L 18 AL 54/11

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 19 AL 21/09
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AL 54/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 19. Januar 2011 und der Bescheid der Beklagten vom 28. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Dezember 2008 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 1. August 2006 bis 31. Oktober 2006 Insolvenzgeld zu gewähren. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im gesamten Verfahren. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Insolvenzgeld (Insg) für die Zeit vom 1. August 2006 bis 31. Oktober 2006.

Die 1958 geborene Klägerin war als Bürokauffrau bei dem Abbruchunternehmer W (im Folgenden: W.) versicherungspflichtig beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete durch arbeitgeberseitige Kündigung zum 31. Oktober 2006. W. meldete sein Gewerbe zum 30. April 2007 ab. Mit Beschluss vom 13. Oktober 2008 eröffnete das Amtsgericht (AG) Potsdam das Insolvenzverfahren über das Vermögen des W (- -). Auf den Bericht des Insolvenzverwalters vom 9. Oktober 2008 und den Schlussbericht vom Juli 2009 wird Bezug genommen. Um eine gerichtliche Durchsetzung ihrer Arbeitsentgeltansprüche gegenüber W. bemühte sich die Klägerin nicht.

Mit Schreiben der Bevollmächtigten des W. vom 11. März 2008 wiesen diese darauf hin, dass es W. wegen seiner Gesamtverschuldung nicht mehr möglich sei, seinen Zahlungsverpflichtungen vollumfänglich nachzukommen. Eine außergerichtliche Einigung sei daher beabsichtigt. Die Klägerin möge mitteilen, in welcher Höhe noch offene Entgeltforderungen bestünden. W. sei bemüht, diese zu begleichen.

Den Insg-Antrag der Klägerin vom 24. September 2008, mit dem diese ausgefallenes Arbeitsentgelt für die Monate August, September und Oktober 2006 i.H.v. jeweils 1.042,85 EUR netto unter Vorlage der entsprechenden Gehaltsabrechnungen geltend machte und angab, die Nichtzahlung des Arbeitsentgelts habe der Arbeitgeber mit Zahlungsunfähigkeit begründet, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Dezember 2008 ab mit der Begründung, dass die Klägerin die Ausschlussfrist für die Beantragung von Insg versäumt habe und ihr auch eine Nachfrist nicht zu eröffnen sei.

Das Sozialgericht (SG) Cottbus hat die auf Gewährung von Insg für die Zeit vom 1. August 2006 bis 31. Oktober 2006 gerichtete Klage mit Urteil vom 19. Januar 2011 abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Maßgebendes Insolvenzereignis sei hier die vollständige Aufgabe der Betriebstätigkeit des W. zum 1. Mai 2007. Zu diesem Zeitpunkt habe entgegen der nachträglichen Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch das AG Potsdam auch eine offensichtliche Masselosigkeit vorgelegen, was dem Gutachten des Insolvenzverwalters zu entnehmen sei. Die nachträgliche Eröffnung des Insolvenzverfahrens sei daher nicht als maßgebliches Insolvenzereignis anzusehen. Die Klägerin habe somit die Insg-Antragsfrist des § 324 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung - (SGB III) von zwei Monaten versäumt. Eine Nachfrist sei ihr nicht zu eröffnen, da sie sich nicht mit der erforderlichen Sorgfalt um die Durchsetzung ihrer Entgeltansprüche gegenüber W. bemüht habe. Ein bloßes regelmäßiges Nachfragen bei W. habe insoweit nicht ausgereicht.

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie trägt vor: Eine offensichtliche Masselosigkeit bereits am 1. Mai 2007 sei nicht feststellbar. Diese könne auch nicht aus dem Schreiben der Bevollmächtigten des W. vom 11. März 2008 gefolgert werden. Dort sei schließlich noch eine Begleichung offener Forderungen in Aussicht gestellt worden. Aus dem im Insolvenzverfahren erstellten Gutachten könne nicht auf die Vermögensverhältnisse des W. am 1. Mai 2007 geschlossen werden. Tatsächlich habe das AG dann auch das Insolvenzverfahren eröffnet und sei von einer ausreichenden Masse selbst noch am 13. Oktober 2008 ausgegangen. Zudem habe W. letztlich ein Anerkenntnis hinsichtlich der offenen Entgeltforderungen abgegeben, indem er entsprechende Gehaltsabrechnungen erteilt habe.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 19. Januar 2011 und den Bescheid der Beklagten vom 28. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Dezember 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 1. August 2006 bis 31. Oktober 2006 Insolvenzgeld zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat eine schriftliche Auskunft des W. vom 26. Oktober 2011 eingeholt; hierauf wird Bezug genommen.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Der Insg-Vorgang der Beklagten und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist begründet.

Die Klägerin kann von der Beklagten Zahlung von Insg für die Zeit vom 1. August 2006 bis 31. Oktober 2006 verlangen.

Nach § 183 Abs. 1 SGB III in der hier anzuwendenden, seit 01. Januar 2002 geltenden Fassung des Gesetzes zur Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente (Job-AQTIV-Gesetz) vom 10. Dezember 2001 (BGBl I S 3443) haben Arbeitnehmer Anspruch auf Insg, wenn sie im Inland beschäftigt waren und bei 1. Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen ihres Arbeitgebers, 2. Abweisung des Antrages auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse oder 3. vollständiger Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht gestellt worden ist und ein Insolvenzverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt (Insolvenzereignis), für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben.

Da ein Insolvenzereignis im Sinne des § 183 Abs. 1 Nrn. 2 und 3 SGB III (Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse oder vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland bei offensichtlicher Masselosigkeit) nach den Feststellungen des Senats nicht vorliegt, ist maßgeblicher Insolvenzzeitpunkt im Sinne des § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III der 13. Oktober 2008 gewesen, der Tag, an dem das AG Potsdam durch Beschluss vom selben Tage das Insolvenzverfahren über das Vermögen des W. eröffnet hat.

Das hier entgegen der Auffassung der Beklagten nicht einschlägige Insolvenzereignis nach § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III hat als Auffangtatbestand drei Merkmale zum Inhalt, die kumulativ vorliegen müssen: die vollständige Aufgabe der Betriebstätigkeit im Inland, das Fehlen eines Eröffnungsantrages und den Umstand, dass ein Insolvenzverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt. Durch diese Regelung soll verhindert werden, dass Arbeitnehmer gezwungen werden, aussichtslose Anträge zu stellen und Vorschüsse zu leisten - jedenfalls dann, wenn die insolvenzrechtlich relevante Zahlungsunfähigkeit des Unternehmers offensichtlich ist (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 8. Dezember 2005 - L 28 AL 75/04 - juris - m.w.N.). Bereits unabhängig davon, ob - wovon die Beteiligten übereinstimmend ausgehen - die vollständige Aufgabe der Betriebstätigkeit bis spätestens 30. April 2007 erfolgte, ist das Insolvenzereignis des § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III vorliegend schon deshalb nicht einschlägig, weil eine offensichtliche Masselosigkeit jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt nicht vorlag. Dies folgt zum einen bereits aus der späteren Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch das AG Potsdam. Wird bei im Wesentlichen unveränderter Sachlage - wie hier - das Insolvenzverfahren eröffnet, zeigt sich damit, dass ein Anschein für Masseunzulänglichkeit objektiv nicht bestand (Krodel in Niesel/Brand, SGB III, 5. Aufl., § 183 Rdnr 47; Urteil des Senats vom 14. November 2007 - L 16 AL 541/06 - juris -). Insoweit ist es unerheblich, dass die Ermittlungen im Insolvenzverfahren schließlich ergeben haben, dass zumindest zum Antragszeitpunkt des Insolvenzverfahrens (September 2008) bereits tatsächlich Masseunzulänglichkeit vorlag. Denn dies erlaubt keine zwingenden Rückschlüsse auf die Vermögensverhältnisse des W. am 30. April 2007. Gleiches gilt für den fruchtlosen Pfändungsversuch der Deutschen Angestellten-Krankenkasse im Oktober 2007. Entscheidend ist nämlich, dass zum Zeitpunkt der Betriebseinstellung spätestens bis zum 30. April 2007 eine "offensichtliche" i.S. einer "anscheinenden" (vgl. BSG, Urteil vom 23. November 1981 – 10/8b RAr 6/80 = SozR 4100 § 141b Nr. 21 = BSGE 53, 1-4) Masselosigkeit nicht vorlag.

Masselosigkeit liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners voraussichtlich nicht ausreichen wird, um die Kosten des Verfahrens im Sinne von § 26 Abs. 1 Satz 1 Insolvenzordnung zu decken. Sie muss vor oder gleichzeitig mit der vollständigen Beendigung der Betriebstätigkeit eintreten. Zur Frage der "Offensichtlichkeit" ist darauf abzustellen, ob sich für einen unvoreingenommenen objektiven Betrachter aus äußeren Tatsachen der Eindruck (und insofern der Anschein) ergibt, dass ein Insolvenzverfahren mangels Masse nicht in Betracht kommen wird. Nur so ist eine dem Zweck des Insg entsprechende Bewilligungspraxis möglich: Dem Arbeitnehmer soll möglichst schnell die seinen Lebensunterhalt sichernde Leistung - gegebenenfalls durch Vorschuss gemäß § 186 SGB III - bewilligt werden. Zweifel an der Masseunzulänglichkeit berechtigen die Beklagte daher nicht dazu, einen Antrag auf Insg abzulehnen. Dies steht im Einklang mit dem Umstand, dass die Beklagte nicht geschädigt ist, wenn sich später herausstellen sollte, dass die Masse entgegen ihrer Annahme tatsächlich dennoch zulänglich war. Die Beklagte wird insoweit durch die des § 187 Satz 1 SGB III geschützt: Die Ansprüche der Arbeitnehmer auf Arbeitsentgelt, die einen Anspruch auf Insg begründen, gehen mit dem Antrag auf Insg auf sie über. Sie kann dann entscheiden, ob sie im Wege der Einzelvollstreckung oder des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgeht, um sich für ihre Leistung schadlos zu halten (zum Ganzen BSG, Urteil vom 23. November 1981 - 10/8 b RAr 6/80 -; Urteil vom 22. September 1993 - 10 RAr 9/91 - SozR 3-4100 § 141 b Nr. 7 S. 32 Urteil vom 4. März 1999 - B 11/10 AL 3/98 R - juris Rn. 14). Mithin meint das Tatbestandsmerkmal der Offensichtlichkeit der Masselosigkeit keinen gesteigerten Grad an Evidenz und Richtigkeit - etwa im Sinne einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit -, sondern in der am Schutzzweck orientierten Auslegung des Bundessozialgerichts (BSG), die der Senat seiner Entscheidung zugrunde legt, gerade (nur) einen abgeschwächten Maßstab der Wahrscheinlichkeit. Es muss sich lediglich aufgrund äußerer, tatsächlicher Umstände für den Dritten der plausible Anschein der Masselosigkeit ergeben. Dazu reicht es regelmäßig aus, ist aber auch erforderlich, dass der Arbeitgeber die Lohnzahlungen unter Hinweis auf seine Zahlungsunfähigkeit einstellt bzw. verweigert, die betriebliche Tätigkeit vollständig beendet ist und ein Insolvenzantrag nicht gestellt worden ist.

Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens erweckten die äußeren Tatsachen am 30. April 2007 indes für einen unvoreingenommenen objektiven Betrachter nicht den Eindruck der offensichtlichen Masselosigkeit des W. Es bestand kein - außer der Betriebseinstellung - begründeter Anschein, dass tatsächlich kein Vermögen mehr vorhanden war. W. hatte die Entgeltzahlung, wie die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt hat, nicht unter Hinweis auf seine Zahlungsunfähigkeit abgelehnt, sondern vielmehr eine spätere Zahlung unter Hinweis auf die Abwicklung eines größeren Auftrages und eines insoweit noch zu erwartenden erheblichen Zahlungseingangs konkret in Aussicht gestellt. Hiermit in Einklang steht auch das Schreiben der Bevollmächtigten des W. vom 11. März 2008, in dem diese mitteilten, W. sei bemüht, noch offene Entgeltforderungen zu begleichen. Diesem Schreiben lassen sich allenfalls Zahlungsschwierigkeiten, aber keine Zahlungsunfähigkeit des W. entnehmen. W. hat schließlich auch in seiner schriftlichen Erklärung gegenüber dem Gericht vom 26. Oktober 2011 eingeräumt, die Klägerin im Hinblick auf ausbleibende Zahlungen der Auftraggeber vertröstet zu haben, "obwohl ich wusste, dass kein Geld mehr kommt". Aus diesen Einlassungen erhellt plastisch, dass zwar objektiv tatsächlich Masselosigkeit bereits vorgelegen haben mag, ein entsprechender Anschein jedoch gerade (noch) nicht. Die Klägerin hatte es im Vertrauen auf die Erklärungen des W. letztlich auch unterlassen, bereits nach der Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses zeitnah einen Insg-Antrag zu stellen. Sie vertraute gerade auf den "Anschein" noch vorhandener Masse und durfte aus der Sicht eines unvoreingenommenen Dritten auch hierauf vertrauen. Ob sich dann zeitlich nach der Betriebseinstellung ein Anschein für Masseunzulänglichkeit oder eine tatsächliche Masselosigkeit ergeben hat, ist unerheblich.

Ausgehend vom danach allein maßgeblichen Insolvenzereignis der Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 13. Oktober 2008 bildet die Zeit vom 1. August 2006 bis 31. Oktober 2006, die letzten drei vorausgehenden Monate des Arbeitsverhältnisses zwischen der Klägerin und W., den von § 183 Abs. 1 SGB III umschriebenen Insg-Zeitraum. Die Klägerin hat ihren Insg-Antrag vom 24. September 2008 insoweit auch rechtzeitig innerhalb der Frist des § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III gestellt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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