L 2 U 378/09

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 41 U 185/05
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 378/09
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Ursachenbeurteilung hat im Einzelfall unter Berücksichtigung von Vorschäden auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu erfolgen.
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 18. März 2009 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 17. Mai 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2005 abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:


Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob das Ereignis vom 06.10.2003 als Arbeitsunfall anzuerkennen ist und ob eine Patellaluxation Folge dieses Arbeitsunfalls ist.

Der 1965 geborene Kläger spielte am 06.10.2003 bei seiner Tätigkeit als Erzieher mit Jugendlichen Fußball. Laut Durchgangsarztbericht des Dr.H. von der Kreisklinik E-Stadt vom 06.10.2003 sprang der Kläger in die Höhe und verdrehte sich dabei das linke Kniegelenk. Dr.H. stellte eine Kniegelenksdistorsion links mit Verdacht auf Innenmeniskusbeteiligung fest.

Im Fragebogen der Beklagten gab der Kläger am 09.11.2003 an, dass er beim Fußballspiel, mit der Absicht den Ball nach innen zu spielen, den linken Fuß (Standbein) verdreht habe. Es sei ein starker Schmerz am Knie eingetreten, die Kniescheibe habe vorgestanden. Als er sich zu Boden gesetzt habe, sei diese zurückgesprungen. Am 22.10.2003 wurde der Kläger am linken Knie operiert. Laut Pathologiebericht vom 27.10.2003 fanden sich frischere Läsionen von hyalinem Knorpel mit Anteilen eines älteren fibrinösen Ergusses und Zeichen einer degenerativen Chondropathie.

Im Auftrag der Beklagten erstellte der Orthopäde Dr.H. am 26.03.2004 ein Gutachten. Es handele sich nicht um ein Unfallereignis. Nach den Befundtatsachen sei es wahrscheinlicher, dass eine anlässlich des Ereignisablaufs eingetretene Subluxation der Kniescheibe als "Verdrehung" umgedeutet worden sei.

Mit Bescheid vom 17.05.2004 stellte die Beklagte daraufhin fest, dass das Ereignis vom 06.10.2003 kein Arbeitsunfall sei. Es sei kein traumatisch bedingter Gesundheitsschaden festgestellt worden.

Im Widerspruchsverfahren führte Dr.H. in einer ergänzenden Stellungnahme vom 13.01.2005 aus, Bedeutung habe primär der Ereignisablauf, der im vorliegenden Fall nicht zu begründen vermöge, dass es zu einer tatsächlichen Verrenkung gekommen sei. Eine Subluxation sei nicht auszuschließen, dieser lägen aber anlagebedingte Veränderungen zugrunde. Daraufhin wurde der Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23.02.2005 zurückgewiesen.

Hiergegen hat der Kläger am 21.03.2005 Klage beim Sozialgericht München (SG) erhoben. Das Gericht hat die im Oktober 2003 angefertigten Röntgenbilder des Klägers in der E. angefordert. Diese hat mitgeteilt, dass die Bilder nicht auffindbar seien.

Das SG hat Beweis erhoben und den Orthopäden Dr.G. vom Krankenhaus der Barmherzigen Brüder C-Stadt zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt. Bei der Untersuchung hat der Kläger das Ereignis wie folgt geschildert: Beim Fußballspielen in der Halle habe er beim Versuch, den Ball als Flanke mit dem linken Bein zu treten, den Oberkörper und die Hüfte abrupt nach rechts gedreht. Dabei wäre das ganze Gewicht auf dem linken Bein gewesen, welches zum Oberkörper dadurch relativ nach außen gedreht gewesen sei. Er sei überwiegend auf dem Vorfuß gestanden. Durch den stumpfen Hallenboden habe er dann das linke Bein nicht in die Richtung nach rechts mitdrehen können. Dann habe er einen abrupten Stich im linken Knie verspürt. Dr.G. ist in seinem Gutachten vom 24.01.2008 von dieser Unfallschilderung ausgehend zum Ergebnis gekommen, dass der Unfall vom 06.10.2003 eine traumatische Erstverrenkung der linken Kniescheibe verursacht habe, ohne erkennbare bzw. objektivierbare luxationsbegünstigende, anatomisch funktionelle Anomalien. Arbeitsunfähigkeit habe ca. sechs bis acht Wochen bestanden. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit liege bei der vom Kläger geschilderten Beschwerdefreiheit sowie freier Funktion des Kniegelenkes nicht vor.

Die Beklagte hat darauf hingewiesen, dass der Kläger das Unfallereignis zunächst anders geschildert habe. Zudem ergäben sich aus der Kernspintomographie vom 10.10.2003 keine für eine traumatische Kniescheibenverrenkung sprechenden Befunde, da keine Knochenoedembildung (Bone Bruise) im Bereich des lateralen Femurchondylus und der medialen Patellafacette beschrieben seien.

Auf die Einwendungen der Beklagten hin hat Dr.G. am 19.07.2008 eine ergänzende Stellungnahme erstellt. Er ist bei seiner Meinung geblieben, dass eine traumatische Kniescheibenverrenkung mit entsprechenden erheblichen Folgeerscheinungen im Bereich des kniescheibenrückseitigen Knorpelbelages vorliege.

Die Beklagte hat daraufhin eine Stellungnahme ihres beratenden Arztes Prof. Dr.H. vorgelegt. Dr.G. könne nicht gefolgt werden, da die Ergebnisse der Kernspintomographie vom 10.10.2003 sowie der Arthroskopie vom 22.10.2003 unterbewertet würden. Eine traumatische Patellaluxation sei nicht eingetreten, dazu sei auch das genannte Unfallereignis nicht geeignet. Es lägen anlagebedingte Störungen am linken Knie vor, so ein leichter Kniescheibenhochstand, eine Dysplasie des medialen Femurchondylus und ein Wiberg III der Kniescheibe. Dr.G. hat hierzu am 17.03.2009 ergänzend Stellung genommen und ist bei seiner Einschätzung geblieben.

Mit Urteil vom 18.03.2009 hat das Sozialgericht festgestellt, dass das Ereignis vom 06.10.2003 ein Arbeitsunfall und die Verrenkung der linken Kniescheibe Folge des Arbeitsunfalls ist. Zur Begründung hat es sich im Wesentlichen auf das Gutachten des Dr.G. gestützt.

Hiergegen hat die Beklagte am 14.09.2009 Berufung eingelegt. Das Unfallgeschehen sei nicht geeignet gewesen, eine Subluxation des Kniegelenks hervorzurufen. Erhebliche Vorschäden des Klägers hätten zu der Verletzung geführt. Auch die bildtechnischen Befunde sprächen gegen eine traumatische Läsion der Kniescheibe.

Der Senat hat Beweis erhoben und den Orthopäden Dr.C. zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt. Dieser ist in seinem Gutachten vom 29.12.2009 zum Ergebnis gekommen, dass aus allen Schilderungen des Unfallherganges eine Mechanik, die geeignet wäre, die Kniescheibe zu verrenken, nicht abzuleiten sei. Plausibel sei, dass eine Subluxation aufgetreten sein könne, nämlich aufgrund eines Bone Bruise an der äußeren Oberschenkelrolle, welche bei einer Verlagerung der Kniescheibe nach außen auf Druck belastet werde. Eine geeignete Unfallmechanik zur Entstehung einer Kniescheibenluxation sei nicht nachzuvollziehen. Eine Neigung zur Subluxation der linken Kniescheibe lasse sich aus einer leichten Dysplasie des Gleitlagers sowie einem mäßigen Hochstand der Kniescheiben erschließen. Zusammengefasst bleibe festzustellen, dass das Ereignis vom 06.10.2003 ohne adäquate Unfallmechanik zu einer Subluxation der linken Kniescheibe nach außen geführt hätte, jedoch nicht zu einem verletzungsbedingten Knorpelschaden.

Auf Antrag des Klägers ist Prof.Dr.D. vom des Klinikums der Universität C-Stadt zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt worden. Dieser ist in seinem radiologischen Zusatzgutachten vom 09.02.2011 zum Ergebnis gekommen, dass ohne Vorlage der MR-Aufnahme vom 10.10.2003 nicht beurteilt werden könne, ob zum Zeitpunkt des Traumas eine Patellaluxation mit einem verletzungsbedingten Knorpelschaden stattgefunden habe.

Am 27.04.2011 hat der Klägerbevollmächtigte mitgeteilt, dass die E. die MR-Aufnahmen vom 10.10.2003 gefunden habe. Daraufhin hat Prof.Dr.D. in einer ergänzenden Stellungnahme ausgeführt, aufgrund der nun vorliegenden Aufnahmen komme er zum Ergebnis, dass diese nicht mit einer stattgehabten frischen Patellaluxation zu vereinbaren seien. Ein umschriebener Knorpelschaden lasse sich nicht finden, die nachweisbaren Knorpelveränderungen scheinen degenerativer Natur zu sein. Zum Unfallzeitpunkt scheine keine Patellaluxation und kein verletzungsbedingter Knorpelschaden stattgefunden zu haben.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 18.03.2009 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 17.05.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.02.2005 abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.



Entscheidungsgründe:


Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet. Das Urteil des Sozialgerichts München vom 18.03.2009 ist aufzuheben.

Zulässige Klageart ist eine kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage auf Vorliegen eines Arbeitsunfalls bzw. auf Feststellung einer bestimmten Unfallfolge gemäß §§ 54 Abs. 1, 55 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgerichtsgesetz - SGG (BSG SozR 4-2700 § 8 Nr. 12; BSG vom 05.07.2011, Az.: B 2 U 17/10 R). Insoweit begehrt der Kläger die Feststellung, dass die Verrenkung der linken Kniescheibe eine Unfallfolge ist.

Entgegen dem Urteil des Sozialgerichts München, das sich auf das Gutachten des Dr.G. stützte, ist ein durch den Unfall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit verursachter Gesundheitsschaden nicht nachgewiesen. Damit kann ein Arbeitsunfall gemäß § 8 SGB VII nicht anerkannt werden.

Ein Arbeitsunfall liegt vor, wenn die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist und die Verrichtung zu einem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis geführt hat und Letzteres einen Gesundheitsschaden verursacht hat. Ein solcher Gesundheitsschaden ist durch das Ereignis vom 06.03.2003 nicht verursacht worden. Dies hat Prof.Dr.D. in seinem radiologischen Gutachten mit ergänzender Stellungnahme vom 17.08.2011 überzeugend dargelegt. Entscheidend ist das MRT des linken Knies aus der E. vom 10.10.2003, das unmittelbar nach dem Ereignis erstellt wurde. Laut Prof.Dr.D. zeigt sich ein ausgeprägter Kniegelenkserguss. Die Patella ist nach lateral subluxiert, das mediale Retinaculum ist rupturiert. Es zeigt sich ein diskretes Knochenmarködem am lateralen Femurchondylus. Frakturlinien lassen sich nicht nachweisen. Der retropatellare Knorpel ist sowohl an der medialen als auch an der lateralen Facette deutlich ausgedünnt. Ein umschriebener Knorpeldefekt, der eindeutig als traumatisch bedingt zu bezeichnen wäre, lässt sich aktuell nicht abgrenzen. Damit kommt Prof.Dr.D. zum Ergebnis, dass aus radiologischer Sicht das nur sehr diskret ausgeprägte Knochenmarködem am lateralen Femurchondylus gegen eine akute traumatische Patellaluxation spricht. Zum Unfallzeitpunkt hat keine Patellaluxation stattgefunden.

Aufgrund dieses radiologischen Zusatzgutachtens steht nun fest, dass das Ereignis vom 06.10.2003 nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit einen Gesundheitsschaden verursacht hat. Den Sachverständigen Dr.G. und Dr.C. lagen die Originalbefunde nicht vor. Dr.G. begründete seine positive Bewertung dann wesentlich mit dem Unfallhergang. Diese Einschätzung kann jedoch nicht überzeugen.

Dr.C. weist in seinem Gutachten vom 29.12.2009 darauf hin, dass die Frage der Unfallmechanik von Dr.G. nicht überzeugend bewertet worden ist. Im zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall sind Mechanismen angegeben worden, welche eine Verrenkung der Kniescheibe ausschließen lassen. Laut Durchgangsarztbericht soll der Kläger in die Höhe gesprungen sein, wobei er sich das linke Knie verdreht habe. Das Bein kann also im Moment des Hochsprunges nicht belastet gewesen sein. Nach der eigenhändig ausgeführten Unfallschilderung habe er den linken Fuß (Standbein) verdreht, als er den Ball habe nach innen spielen wollen. Daraus kann aber laut Dr.C. nur der Schluss gezogen werden, dass der Ball mit dem rechten Fuß abgeschossen worden ist. Die Verdrehung des linken Beines erklärte der Kläger dem Sachverständigen Dr.G. damit, dass der Hallenboden stumpf gewesen sei. Andererseits habe er überwiegend auf dem linken Vorfuß gestanden, weshalb der Kontakt zwischen Sportschuh und Boden nur gering gewesen sein kann und insoweit eine kraftvolle Verdrehung des Unterschenkels nach außen und des Oberschenkels nach innen nicht vorstellbar ist.

Noch unerfindlicher ist die Schilderung des Klägers zum Gutachten des Dr.G., dass er versucht habe, den Ball als Flanke mit dem linken Bein zu treten, wobei das gesamte Gewicht auf dem linken Bein gewesen sei. Der Kläger hat dies in der mündlichen Verhandlung mit einer Seitenverwechslung begründet. Jedenfalls lässt sich aus all diesen Schilderungen laut Dr.C. eine Mechanik nicht ableiten, die geeignet wäre, die Kniescheibe zu verrenken.

Plausibel ist, dass eine Subluxation aufgetreten sein kann, nämlich aufgrund eines Bone Bruise in der äußeren Oberschenkelrolle, welche bei einer Verlagerung der Kniescheibe nach außen auf Druck belastet wird. Ein geeigneter Unfallmechanismus zur Entstehung einer Kniescheibenluxation lässt sich deshalb nicht nachvollziehen. Eine Neigung zur Subluxation der linken Kniescheibe lässt sich aus einer leichten Dysplasie des Gleitlagers (Kniescheibe und innere Oberschenkelrolle) sowie einem mäßigen Hochstand der Kniescheiben erschließen.

Die Entstehung eines Knorpeldefektes an der Rückfläche der Kniescheibe durch das Ereignis vom 06.10.2003 ist nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens, da das Sozialgericht nur die Verrenkung der linken Kniescheibe als Unfallfolge anerkannt hat und nur die Beklagte Berufung eingelegt hat.

Mit Dr.C. ist deshalb festzustellen, dass das Ereignis vom 06.10.2003 die Subluxation der linken Kniescheibe nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit wesentlich verursacht hat. Entscheidend sind vielmehr die anlagebedingten Faktoren, die sowohl durch den Histologiebefund als auch die radiologischen Befunde nachgewiesen sind. Da die beantragte Feststellung einer Verrenkung der linken Kniescheibe als unfallbedingter Gesundheitsschaden nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen ist, kommt insoweit auch die Anerkennung eines Arbeitsunfalls nicht in Betracht. Somit ist das Urteil des Sozialgerichts München voll umfänglich aufzuheben.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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