L 5 AS 316/09 NZB

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 2 AS 102/07
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 5 AS 316/09 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 29. Juli 2009 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Beklagte und Beschwerdeführer begehrt die Zulassung der Berufung gegen ein Urteil des Sozialgerichts Magdeburg (SG) und die Durchführung des Berufungsverfahrens.

Zwischen den Beteiligten waren die Höhe der Leistungen für die Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) sowie die Übernahme einer Forderung des Vermieters aus einer Betriebskostenabrechung im Rahmen der Leistungsgewährung der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) streitig.

Die Klägerin bezog von dem Beklagten laufende Leistungen nach dem SGB II. Ab Dezember 2005 bewohnte sie eine Wohnung, für die sie eine Warmmiete von 325,16 EUR (Kaltmiete: 226,60 EUR, Betriebskosten: 50,00 EUR, Heiz- und Warmwasserabschlag: 45,00 EUR, Antennengebühr: 3,56 EUR) zu zahlen hatte. Mit Bescheid vom 31. Mai 2006 bewilligte der Beklagte für die zweite Jahreshälfte 2006 monatliche Leistungen iHv 623,90 EUR. Dabei berücksichtigte er neben der Regelleistung iHv 331,00 EUR KdU iHv 292,90 EUR (Miete und Betriebskosten: 256,00 EUR, Heizkosten iHv 36,90 EUR (45,00 EUR abzüglich 18%)). Mit Bescheid vom 22. Juni 2006 änderte er ab Juli 2006 die monatlichen Leistungen auf 637,90 EUR wegen der Erhöhung der Regelleistung um 14,00 EUR auf 345,00 EUR.

Gegen den Bescheid vom 22. Juni 2006 legte die Klägerin am 12. Juli 2006 Widerspruch ein, mit dem sie die Höhe des Abzugs für die Warmwasserbereitung iHv 8,10 EUR rügte. Diesen wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29. November 2006 zurück. Die Anhebung der Regelleistung sei für die Klägerin eine ausschließlich begünstigende Regelung. Im Übrigen sei der Ursprungsbescheid bestandskräftig.

Dagegen hat die Klägerin fristgerecht Klage erhoben. Sie habe sich mit ihrem Widerspruch gegen den gesamten Bescheid und damit auch gegen die Berechnung der KdU gewandt. Der Abzug für die Kosten der Wassererwärmung sei zu hoch. Zudem sei die Miete ungekürzt zu übernehmen.

Am 7. November 2006 beantragte die Klägerin bei dem Beklagten die Übernahme der Betriebskostennachforderung ihres Vermieters für das Jahr 2005. Dieser hatte für die Wohnung an Heizkosten 316,15 EUR und an Betriebskosten 15,14 EUR nachgefordert. Für die andere Wohnung waren Heizkosten iHv 239,39 EUR nachgefordert und bei den Betriebskosten ein Guthaben iHv 152,92 EUR ausgewiesen worden.

Mit Bescheid vom 14. November 2006 lehnte der Beklagte die Übernahme der Nachzahlungen für die Heizkosten ab. Hinsichtlich der Betriebskosten seien Guthaben- und Nachzahlungsbetrag zu verrechnen. Heizkosten seien bereits in maximal angemessener Höhe übernommen worden. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1. Dezember 2006 zurück. Die mit den aus dem Juli 2006 stammenden Abrechnungen erhobenen Forderungen seien im Zeitpunkt ihrer Geltendmachung im November 2006 bereits Schulden gewesen und daher nicht mehr berücksichtigungsfähig. Auch dagegen hat die Klägerin fristgerecht Klage erhoben.

Nach Verbindung der Verfahren hat das SG mit Urteil vom 29. Juli 2009 den Beklagten verurteilt, der Klägerin für die zweite Jahreshälfte 2006 weitere KdU-Leistungen iHv insgesamt 156,24 EUR nebst Zinsen sowie zur Begleichung der Betriebskostenabrechnung 403,16 EUR nebst Zinsen zu zahlen. Zur Begründung hat es ausgeführt, Gegenstand des Bescheids vom 22. Juni 2006 sei die gesamte Leistungsbewilligung – also auch die Berechnung der KdU – gewesen. Mit ihrem Widerspruch habe die Klägerin eine Neuberechnung verlangt, die der Beklagte zumindest konkludent abgelehnt habe. Er habe zu Unrecht von den Heizkostenvorauszahlungen 18% für die Warmwasserbereitung abgezogen. Anstelle von 8,10 EUR seien 6,22 EUR abzuziehen gewesen. Zudem seien die tatsächlichen KdU zu übernehmen, da Anhaltspunkte für eine Unangemessenheit der KdU nicht erkennbar seien. Die Klägerin habe auch Anspruch auf Übernahme der Betriebskostennachforderung ihres Vermieters. Es sei nicht relevant, ob sie die Abrechnung unmittelbar nach Erhalt oder erst im November 2006 eingereicht habe. Eine Nachforderung auf die Betriebskosten gehöre zum laufenden Bedarf unabhängig davon, wann die Abrechnung beim Leistungsträger geltend gemacht werde. Es handele sich nicht um Schulden. Es seien daher antragsgemäß 403,16 EUR zu übernehmen. Das SG hat im Urteil die Berufung nicht zugelassen.

Gegen das ihm am 14. August 2009 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 1. September 2009 Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung eingelegt. Die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung. Es sei obergerichtlich nicht geklärt, ob auch eine bestandskräftige Leistungsbewilligung zum Gegenstand einer Klage gemacht werden könne, wenn nur ein Änderungsbescheid erlassen worden sei. Vorliegend sei mit dem Änderungsbescheid nur die zum 1. Juli 2006 eingetretene Erhöhung der Regelsätze umgesetzt worden. Die im Übrigen bestandskräftige Bewilligung sei nicht geändert worden. Ebenfalls sei in der Rechtsprechung nicht geklärt, ob eine verspätet eingereichte Heizkostenabrechnung als Bedarf gemäß § 22 Abs. 1 SGB II zu berücksichtigen sei, oder ob es sich um nicht berücksichtigungsfähige Schulden handele, wenn der Leistungsberechtigte – wie hier – die Betriebskostenabrechnung nicht unmit-telbar nach Erhalt dem Leistungsträger mitteile.

Mit Schreiben vom 26. Mai 2010 hat die Berichterstatterin auf Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 22. März 2010 (Az.: B 4 AS 62/09 R) und vom 23. März 2010 (Az.: B 14 AS 6/09 R) hingewiesen. Zur "verspäteten Antragstellung" nach einer Betriebskostenabrechnung habe das BSG entschieden, dass es eines gesonderten Antrags nicht bedürfe und die Nachforderung im Zeitpunkt der Fälligkeit zu den KdU iSv § 22 Abs. 1 SGB II gehöre. Zwar sei hier der Widerspruch nur hinsichtlich der Änderung zulässig gewesen, gegen den bestandskräftigen Ursprungsbescheid habe nur im Wege des Überprüfungsverfahrens gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) vorgegangen werden können. Es könne aber allenfalls ein Rechtsanwendungsfehler im Einzelfall vorliegen; eine grundsätzliche Bedeutung sei nicht ersichtlich.

Hierzu hat der Beklagte ausgeführt, bei Einlegung der NZB habe zur Übernahme der Betriebskostennachforderung noch keine einheitliche Rechtsprechung bestanden. Da die Anfechtung eines Änderungsbescheids nicht dazu führe, dass die ursprüngliche Ausgangsbewilligung im Widerspruchsverfahren erneut überprüft werden könne, enthalte das angegriffene Urteil nicht lediglich einen Rechtsanwendungsfehler im Einzelfall. Denn die Kammern des SG handhabten den Umfang der Überprüfung von Änderungsbescheiden unterschiedlich. Vielfach würden Aspekte zum Gegenstand der Klageverfahren gemacht, die nicht streitgegenständlich sein könnten, weil sie bereits bestandskräftig geregelt seien. Wegen der Uneinheitlichkeit der Rechtsanwendung bedürfe es einer obergerichtlichen Klärung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten ergänzend Bezug genommen. Sie waren Gegenstand der Beratung des Senats.

II.

Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht gemäß § 145 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingelegt worden.

Sie ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Berufung gegen das Urteil vom 29. Juli 2009 zu Recht nicht zugelassen. Gemäß § 144 Abs. 1 SGG in der seit dem 1. April 2008 geltenden Fassung bedarf die Berufung der Zulassung in einem Urteil des SG, wenn der Wert des Streitsgegenstandes bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR nicht übersteigt.

Die von dem Urteil des SG in dem verbundenen Klageverfahren für den Beklagten ausgehende Beschwer lag bei 559,40 EUR (156,24 und 403,16 EUR). Dies ist der Gesamtbetrag der Verurteilung zu Lasten des Beklagten. Die Beschwer überschreitet den Grenzwert von 750,00 EUR nicht.

Die Berufung war auch nicht nach § 144 Abs. 2 SGG zuzulassen. Danach ist die Berufung zuzulassen, wenn 1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, 2. das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder 3. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

Der Zulassungsgrund des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG liegt nicht. Der Beklagte hat keinen Verfahrensverstoß geltend gemacht.

Es besteht auch keine Divergenz iSv § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG. Ein Abweichen des Urteils von einer Entscheidung des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt oder des BSG ist weder vorgetragen noch ersichtlich.

Auch der Zulassungsgrund des § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG liegt nicht vor. Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Sie wirft keine bislang ungeklärten Rechtsfragen auf, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern. Dem Vorbringen des Beklagten im Beschwerdeverfahren lässt sich (aktuell) keine verallgemeinerungsfähige und klärungsbedürftige Rechtsfrage ableiten.

Soweit der Beklagte für grundsätzlich klärungsbedürftig hält, ob eine "verspätet" vorgelegte Betriebskostenabrechnung, die mit einer Nachforderung des Vermieters endet, uneingeschränkt als Bedarf zu berücksichtigen ist, ist diese Frage obergerichtlich geklärt. Denn beginnend mit den Urteilen vom 22. März 2010 (Az.: B 4 AS 62/09 R, juris) und 23. März 2010 (Az.: B 14 AS 6/09 R, juris) haben die beiden für das Grundsicherungsrecht nach dem SGB II zuständigen Senate des BSG entschieden, dass Betriebskostennachforderungen als einmalige geschuldete Zahlungen zum aktuellen KdU-Bedarf im Fälligkeitsmonat gehören (vgl. vom 22. März 2010, a.a.O. RN 13), dass es zu ihrer Geltendmachung keines gesonderten Antrags beim Leistungsträger bedarf (a.a.O. RN 14) und dass ein SGB II-Leistungsantrag umfassend wirkt und weitere, sich erst während des laufenden Leistungsbezugs ergebende Bedarfe einschließt. Dies ist zur ständigen Rechtsprechung des BSG geworden (vgl. zuletzt: Urteil vom 20. Dezember 2011, Az.: B 4 AS 9/11 R, juris RN 18; Urteil vom 24. November 2011, Az.: B 14 AS 121/10 R, juris RN 11 bis 15); insoweit besteht kein Klärungsbedarf mehr.

Da es zur Beurteilung der grundsätzlichen Bedeutung maßgeblich auf die Lage im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats ankommt, ist der Umstand, dass die genannte Rechtsprechung bei Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde noch nicht vorlag, nicht relevant.

Die weitere vom Beklagten formulierte Frage, "ob zum Gegenstand der Klage, sofern nur der Änderungsbescheid angefochten wird, auch die bestandskräftige Ursprungsbewilligung gemacht werden darf", erfüllt die Voraussetzungen von § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG ebenfalls nicht. Grundsätzliche Bedeutung im vorgenannten Sinne setzt voraus, dass eine Rechtsfrage nicht nur abstrakt von Interesse ist, sondern sie muss gerade im konkreten Fall tragend entscheidungserheblich und klärungsfähig sein (vgl. BSG, Beschluss vom 27. Januar 1999, Az.: B 4 RA 131/98 B, juris RN 9).

Indes würde sich die rechtliche Frage nach der Reichweite der Bestandskraft einer Leistungsbewilligung nach dem SGB II im Fall einer Änderung der Verhältnisse iSv § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X im Berufungsverfahren nicht entscheidungserheblich stellen. Denn das Vorbringen der Klägerin im Widerspruchsverfahren zur fehlerhaften Berechnung der Kosten der Wassererwärmung ist als Geltendmachung von höheren Leistungen für die KdU zu verstehen und als Überprüfungsantrag gemäß § 44 SGB X auszulegen, den der Beklagte mit seinem Widerspruchsbescheid konkludent abschlägig beschieden hat (vgl. BSG, Urteil vom 13. Juli 2010, Az.: B 8 SO 11/09 R, juris RN 16; zum SGB III: BSG, Urteil vom 21. März 2002, Az.: B 7 AL 44/01 R, juris RN 24; zur Anwendbarkeit von § 44 SGB X im SGB II: BSG, Urteil vom 1. Juni 2010, Az.: B 4 AS 78/09 R, juris RN 18).

Daher hat die Klägerin schon aufgrund des durch den Widerspruch eingeleiteten Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X zulässigerweise die Höhe der KdU zum Gegenstand des Klageverfahrens machen können. Dies gilt, selbst wenn man davon ausgeht, dass die Ursprungsbewilligung bestandskräftig geblieben und durch die Bewilligung weiterer Regelleistungen nicht (anfechtbar) geändert worden ist (vgl. zum Meinungsstand insoweit: Urteil des Senats vom 1. März 2012, Az.: L 5 AS 339/09, www.sozialgerichtsbarkeit.de), weil die Aufhebung des ursprünglichen Verwaltungsakts nur soweit reicht, wie die wesentliche Änderung eingetreten ist und den Leistungsanspruch und den diesem zugrunde liegenden Sachverhalt im Übrigen unberührt lässt.

Dass die Klägerin neben den Wasserwärmungskosten erstmals im Klageverfahren die Kürzung auf die vom Beklagten als angemessen erachteten KdU beanstandet hat, ist lediglich ein weiteres Begründungselement des bereits streitgegenständlichen Überprüfungsantrags im Hinblick auf die KdU.

Eine Entscheidungserheblichkeit ergibt im vorliegenden Fall auch nicht aus der in § 44 Abs. 4 SGB X enthaltenen zeitlichen Begrenzung für die Rücknahme und Nachzahlung von Leistungen. Denn der streitige Zeitraum von Juli bis Dezember 2006 liegt innerhalb der damals gültigen Frist von vier Jahren.

Es kommt daher vorliegend im Ergebnis für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht darauf an, ob die Änderung (Erhöhung der Regelleistung um 14,00 EUR) für die Klägerin ausschließlich begünstigend war, sodass diese im Wege des Widerspruchs nicht anfechtbar war.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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