L 2 P 17/12

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 P 49/10
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 17/12
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Fehlen der Voraussetzungen der Pflegestufe I
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 23. Februar 2012 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.



Gründe:


I.
Der 1956 geborene Kläger und Berufungskläger begehrt die Gewährung von Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I.

Der Kläger beantragte am 4. November 2009 die Gewährung von Pflegegeld. Die Beklagte und Berufungsbeklagte holte ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 11. Dezember 2009, erstellt nach Hausbesuch, ein. Als pflegebegründende Diagnose stellte der Gutachter eine Quetschung der Wirbelkörper C6/C7 infolge eines Schädelhirntraumas vom April 2007, eine leichte Geh- und Stehbehinderung sowie als weitere Diagnose eine Bewegungseinschränkung der linken oberen Extremität fest. Den täglichen Hilfebedarf schätzte er im Bereich der Grundpflege auf 13 Minuten (Körperpflege 6 Minuten, Mobilität 7 Minuten), im Bereich der Hauswirtschaft auf 43 Minuten. Im Vordergrund stehe die hauswirtschaftliche Versorgung. Mit Bescheid vom 12. Januar 2010 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Den Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 26. August 2010 nach Einholung einer Stellungnahme des MDK nach Aktenlage vom 12. Mai 2010 zurück.

Einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 31. August 2010 hat das Sozialgericht Augsburg (Az.: S 10 P 48/10 ER) mit Beschluss vom 10. September 2010 abgelehnt. Die hiergegen gerichtete Beschwerde hat der Senat mit Beschluss vom 17. November 2010 zurückgewiesen (Az.: L 2 P 79/10 B ER).

Im Klageverfahren hat der Kläger ein Pflegetagebuch für die Zeit vom 16. bis 23. Januar 2011 vorgelegt. Das Sozialgericht hat die Schwerbehindertenakten beigezogen, die u.a. einen Befundbericht des behandelnden Orthopäden Dr. M. vom 25. Oktober 2010 und ein Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. M. vom 17. Februar 2011 enthalten haben, und den Arzt für Innere Medizin Dr. H. mit der Erstellung eines Gutachtens nach Hausbesuch beauftragt. Dieser hat in dem Gutachten vom 10. Juli 2011 chronische Schmerzen (Kopfschmerzen, Schmerzen am Bewegungssystem) sowie eine Depression bei leicht kränkbarer Persönlichkeit beschrieben. Es bestehe weder bei der Körperpflege noch im Bereich der Ernährung oder der Mobilität ein mit hinreichender Regelmäßigkeit auftretender Hilfebedarf. Die geleistete Hilfe erfolge sporadisch und im Rahmen ausgeprägter seelischer Tiefpunkte. Es falle auch keine im Rahmen der Pflegeversicherung anrechenbare Hilfe beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung an, da die Fahrten zu Ärzten oder Therapeuten weit weniger als einmal pro Woche stattfänden. Die Bemessung des zeitlichen Hilfebedarfs für die Grundpflege von 13 Minuten durch den MDK sei als sehr großzügig einzustufen. Der zeitliche Hilfebedarf für die hauswirtschaftliche Versorgung betrage deutlich unter 30 Minuten täglich.

Das Sozialgericht hat Ermittlungen bei den behandelnden Ärzten über die Häufigkeit des Praxisbesuchs ab November 2009 eingeholt. Mit Urteil vom 23. Februar 2012 hat es die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen des Vorliegens der Pflegestufe I seien von der Beklagten zutreffend abgelehnt worden. Dies ergebe sich aus den im Ergebnis übereinstimmenden Gutachten des MDK und des Dr. H ... Die Tatsache, dass der Kläger in Phasen ausgeprägter seelischer Tiefs einen größeren Pflegebedarf habe, könne nicht berücksichtigt werden, da bei der Feststellung des zeitlichen Pflegebedarfs nur Verrichtungen berücksichtigt werden können, die regelmäßig mindestens einmal wöchentlich anfallen. Nach den Ermittlungen der Kammer treffe dies auch nicht für das Aufsuchen eines Arztes oder Therapeuten zu. Die Behandlungen seien immer wieder durch mehrwöchige Zeiträume unterbrochen. Aber selbst bei Berücksichtigung der Zeiten für Fahrten zur Physiotherapie ergebe sich nur ein zeitlicher Bedarf von sechs Minuten täglich, so dass der Grundpflegebedarf weiterhin deutlich unter den erforderlichen 46 Minuten liege.

Zur Begründung der hiergegen gerichteten Berufung hat der Kläger auf seine chronische Erkrankung bzw. massiven Schmerzen und Beschwerden hingewiesen. Er werde als Kranker und Schwerbehinderter diskriminiert und menschenunwürdig behandelt.

Zu einem vom Kläger vorgebrachten Unfall vom 4. Januar 2012 hat die Beklagte dargelegt, dass der Kläger nur von Schmerzen und allgemeinen Beschwerden berichtet. Ein zusätzlicher Hilfebedarf auf Dauer sei nicht eingetreten. Der Senat hat einen Entlassungsbericht der vom 14. Februar 2012 über einen stationären Aufenthalt des Klägers vom 4. bis 12. Januar 2012 eingeholt, bei dem ein Zustand nach Sturz und Commotio cerebri diagnostiziert worden war. Er wurde in "gut gebessertem Allgemeinzustand" in die weitere fachärztliche Betreuung entlassen.

Einen erneuten Antrag vom 7. März 2012 auf Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz (Az.: L 2 P 16/12 ER) hat der Senat mit Beschluss vom 19. April 2012 abgelehnt.

Das Gericht hat die Beteiligten mit Schreiben vom 26. Oktober 2012 zu der beabsichtigten Entscheidung im Beschlussverfahren gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angehört. Der Kläger hat gebeten, seiner Klage zu entsprechen, da es ihm gesundheitlich zusehends schlechter gehe. Die Beklagte hat der Entscheidung durch Beschluss zugestimmt.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 23. Februar 2012 und den Bescheid der Beklagten vom 12. Januar 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. August 2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab Antragstellung Pflegegeld nach der Pflegestufe I zu gewähren.

Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 16. April 2012,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf die Akte der Beklagten, die Gerichtsakten des Sozialgerichts sowie des Landessozialgerichts sowie auf die Klage- und Berufungsakte verwiesen.

II.
Die Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 151 SGG), aber unbegründet. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Gewährung von Leistungen der Pflegestufe I zu.

Der Senat hält die Berufung einstimmig nicht für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Er wies die Beteiligten auf diese Auffassung hin. Der Senat konnte daher durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 SGG entscheiden. Ein Einverständnis der Beteiligten ist hierfür nicht erforderlich.

Pflegebedürftige können nach § 37 Abs. 1 S. 1 bis 3 des Elften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB XI) Pflegegeld erhalten, wenn sie die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung durch eine Pflegeperson (§ 19 S. 1 SGB XI) in geeigneter Weise sowie dem Umfang des Pflegegeldes entsprechend selbst sicherstellen und mindestens die Pflegestufe I vorliegt.

Maßgebend für die Feststellung von Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den einzelnen Pflegestufen ist der Umfang des Pflegebedarfs bei denjenigen gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, die in § 14 Abs. 4 SGB XI aufgeführt und dort in die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität (Nrn. 1 bis 3), die zur Grundpflege gehören, sowie den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung (Nr. 4) aufgeteilt sind. Der in diesen Bestimmungen aufgeführte Katalog der Verrichtungen stellt, nach Ergänzung um die im Gesetz offenbar versehentlich nicht ausdrücklich genannten Verrichtungen Sitzen und Liegen (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 14), eine abschließende Regelung dar (BSGE 82, 27), die sich am üblichen Tagesablauf eines gesunden bzw. nicht behinderten Menschen orientiert (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr. 3).

Nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI muss zur Erlangung der Pflegestufe I der Zeitaufwand für die erforderlichen Hilfeleistungen der Grundpflege täglich mehr als 45 Minuten (Grundpflegebedarf), für solche der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung zusammen mindestens 90 Minuten (Gesamtpflegebedarf) betragen. Unter Grundpflege ist die Hilfe bei gewöhnlichen und wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nrn. 1 bis 3 SGB XI), unter hauswirtschaftlicher Versorgung die Hilfe bei der Nahrungsbesorgung und -zubereitung, bei der Kleidungspflege sowie bei der Wohnungsreinigung und -beheizung (§ 14 Abs. 4 Nr. 4 SGB XI) zu verstehen.

Zur Grundpflege zählen:
1. im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung;
2. im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung;
3. im Bereich der Mobilität das selbstständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung.

Neben chronischen Kopfschmerzen und Schmerzen am Bewegungssystem, bedingt vor allem durch eine Quetschung C6/C7 infolge eines Schädelhirntraumas vom April 2007, und einer leichten Geh- und Stehbehinderung sowie Bewegungseinschränkung der linken oberen Extremität liegt die pflegebegründende Diagnose auf nervenärztlichem Fachgebiet. Dr. H. beschreibt eine Depression bei leicht kränkbarer Persönlichkeit. Der tägliche Hilfebedarf liegt nach diesem Gutachten in der Grundpflege bei weit unter 46 Minuten; die vom MDK eingeschätzten 13 Minuten hält der Sachverständige für "großzügig". Dabei berücksichtigte der MDK eine Hilfebedarf bei der Ganzkörperwäsche und beim Duschen sowie beim An- und Entkleiden Ober- und Unterkörper. Der gerichtliche Sachverständige konnte sich dieser Einschätzung nicht anschließen. Mit Unterarmstützen kann sich der Kläger nach Feststellung des Sachverständigen relativ flüssig und selbstständig bewegen. Er kann selbstständig aus dem Liegen und Sitzen aufstehen. Die Feinmotorik der Hände ist nicht relevant eingeschränkt. Auch die Großgelenke der unteren Extremitäten sind in ihrer Beweglichkeit nicht relevant eingeschränkt. Im Vordergrund steht danach eine erhebliche Antriebsminderung und Freudlosigkeit mit sozialem Rückzug. Zutreffend hat das Sozialgericht ausgeführt, dass die Phasen ausgeprägter seelischer Tiefpunkte mit einem größeren Pflegebedarf nicht dauerhaft und regelmäßig im Sinne des § 114 Abs. 1 SGB XI sind und somit nicht zu einer Leistungsgewährung nach §§ 114, 115 SGB XI führen können. Dies gilt auch bei hypothetisch angenommener Regelmäßigkeit eines Hilfebedarfs bei zweimal wöchentlicher Behandlung durch den Physiotherapeuten D. - die allerdings immer wieder durch mehrwöchige Zeiträume unterbrochen waren, wie sich zuletzt auch aus dem Entlassungsbericht der Klinik T. vom Februar 2012 ergibt. Bei gestellter Diagnose der "depressiven Entwicklung" werde nach Angaben des Klägers seit längerem keine Therapie mehr durchgeführt.
Selbst bei Berücksichtigung von Zeiten für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung, für die der MDK unter Berücksichtigung von Fahrtzeiten fünf Minuten täglich ansetzte, sind die Voraussetzungen der Pflegestufe I nicht erfüllt; der MDK gelangte auf insgesamt lediglich 13 Minuten täglichem Hilfebedarf in der Grundpflege.

Der vom Kläger mitgeteilte Unfall vom 4. Januar 2012 führte nur zu einer vorübergehenden und nicht im Sinne von § 114 Abs. 1 SGB XI dauerhaften - voraussichtlich für mindestens sechs Monate dauernden - Pflege- und Hilfebedürftigkeit in erheblichem oder höherem Maße. Er zog sich bei einem Sturz eine Commotio cerebri zu, wurde jedoch am 12. Januar 2012 wieder in gut gebessertem Allgemeinzustand entlassen. In dem Entlassungsbericht der Klinik wird einerseits bestätigt, dass der Kläger insgesamt antriebsarm und depressiv wirkte. Nach eigenen Angaben des Klägers besteht allerdings, wie dargelegt, seit längerem keinerlei Therapie mehr. Mit entsprechender Medikation wurde im Rahmen der stationären Behandlung begonnen. Eine wesentliche Änderung des Pflegebedarfs gegenüber dem Gutachten des Dr. H. ist damit nicht zu erkennen.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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