S 12 R 192/12 ER

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Magdeburg (SAN)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 12 R 192/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 9. Februar 2012 gegen den Bescheid vom 19. Januar 2012 wird angeordnet. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Der Streitwert wird auf 24.038,39 Euro festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um eine Nachforderung von Beiträgen zur Sozialversicherung in Höhe von insgesamt 72.115,18 Euro.

Die Antragstellerin betreibt ein Dienstleistungsunternehmen ... Seit 2003 gehörte die Antragstellerin dem ... an. In der streitigen Zeit vom 01. Dezember 2005 bis zum 31. Dezember 2009 erkannte die Antragstellerin die Tarifverträge, die mit dem ...und mit der ...an.

Für den Zeitraum vom 01. Dezember 2005 bis 31. Dezember 2009 fand erstmals eine Betriebsprüfung am 01. Dezember 2010 bis 02. Dezember 2010 statt. Durch Bescheid vom 28. Dezember 2010 forderte die Antragsgegnerin für den Prüfzeitraum Beiträge von insgesamt 782,31 Euro nach. In diesem Bescheid verwies sie darauf, dass Feststellungen bzw. Beanstandungen bezüglich der durch Beschluss des BAG vom 14. Dezember 2010 festgestellten Tarifunfähigkeit der ...nicht Bestandteil dieses Beitragsbescheides seien. Hierzu ergehe nach weiterer Sachaufklärung ein gesonderter Bescheid.

In dem Zeitraum hatte die Antragstellerin ca ...Beschäftigte.

Zuletzt führte die Antragsgegnerin am 28. November 2011, 30. November 2011, 21. Dezember 2011 und 12. Januar 2012 eine Betriebsprüfung durch. Diese Prüfung bezog sich erneut auf den Zeitraum vom 01. Dezember 2005 bis 31. Dezember 2007. Anlass dafür war die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Dieses entschied durch Beschluss vom 14. Dezember 2010 (1 ABR 19/10), dass die ...nicht tariffähig ist. Durch Bescheid vom 19. Januar 2012 stellte die Antragsgegnerin Beitragsansprüche infolge der Unwirksamkeit des angewandten Tarifvertrages fest und erhob eine Nachforderung in Höhe von 72.115,18 Euro. Die Antragsgegnerin schätzte die geschätzte Lohndifferenz. Es erfolgte eine Pauschalisierung der Vergleichsentgelte über die 27 %-Methode.

Mit Schriftsatz vom 09. Februar 2012 erhob die Antragstellerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 19. Januar 2012 und machte geltend, die festgestellte Tarifunfähigkeit der ...gelte lediglich für die Zukunft. Darüber hinaus habe die Antragstellerin auf die Wirksamkeit der Tarifverträge vertrauen dürfen. Erst mit dem Beschluss vom 14. Dezember 2010 sei es zu einer Änderung der Rechtsprechung des BAG gekommen. Es bestehe ein Rückwirkungsverbot. Schließlich seien Beitragsnachforderungen verjährt.

Am 16. März 2012 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Magdeburg die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen den Bescheid vom 19. Januar 2012 beantragt.

Sie trägt vor, es bestünden ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes. Beitragsnachforderungen aus den Jahren 2005 und 2006 seien verjährt. Die Antragstellerin könne sich auf Vertrauensschutz berufen. Die Entscheidung des BAG gelte für die Zukunft.

Die Antragstellerin beantragt,

die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 09. Februar 2012 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 19. Januar 2012 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie ist der Ansicht, § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) sei nicht anzuwenden, da der Antragstellerin mit Bescheid vom 28. Dezember 2010 mitgeteilt worden sei, dass hinsichtlich der Tarifunfähigkeit der CGZP nach Sachaufklärung ein weiterer Bescheid ergehe.

II.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs ist zulässig und begründet.

Nach § 86 b Abs. 1 Nr. Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung in den Fällen anordnen, in denen Widerspruch oder Klage keine aufschiebende Wirkung haben. Diese Voraussetzungen sind gegeben. Die aufschiebende Wirkung entfällt gem. § 86 a Abs. 2 Nr. 1 SGG bei Entscheidungen über Beitragspflichten und die Anforderungen von Beiträgen sowie der darauf entfallenden Nebenkosten einschl. der Säumniszuschläge. Der Antrag ist erfolgreich, wenn bei Abwägung der Interessen, das Interesse der Antragstellerin an der Aussetzung der Vollziehung gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt. Im Rahmen der nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffenden gerichtlichen Entscheidung ist dabei insbesondere zu berücksichtigen, dass das Gesetz das Vollzugsrisiko bei Beitragsbescheiden grundsätzlich auf den Adressaten verlagert, vgl. § 86 a Abs. 2 Nr. 1 SGG. Die aufschiebende Wirkung ist dann anzuordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Für ernstliche Zweifel reicht es dabei nicht schon aus, dass im Rechtsbehelfsverfahren möglicherweise noch ergänzende Tatsachenfeststellungen zu treffen sind. Maßgebend ist, ob nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Eilentscheidung mehr für als gegen die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides spricht, d. h. wenn ein Erfolg des Rechtsbehelfs im Hauptsacheverfahren wahrscheinlicher ist als ein Misserfolg.

Unter Beachtung dieser Grundsätze überwiegt das private Aussetzungsinteresse der Antragstellerin das öffentliche Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin. Bei der im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens regelmäßig nur summarischen Prüfung ergeben sich ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides.

Im vorliegenden Fall hätte die Antragsgegnerin § 45 SGB X anwenden müssen. Für den streitigen Prüfzeitraum vom 01. Dezember 2005 bis 31. Dezember 2007 lag bereits ein bestandskräftiger Beitragsbescheid vom 28. Dezember 2010 vor. In diesem Bescheid vom 28. Dezember 2010 hat die Antragsgegnerin bereits darauf hingewiesen, dass Feststellungen bzw. Beanstandungen bezüglich des Beschlusses des BAG vom 14. Dezember 2010 noch nicht Bestandteil dieses Beitragsbescheides seien. Damit sollte der Empfänger des Bescheides davon in Kenntnis gesetzt werden, dass weitere Forderungen noch zu erwarten sind, weil die Beklagte Ende Dezember 2010 noch nicht wusste, wie sie die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 14. Dezember 2010 für die einzelnen Leiharbeitnehmerfirmen umsetzen sollte. Dies kann allenfalls bei den Vertrauensschutzgesichtspunkten eine Rolle spielen. Keinesfalls kann es dazu führen, dass die Regelungen der §§ 44 ff. SGB X nicht anzuwenden sind. Denn danach sind bereits bestandskräftige Bescheide unter bestimmten Voraussetzungen nur einer nachträglichen Beseitigung zugänglich. Liegen diese besonderen Voraussetzungen nicht vor, bleibt es bei dem ergangenen Bescheid. Dabei ist anerkannt, dass es bei der Anwendung des § 45 SGB X nicht auf die belastende frühere Beitragsnachforderung abzustellen ist, vielmehr ist aus Sicht der Antragstellerin der begünstigende Regelungsinhalt in dem Bescheid vom 28. Dezember 2010 zu würdigen, wonach die Beitragsnachforderungen niedriger festgesetzt worden sind. Jedenfalls ist dieser Bescheid nicht aufgehoben worden. Dies ist nicht geschehen. Auf den früheren Bescheid wurde nicht Bezug genommen.

Darüber hinaus ist die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X nicht eingehalten. Danach muss die Behörde innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen den Verwaltungsakt zurücknehmen, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen. Bereits zum Zeitpunkt der Bescheiderteilung am 28. Dezember 2010 hatte die Beklagte Kenntnis von der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 14. Dezember 2010. Auch die weiteren Tatsachen waren bekannt, insbesondere wie viele Arbeitnehmer in der Zeit des Prüfzeitraums beschäftigt waren. Weitere Ermittlungen zu den tatsächlichen Löhnen in den Entleiherfirmen sind in dem vorliegenden konkreten Verfahren nicht erfolgt, vielmehr kam es zu Schätzungen. Insoweit hätte die Entscheidung der Beklagten bis spätestens Ende Dezember 2011 ergehen müssen.

Dieser Rechtsgedanke des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X ist selbst dann anzuwenden, wenn man davon ausgeht, dass der Bescheid vom 28. Dezember 2010 einen sog. partiellen Verwaltungsakt darstellt. Aufgrund der Entscheidung des BAG vom 14. Dezember 2010, musste die Antragsgegnerin zunächst eine grundsätzliche Entscheidung treffen, wie in den vorliegenden Verfahren weiter zu ermitteln ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass dabei Jahresfristen außer Acht zu lassen sind. Der Bescheid ist hier jedoch erst Anfang 2012 ergangen.

Auf die streitige Frage zu den Erfolgsaussichten des Widerspruchs, in Bezug auf die rückwirkende Erstattungspflicht der beitragspflichtigen Arbeitgeber, wird keine abschließende Entscheidung getroffen. Insoweit wird darauf hingewiesen, dass die Gerichte diese Rechtsfrage unterschiedlich beantworten. Rechtsgrundlage des Beitragsbescheides ist § 28 p Abs. 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV). Nach § 28 p Abs. 1 Satz 1 SGB IV prüfen die Träger der Rentenversicherung bei den Arbeitgebern, ob diese ihre Meldepflichten und ihre sonstigen Pflichten aus diesem Gesetzbuch, die im Zusammenhang mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag stehen, ordnungsgemäß erfüllen. Nach § 28 p Abs. 1 Satz 5 1. Halbs. SGB IV erlassen die Träger der Rentenversicherung im Rahmen der Prüfung Verwaltungsakte zur Versicherungspflicht und Beitragshöhe in der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung gegenüber den Arbeitgebern. Die Antragsgegnerin hat in dem streitigen Beitragsbescheid die entsprechende Entscheidung getroffen. Diese Nachforderung ist bei tatsächlichem Bestehen der Beitragsschuld der Antragstellerin rechtmäßig. Dies setze voraus, dass die bei der Antragstellerin auf der Basis von den mit der ...abgeschlossenen Tarifverträgen beschäftigten Leiharbeiternehmern rückwirkend einen höheren Entgeltanspruch hätten und Beiträge noch erhoben werden können. Dies wird bejaht vom SG Würzburg vom 07. Februar 2012 zum Aktz. S 6 R 74/12 ER und SG Stralsund vom 05. März 2012 zum Aktz. S 3 R 80/12 ER und Bay. LSG vom 22. März 2012 zum Aktz. L 5 R 138/12 B ER und ausdrücklich offen gelassen vom Schlesw.Holstein. LSG vom 20. April 2012 zum Aktz. L 5 KR 9/12 B ER und SG Köln vom 29. März 2012 zum Aktz. S 12 R 369/12 ER, in diesen Entscheidungen werden jedoch zahlreiche Argumente gegen eine Rechtmäßigkeit der rückwirkenden Beitragsforderung aufgeführt.

Darüber hinaus hat das Gericht die wirtschaftlichen Belastungen der Antragstellerin berücksichtigt. Insoweit werden hier nicht unerhebliche Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 72.115,118 Euro gefordert. Es ist nicht ersichtlich, dass die Durchsetzbarkeit der Beitragsforderung bei positivem Ausgang des Verfahrens für die Antragsgegnerin gefährdet wäre. Die umstrittene Rechtsfrage muss zunächst höchstrichterlich entschieden werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 154 Abs. 1 VWGO. Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 4 Gerichtskostengesetz (GKG). Da es vorliegend um ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und die damit zusammenhängende Frage der summarischen Prüfung geht, ist die Streitwertfestsetzung auf 1/3 der Hauptforderung gerechtfertigt.
Rechtskraft
Aus
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