S 18 SO 33/12 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
18
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 18 SO 33/12 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Die Auslegung und Umdeutung des Antrages der Antragstellerin von einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86 b Abs. 2 SGG in einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtschutzes nach § 86 b Abs. 1 SGG ist zulässig und zur Gewährung effektiven Rechtschutzes geboten.

2. Die Leistungsgewährung des Pflegegeldes nach Art. 51 Abs. 1 PflegeVG basiert auf einem Dauerverwaltungsakt, mit der Folge, dass sich die Aufhebung der Leistungsgewährung nach §§ 45, 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) richtet und der Widerspruch aufschiebende Wirkung hat.
1. Es wird festgestellt, dass der Widerspruch der Antragstellerin vom 02.02.2012 gegen den Bescheid vom 30.01.2012 aufschiebende Wirkung hat.

2. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die vorläufige Gewährung von Leistungen nach Art. 51 Pflegeversicherungsgesetz.

Die Antragstellerin ist 1988 geboren. Sie leidet an einer Missbildung der Unterschenkel und teilweise der Finger.

Im amtsärztlichen Gutachten vom 18.10.1989 wird ausgeführt, dass die Antragstellerin der Hilfe beim Gehen, Waschen, An- und Auskleiden, der Nahrungsaufnahme, bei der Verrichtung der Notdurft und beim Aufstehen und Hinlegen bedürfe (Bl. 6 Verw.-Akte). Dies wurde im Gutachten am 15.01.1992 bestätigt (Bl. 8 Verw.-Akte).

Der Antragsgegner gewährte der Antragstellerin Leistungen nach Art. 51 des Pflegeversicherungsgesetzes (PflegeVG) (Bl. 55 f., 144 Verw.-Akte). Die Leistungsbewilligung mit Bescheid vom 10.05.2000 erfolgte "für den Monat 06/00" (Bl. 55 f. Verw.-Akte) und mit Bescheid vom 21.03.2003 "für den Monat 04/03" (Bl. 144 Verw.-Akte).

Mit Bescheid vom 06.04.2010 hob die Barmer GEK als Pflegekasse die Gewährung von Pflegegeld der Stufe 1 auf. In der Begründung wird ausgeführt, dass im Bereich der Grundpflege nur noch ein Hilfebedarf von 24 Minuten festgestellt sei und der Hilfebedarf bei der Hauswirtschaft mit 45 Minuten im Vordergrund stehe (Bl. 244 f. Verw.-Akte).

Am 03.01.2012 teilte die Mutter der Antragstellerin mit, dass die Antragstellerin seit April 2010 kein Pflegegeld mehr von der Pflegekasse erhalte (Bl. 237 Verw.-Akte).

Mit Schreiben vom 18.01.2012 wurde die Antragstellerin durch den Antragsgegner aufgeforderte das vollständige Pflegegutachten vorzulegen (Bl. 247 Verw.-Akte).

Mit Schreiben vom 23.01.2012 übersandte die Antragstellerin das angeforderte Pflegegutachten (Bl. 250 Verw.-Akte).

Mit Bescheid vom 30.01.2012 teilte der Antragsgegner der Antragstellerin mit, dass die Leistungen zum 31.01.2012 eingestellt werden (Bl. 264 Verw.-Akte).

Mit Schreiben vom 02.02.2012 legte die Antragstellerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, Widerspruch ein, über den noch nicht entschieden worden ist.

Die Antragstellerin hat am 26.03.2012 einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beim Sozialgericht Gießen gestellt (Bl. 267 Verw.-Akte).

Die Antragstellerin ist der Ansicht, dass der Antragsgegner ihr die Leistungen weiterhin gewähren müsse. Sie sei zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes auf die Leistungen angewiesen. Die Leistungsbewilligung stelle sich unter Berücksichtigung des Empfängerhorizonts als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung dar. Wäre die Leistung wie der Antragsgegner es darstelle nur befristet zuerkannt, hätte es einer Aufhebung der Leistung nicht bedurft.

Die Antragstellerin beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin das Besitzstandspflegegeld gemäß Art. 51 PflegeVG auch weiterhin in voller Höhe zu gewähren (629,40 EUR).

Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abzulehnen.

Er ist der Ansicht, dass nach dem Pflegegutachten des MH. die Voraussetzungen für die Gewährung des Pflegegeldes nicht mehr vorliegen. Der Antragsgegner ist der Ansicht, dass die Leistungsgewährung nicht auf einem Dauerverwaltungsakt beruht und deshalb der Widerspruch keine aufschiebende Wirkung habe.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist zulässig.

Der Antrag der Antragstellerin wird nach § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG) dahingehend ausgelegt, dass die Antragstellerin die Feststellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruches vom 02.02.2012 gegen den Bescheid vom 30.01.2012 begehrt. Rechtsgrundlage des Antrages auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes bildet damit § 86 b Abs. 1 SGG. Die Auslegung und Umdeutung des Antrages der Antragstellerin von einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86 b Abs. 2 SGG in einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtschutzes nach § 86 b Abs. 1 SGG ist zulässig und hier zur Gewährung effektiven Rechtschutzes geboten (vgl. LSG Darmstadt, Beschluss von 18.04.2007, Az.: L 7 SO 85/06 ER, Rdnr. 24; LSG Darmstadt, Beschluss von 26.08.2008, Az.: L 9 SO 56/08 B ER, Rdnr. 32; Keller, in: Meyer-Ladewig, SGG-Kommentar, 10. Auflage, München 2012, § 86 b Rdnr. 9).

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruches der Antragstellerin vom 02.02.2012 wird festgestellt. Denn die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruches vom 02.02.2012 kann nicht erfolgen, da die aufschiebende Wirkung des Widerspruches zu keinem Zeitpunkt entfallen ist.

Grundsätzlich hat der Widerspruch der Antragstellerin damit aufschiebende Wirkung (§ 86a Abs. 1 SGG).

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruches entfällt auch nicht nach § 86 a Abs. 2 SGG. Gemäß § 86 a Abs. 2 SGG entfällt die aufschiebende Wirkung

1. bei der Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten sowie der Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben einschließlich der darauf entfallenden Nebenkosten,

2. in Angelegenheiten des sozialen Entschädigungsrechts und der Bundesagentur für Arbeit bei Verwaltungsakten, die eine laufende Leistung entziehen oder herabsetzen,

3. für die Anfechtungsklage in Angelegenheiten der Sozialversicherung bei Verwaltungsakten, die eine laufende Leistung herabsetzen oder entziehen,

4. in anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen,

5. in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten ist und die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnet.

Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass einer der Fallgruppen des § 86 a Abs. 2 SGG vorliegt, da die Beteiligten über Leistungen nach Art. 51 PflegeVG streiten. Die Voraussetzungen des § 86 a Abs. 2 Nr. 3 SGG liegen nicht vor, denn bei dem Pflegegeld handelt es sich nicht um eine Leistung der Sozialversicherung, sondern um eine vom Träger der Sozialhilfe erbrachte Leistung (vgl. Art. 51 Abs. 1 PflegeVG).

Die Leistungsgewährung des Pflegegeldes basiert entgegen der Ansicht des Antragsgegners auf einem Dauerverwaltungsakt mit der Folge, dass sich die Aufhebung der Leistungsgewährung nach §§ 45, 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) richtet und der Widerspruch aufschiebende Wirkung hat.

Der Antragsgegner kann sich nicht darauf berufen, dass die Leistungsbewilligung im Bescheid vom 10.05.2000 "für den Monat 06/00" (Bl. 55 f. Verw.-Akte) und im Bescheid vom 21.03.2003 "für den Monat 04/03" (Bl. 144 Verw.-Akte) erfolgte. Seit dem 21.03.2003 ist ausweislich der Akte kein weiterer Bescheid an die Antragstellerin ergangen.

"Zwar stellte die Sozialhilfe nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum BSHG wegen ihres Gegenwartscharakters keine rentengleiche Dauerleistung dar (vgl. BVerwGE 25, 307, 309). Es kann indes dahinstehen, ob dieser Rechtsprechung unter der Geltung des SGB XII weiterhin uneingeschränkt zu folgen wäre, zumal etwa die Grundsicherung im Alter und bei dauerhafter Erwerbsminderung nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in der Regel für 12 Monate zu bewilligen ist, so dass ein derartiger Bewilligungsbescheid in jedem Fall als Dauerverwaltungsakt zu qualifizieren ist (vgl. Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 44 Rdnr. 1). [ ] Bereits nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts waren verstärkte Tendenzen zur Öffnung des Sozialhilferechts auch für das Institut des Dauerverwaltungsaktes zu erkennen, so wenn die Auslegung ergab, dass der Sozialhilfeträger den Hilfefall nicht nur für den nächstliegenden Zahlungszeitraum, sondern für einen längeren Zeitraum geregelt hatte (BVerwGE 99, 149)" (LSG Darmstadt, Beschluss von 18.04.2007, Az.: L 7 SO 85/06 ER, Rn. 26).

Das BSG teilt ebenfalls nicht die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes, wonach "Sozialhilfe sei keine rentengleiche Dauerleistung und werde dementsprechend regelmäßig nicht durch einen Dauerverwaltungsakt bewilligt, sondern sei gleichsam täglich neu regelungsbedürftig (BVerwGE 25, 307, 308 f; 57, 237, 239), sodass deshalb eine Anwendung von § 48 SGB X ausschied" (BSG, Urteil vom 02.02.2012, Az.: B 8 SO 5/10 R, Rdnr. 21).

Bei dem Bescheid vom 21.03.2003 handelt es sich um einen Dauerverwaltungsakt. "Ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung liegt vor, wenn sein Regelungsinhalt vom Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes her nach seinen rechtlichen Wirkungen in die Zukunft fortwirken soll, sich also über eine einmalige Gestaltung der Rechtslage hinaus auf eine gewisse bestimmte oder unbestimmte zeitliche Dauer in der Zukunft erstreckt (BSGE 56, 165; 58, 27; 61, 286; 78, 109). Für die Feststellung, ob es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handelt, ist maßgeblich, wie ihn ein Leistungsberechtigter bei objektiver Würdigung verstehen kann (vgl. dazu: Rothkegel/Grieger in: Sozialhilferecht, 1. Auflage 2005, Teil IV Kapitel 6 S. 686 f, Rdnr. 52 ff.)" (LSG Niedersachsen-Bremen, Bremen, Beschluss vom 24.01.2006, Az.: L 8 SO 83/05 ER, Rdnr. 12).

Mit dem Bescheid vom 21.03.2003 wurden die Leistungen für unbestimmte Zeit gewährt. Dem steht nicht entgegen, dass die Leistungsbewilligung nach dem Verfügungssatz "für den Monat 06/00" (Bl. 56 f. Verw.-Akte) bzw. "für den Monat 04/03" (Bl. 144 Verw.-Akte) erfolgte. Denn in den Bescheiden wird ausgeführt, dass die weitere Leistungsgewährung ohne neuen Antrag erfolgt. Aufgrund dieses Passus konnte die Antragstellerin von einer Leistungsgewährung für unbestimmte Zeit und nicht bloß für die Monate Juni 2000 und April 2003 ausgehen. Das Änderungen in den Verhältnissen mitzuteilen sind, stellt lediglich ein Hinweis auf die geltende Rechtslage dar, bewirkt aber nicht die Befristung der Leistungswährung auf die Monate Juni 2000 und April 2003.

Aus diesen Gründen hat der Widerspruch der Antragstellerin gegen den Bescheid vom 30.01.2012 aufschiebende Wirkung, denn die sofortige Vollziehung wurde nicht angeordnet. Aus diesem Grund hat der Bescheid derzeit keine rechtlichen Auswirkungen (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24.01.2006, Az.: L 8 SO 83/05 ER). Anders als das SGB II enthält das SGB XII keine Norm, welche die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage entfallen lässt, weshalb der Widerspruch nach § 86 a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 93 SGG analog.

Gegen die Entscheidung ist das Rechtsmittel der Beschwerde nach § 172 Abs.1 SGG statthaft.
Rechtskraft
Aus
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