung, dass der Klägerin leichte Tätigkeiten in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden und mehr zumutbar sind. Dies hält der Senat vor dem Hintergrund der von Dr. H. benannten leichten depressiven Episode auch für schlüssig. Dr. P. hat zusätzlich zwar auch eine somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert, Dr. H. hat aber in seinem Gutachten ausdrücklich klargestellt, dass selbst bei der Annahme einer somatoformen Schmerzstörung, deren Kriterien er zwar nicht als erfüllt ansieht - die Klägerin hat bei Dr. H. keine Schmerzen angegeben -, sich an der Leistungseinschätzung der Klägerin nichts ändern würde. Er hat diese Einschätzung sogar unter Berücksichtigung der Annahme einer Angststörung aufgrund der von der Klägerin geschilderten Ängste bestätigt, auch wenn er die eigentlichen Kriterien einer Angststörung nicht als erfüllt ansieht. Dass Dr. H. hinsichtlich der Diagnose einer Anpassungsstörung von Dr. P. abweicht, ist letztlich für die Leistungsbewertung nicht relevant. Allerdings hält der Senat die Erläuterung von Dr. H., dass eine Anpassungsstörung aufgrund des langen Zeitraums seit der Kündigung im Jahr 2005 nicht mehr angenommen werden kann, für einleuchtend. Dass die Klägerin dieses Ereignis durchaus nachvollziehbar als große Kränkung erlebt hat und dass dies der Auslöser ihrer depressiven Beschwerden war, steht dem nicht entgegen.

Gegen eine psychische Erkrankung von quantitativ leistungsminderndem Ausmaß spricht auch die geringe Intensität der von der Klägerin durchgeführten Behandlungsmaßnahmen. Diese beschränken sich im Wesentlichen auf eine medikamentöse Behandlung und auf die regelmäßigen Besuche beim behandelnden Psychiater, allerdings in nicht sehr hoher Frequenz. So berichtet die Klägerin zuletzt bei Dr. H., ihren Nervenarzt mindestens zweimal im Quartal aufzusuchen, bei Dr. P. hatte sie Besuche einmal im Quartal angegeben. Selbst wenn man die Angaben bei Dr. H. zugrundelegt, die Dr. L. in seiner Stellungnahme vom 22.09.2010 mit seiner Aussage bestätigt, dass die Klägerin zwei bis dreimal pro Quartal in seiner nervenärztlichen Behandlung sei, so ist darin keinesfalls eine Intensivbehandlung, von der Dr. L. ausgeht, zu sehen, sondern vielmehr eine nur mäßig frequente Behandlung, die nicht für einen besonderen Leidensdruck der Klägerin spricht. Die Notwendigkeit einer psychotherapeutischen Behandlung, die der Klägerin bereits im Anschluss an den zweiten Reha-Aufenthalt in Bad N. empfohlen worden war und die auch Dr. R. für erforderlich hält, hat sie für sich selbst offenbar nicht gesehen. Darauf hat auch Dr. P. abgestellt und - insoweit übereinstimmend mit Dr. H. - das Vorliegen einer schwerwiegenden depressiven Erkrankung verneint. Wenn Dr. L. hierzu wiederholt ausführt, er halte eine solche Therapie bei der Klägerin nicht für zweckmäßig, weil ihr die dafür erforderlichen Deutschkenntnisse und die notwendige Introspektionsfähigkeit fehlten, so schließt sich der Senat den von Dr. B. von beratungsärztlichen Dienst der Beklagten in einer Stellungnahme vom 01.03.2010 geäußerten Bedenken an. Dieser hat beanstandet, dass angesichts der am Wohnort St. der Klägerin greifbaren therapeutischen Möglichkeiten vom behandelnden Arzt eine entsprechende therapeutische Behandlung der Klägerin nicht in die Wege geleitet worden sei, obwohl eine solche nach der Einschätzung der behandelnden Ärzte und Therapeuten in der wiederholten mehrwöchigen Reha-Maßnahme in Bad N. für erfolgversprechend erachtet worden sei. Wenn Dr. B. vor diesem Hintergrund von einem "Vorenthalten" einer adäquat zumutbaren Therapie spricht, so erscheint diese Bewertung nicht ganz fernliegend. Es verwundert umso mehr, dass sich Dr. L. weniger für eine solche Behandlung der Klägerin, stattdessen aber mit erheblicher Vehemenz für die Durchsetzung ihres vermeintlich begründeten Rentenbegehrens einsetzt, wenn er in seiner Stellungnahme vom 22.09.2010 ausführt, er unterstütze vorbehaltlos und mit allem Nachdruck den Kampf der Klägerin um die Anerkennung ihrer Erwerbsunfähigkeit.

Die Klägerin kann sich auch nicht mit Erfolg auf die Leistungseinschätzung von Dr. R. berufen, der in seinem Gutachten vom 06.10.2010 die zumutbare tägliche Tätigkeit auf drei bis vier Stunden beschränkt gesehen hatte. Dr. H. hat insoweit zu Recht beanstandet, dass sich aus dem Gutachten von Dr. R. nicht nachvollziehbar ergebe, warum der Klägerin dann nicht auch eine Tätigkeit von sechs Stunden zugemutet werden könne. Es fehlt dem Gutachten von Dr. R. schon an einem umfassend erhobenen psychischen Befund, der seine Leistungseinschätzung untermauern könnte. Die von ihm beschriebene chronifizierte Depression ist als solche nicht in Frage zu stellen, er enthält sich aber der näheren Einordnung hinsichtlich eines konkreten Schweregrades. Vielmehr spricht er bei der Beantwortung der Beweisfragen lediglich von depressiven Verstimmungen im Sinne einer Erschöpfungsdepression. Dass es sich dabei um eine psychische Erkrankung von einer so maßgeblichen Intensität handelt, dass daraus eine zeitliche Leistungseinschränkung zu folgern wäre, vermag der Senat nicht zu erkennen. Dem insoweit unschlüssigen Gutachten von Dr. R. kann daher nicht gefolgt werden. Wenn Dr. R. schließlich auf die Leistungseinschätzung im Entlassbericht der Klinik Bad N. von 2007 verweist, so enthält dieser Bericht eine positive Leistungsprognose nach durchgeführter Psychotherapie und ist im Übrigen durch den Bericht über die nachfolgende Reha-Maßnahme überholt. Letzteres gilt auch für das von Dr. R. herausgestellte Gutachten des Sozialmediziners Dr. F. für die B. vom 20.08.2008, welches ebenfalls vor dem zweiten Rehabilitationsaufenthalt in Bad N. Anfang 2009 erstellt wurde.

Leistungsmindernde Erkrankungen von rentenrelevanter Bedeutung auf orthopädischen Fachgebiet liegen bei der Klägerin ebenso wenig vor wie auf HNO-ärztlichem oder lungenfachärztlichem Fachgebiet. Hierzu geben schon die vom Sozialgericht eingeholten Aussagen der behandelnden Ärzte keinen Anhaltspunkt. Der behandelnde Orthopäde Dr. G. hatte sich in seiner Stellungnahme vom 09.12.2009 ausdrücklich der Leistungseinschätzung des Reha-Berichts vom 13.02.2009 angeschlossen, der keine zeitliche Einschränkung der Leistungsfähigkeit der Klägerin beinhaltet hatte. Der HNO-Arzt Dr. O. hatte gegenüber dem Sozialgericht wiederholt mitgeteilt, dass "die Leistungsbeurteilung nicht im HNO-Bereich" liege. Die von ihm mitgeteilte Innenohrschwerhörigkeit beidseits gibt keinen Anhaltspunkt für eine Funktionsbeeinträchtigung mit Auswirkung auf das zeitliche Leistungsvermögen. Störungen des sozialen Gehörs wurden von keinem Sachverständigen beobachtet. Das Sozialgericht hat insoweit zu Recht auf die Möglichkeit des Ausgleichs mit apparativer Korrektur hingewiesen. Die Lungenfachärztin Dr. T. hatte ebenfalls der Leistungseinschätzung im Entlassbericht vom 13.02.2009 zugestimmt und einen normalen Lungenbefund mitgeteilt. Wie auch das Sozialgericht sieht der Senat keine Anhaltspunkte für weitere medizinische Sachaufklärung.

Die Klägerin genießt als ungelernte Arbeiterin keinen Berufsschutz, so dass ein Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente schon deshalb nicht in Betracht kommt. Sie muss sich auf alle ungelernten leichten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisen lassen.

Ihre Berufung bleibt daher ohne Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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