Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 16 AL 4404/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Insolvenzgeldvorschriften des SGB III sind europarechts-
konform dahingehend auszulegen, dass ein zweites formelles
Insolvenzereignis nach förmlichem Abschluss einer Insolvenz-
planüberwachung zur Begründung des Insolvenzgeldanspruchs genügt (Anschluss an Sächs. LSG, 09.03.2011 -
L 1 AL 241/06)
konform dahingehend auszulegen, dass ein zweites formelles
Insolvenzereignis nach förmlichem Abschluss einer Insolvenz-
planüberwachung zur Begründung des Insolvenzgeldanspruchs genügt (Anschluss an Sächs. LSG, 09.03.2011 -
L 1 AL 241/06)
1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 06.08.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.09.2010 verurteilt, der Klägerin hinsichtlich des in der Zeit vom 01.05.2010 bis zum 07.07.2010 ausgefal-lenen Arbeitsentgelts aus der Beschäftigung bei der xxx GmbH Insolvenzgeld in gesetzlicher Höhe zu ge-währen. 2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Bewilligung von Insolvenzgeld nach dem Sozialge-setzbuch Drittes Buch (SGB III) für in den Monaten Mai bis Juli 2010 ausgefallenes Arbeitsentgelt.
Die Klägerin war als Produktionsmitarbeiterin bei der xxx GmbH versicherungspflichtig beschäftigt. Über das Vermögen der xxx GmbH wurde mit Beschluss des Amtsgerichts Karlsruhe vom 23.11.2004 (Az. 2 IN 963/04) das Insolvenzverfahren eröffnet. Es wurde ein Insolvenzplan erstellt, der unter anderem auch Forderungen der Beklagten aus Insolvenzgeldzahlungen im Zusammenhang mit diesem Insolvenzereignis betrafen (Bestätigungsbeschluss des Amtsgerichts Karlsruhe vom 21.12.2005). Das Insolvenzverfahren endete durch Einstellungsbeschluss des Amtsgerichts Karlsruhe vom 29.12.2006. Die angeordnete Planüberwachung hob das Amtsgericht Karlsruhe mit Beschluss vom 11.02.2010 wegen Zeitablaufs (Ablauf von drei Jahren ohne erneuten Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens) gemäß § 268 Abs. 1 Nr. 2 Insolvenz-ordnung (InsO) auf. Am 06.07.2010 beantragte die xxx GmbH erneut die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. Ein zweites Insolvenzverfahren über das Vermögen der xxx GmbH eröffnete das Amtsgerichts Karlsruhe mit Beschluss vom 02.11.2010 eröffnet (Az. G2 IN 794/10).
Am 31.07.2010 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Insolvenzgeld für in der Zeit vom 01.05.2010 bis zum 07.07.2010 ausgefallenes Arbeitsentgelt.
Dies lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 06.08.2010 mit der Begründung ab, mangels wiederhergestellten Zahlungsfähigkeit liege eine berücksichtigungsfähige zweite Insolvenz der xxx GmbH nicht vor.
Hiergegen wandte sich die Klägerin mit Widerspruch vom 27.08.2010 und trug vor, das letzte, im Jahr 2004 eingeleitete Insolvenzverfahren sei abgeschlossen gewesen. In der Zwischenzeit haben sie regelmäßig und pünktlich Gehaltszahlungen seitens der xxx GmbH erhalten.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 27.09.2010 zu-rück. Darin führte sie aus, die xxx GmbH habe entgegen der Verpflichtungen aus dem Insolvenzplan in den Jahren 2007 bis 2009 keinerlei Zahlungen an sie geleistet. In der Folge habe die Beklagte die Erfüllung der Zahlungsverpflichtungen aus dem In-solvenzplan mit Schreiben vom 03.11.2009 angemahnt und ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei Nichterfüllung des Insolvenzplans im Fall einer erneuten Insolvenz mangels wiederhergestellter Zahlungsfähigkeit kein erneuter Anspruch auf Insolvenzgeld bestehe. Dies entspreche der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gemäß Urteil vom 29.05.2008 (Az. B 11a AL 57/06 R).
Mit der am 21.10.2010 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie trägt vor, die erneute Insolvenz sei Folge der besonderen wirtschaftlichen Lage in den Jahren 2009 und 2010. Mit der Beendigung der Planüberwachung Anfang 2010 sei das vorangegangene Insolvenzverfahren abgeschlossen gewesen. Die Klägerin verweist hierzu auf die Entscheidung des Sächsischen Landessozialgerichts vom 09.03.2011 (Az. L 1 AL 241/06). Insoweit sei zu ihren Gunsten zumindest einen Ver-trauenstatbestand erfüllt. Hierbei müsse berücksichtigt werden, dass seitens der Be-klagten keine Warnung an die Beschäftigten der xxx GmbH erfolgt sei, obgleich diese gewusst habe, dass angesichts der ausstehenden Verbindlichkeiten eine Zahlung von Insolvenzgeld im Falle eines neuen Insolvenzantrags nach ihrer Rechtsauffassung ausscheide (Schreiben der Beklagten vom 03.11.2009). Im Übrigen habe es die Beklagte unterlassen, wegen der Nichterfüllung ihrer Forderungen von dem ihr selbst zustehenden Insolvenzantragsrecht Gebrauch zu machen.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 06.08.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.09.2010 zu verurteilen, ihr hinsichtlich des in der Zeit vom 01.05.2010 bis zum 07.07.2010 ausgefallenen Arbeitsentgelts aus der Beschäftigung bei der xxx GmbH Insolvenzgeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte trägt vor, für die Wiedererlangung der Zahlungsfähigkeit sei es in der Regel erforderlich, dass ein Arbeitgeber auch bezüglich seiner Altschulden eine Re-gelung treffen, die der Sanierung des Unternehmens ausreichend Rechnung trage. Eine solche sei jedenfalls bezüglich ihrer eigenen Forderungen nicht getroffen worden. Die Erfüllung laufender Verbindlichkeiten genüge demgegenüber auch dann nicht, wenn zwischen den jeweiligen Insolvenzereignis ein längerer zeitlicher Abstand liege. Zur Einreichung eines eigenen Insolvenzantrag sei die Beklagte nicht verpflichtet. Hiervon habe sie gerade im Hinblick auf den Erhalt bestehender Arbeitsplätze abgesehen. Es bestehe auch keine Verpflichtung eines Gläubigers, andere Gläubiger darüber zu unterrichten, dass seine Forderungen noch nicht beglichen seien. Die Auffassung des Sächsischen Landessozialgerichts teile sie nicht. Bei Nichterfüllung des Insolvenzplans sei die xxx GmbH vielmehr auch nach Aufhebung der Planüberwachung wegen Zeitablaufs verpflichtet gewesen, ihre Gläubiger zu befriedigen. Insoweit sei sie nach dem Insolvenzplan zu Vollstreckungshandlungen berechtigt gewesen. Es bestehe ein Unterschied, ob die Planüberwachung wegen Erfüllung der Ansprüche oder rein wegen Zeitablaufs aufgehoben werde. Nachdem die xxx GmbH zahlreiche Zahlungsverpflichtungen aus dem Insolvenzplan nicht erfüllt habe, habe sie ihre Zahlungsfähigkeit bis zum neuerlichen Insolvenzantrag, mit dem sie Vollstre-ckungshandlungen ihrer Gläubiger zuvorgekommen sei, nicht wiedererlangt.
Die Beklagte hat eine Stellungnahme des zuständigen Sachbearbeiters vom 07.02.2012 vorgelegt, auf die im Einzelnen Bezug genommen wird.
Die Kammer hat die Verfahrensakten des Amtsgerichts Karlsruhe zu den dortigen Insolvenzverfahren (Az. 2 IN 963/04 und G2 IN 794/10) beigezogen.
Für das weitere Vorbringen der Beteiligten und die Einzelheiten zum Sachverhalt wird auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
1. Die zulässige Klage ist begründet. Die Ablehnungsentscheidung der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat hinsichtlich des in der Zeit vom 01.05.2010 bis zum 07.07.2010 aus der Beschäftigung bei der xxx GmbH wegen der erneuten Insolvenz ausgefallenen Arbeitsentgelts Anspruch auf Insolvenzgeld.
Anspruch auf Insolvenzgeld haben gemäß § 183 SGB III in der hier maßgeblichen, bis zum 31.03.2012 geltenden Fassung Arbeitnehmer, die im Inland beschäftigt waren und bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen ihres Arbeitgebers, Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse oder vollständiger Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht gestellt worden ist und ein Insolvenzverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt, (Insolvenzereignis) für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben. Ein entsprechender Antrag ist innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Monaten nach dem Insolvenzereignis zu stellen (§ 324 Abs. 3 SGB III). Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin hinsichtlich des im streitgegenständlichen Zeitraum ausgefallenen Arbeitsentgelts vor.
a) Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch Beschluss des Amtsgerichts Karlsruhe vom 02.11.2010 (Az. G2 IN 794/10) stellt ein berücksichtigungsfähiges Insolvenzereignis im Sinne von § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F. dar. Die Klägerin hatte aufgrund der Eröffnung des ersten Insolvenzverfahrens über das Vermögen der xxx GmbH am 23.11.2004 (Az. 2 IN 963/04) zwar bereits In-solvenzgeld erhalten. Aufgrund dieses Insolvenzereignisses steht ihr daher – auch unter Berücksichtigung der Vertrauensschutzregelung gemäß § 183 Abs. 2 SGB III a.F. – kein Insolvenzgeld mehr zu. Das vorangegangene, im Jahr 2004 eröffnete Insolvenzverfahren entfaltet allerdings keine Sperrwirkung und steht einem Insolvenzgeldanspruch für den streitgegenständlichen Zeitraum daher nicht entgegen. Bei dem im Jahr 2010 eingetretenen handelt es sich vielmehr und ein neues Insolvenzereignis im Sinne der Insolvenzgeldvorschriften.
aa) Ein neues Insolvenzereignis tritt nach der Rechtsprechung des Bundessozialge-richts zwar grundsätzlich nicht ein, solange die auf einem bestimmten Insol-venzereignis beruhende Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers andauert. Eine andauernde Zahlungsunfähigkeit in diesem Sinne ist so lange anzunehmen, wie er nicht in der Lage ist, seine fälligen Geldschulden im Allgemeinen zu erfüllen. Sie endet nicht bereits dann, wenn der Schuldner einzelne Zahlungsverpflichtungen wieder erfüllt (Bundessozialgericht, Urteil vom 29.05.2008 – B 11a AL 57/06 R, Rdnr. 11; Urteil vom 21.11.2002 – B 11 AL 35/02 R, Rdnr. 14, jeweils m.w.N. (Juris)). Für eine erneute Zahlungsfähigkeit genügt es daher nicht, wenn die Betriebstätigkeit fortgeführt wird und die laufenden Verbindlichkeiten wie z.B. Lohnansprüche befriedigt werden. Vielmehr muss grundsätzlich auch hinsichtlich der Altschulden eine Sanierungsregelung getroffen sein (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 11.01.1989 – 10 RAr 7/87, Rdnr. 15; Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 06.09.2005 – L 11 AL 38/05, Rdnr. 19; Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 21.02.2003 – L 3 AL 66/02, Rdnr. 34 (Juris); Krodel, in: NIESEL/BRAND, SGB III, 5. Aufl. 2010, § 183 Rdnr. 37 m.w.N.).
Allein die Bestätigung des Insolvenzplans und die darauf folgende Aufhebung des Insolvenzverfahrens, hier durch Beschluss des Amtsgerichts Karlsruhe vom 29.12.2006, beseitigt vor diesem Hintergrund allein nicht eingetretenen (ersten) Insolvenzfall (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 21.11.2002 – B 11 AL 35/02 R, Rdnrn. 17 ff. (Juris)). Von einer Fortdauer des ersten Insolvenzereignisses ist vielmehr jedenfalls so lange auszugehen, wie die im Insolvenzplan vorgesehene Überwachung der Planerfüllung andauert. Denn während der Dauer der Planüberwachung wird der Zusammenhang mit dem vorangegangenen Insol-venzverfahren durch die fortbestehenden Aufgaben und Befugnisse des Insol-venzverwalters und die Aufsicht des Insolvenzgerichts dokumentiert (vgl. Bun-dessozialgericht, Urteil vom 29.05.2008 – B 11a AL 57/06 R, Rdnr.14 (Juris)). Die Möglichkeit eines erneuten insolvenzgeldrelevanten Insolvenzereignisses war daher zumindest während der bis zum 11.02.2010 dauernden Phase der Planüberwachung ausgeschlossen. Auch danach war die xxx GmbH materiell-rechtlich gesehen nicht in der Lage, ihre fälligen Verbindlichkeiten im Allgemeinen zu erfüllen. Der Insolvenzplan wurde nicht vollständig erfüllt, sondern es bestanden eine Vielzahl von Restverbindlichkeiten, die zu erfüllen das Unternehmen nicht in der Lage war. Auf den Bericht des Insolvenzverwalters im Folgeinsolvenzverfahren vom 13.01.2011 wird insoweit Bezug genommen.
bb) Gleichwohl kommt es auf die Wiedererlangung der Zahlungsfähigkeit im mate-riellen Sinne nach förmlichem Abschluss einer Insolvenzplanüberwachung nicht an. § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB III a.F. (jetzt: § 165 Abs. 1. Satz 1 SGB III) ist vielmehr europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass auch ein nachfolgendes formelles Insolvenzereignis trotz fortbestehender Insolvenz ausreicht, um einen Anspruch auf Insolvenzgeld auszulösen. Dies folgt daraus, dass der nationale Gesetzgeber von der ihm durch das europäische Richtlinienrecht (Richtlinie 2008/94/EG vom 22.10.2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. EU L 283 vom 28.10.2008, S. 36 ff., früher Richtlinie 80/987/EWG vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. EG L 283 vom 28.10.1980, S. 23 ff., zuletzt in der durch die Richtlinie 2002/74/EG vom 23.09.2002 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. EG vom 08.10.2001, S. 10 ff., geänderten Fassung) eingeräumten Möglichkeit der Zusammenfassung mehrerer Insolvenzverfahren zu einem Gesamtverfahren keinen Gebrauch gemacht hat.
Nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94/EG gilt ein Arbeitgeber als zahlungs-unfähig, wenn die Eröffnung eines nach den Rechts- und Verwaltungsvorschriften eines Mitgliedstaates vorgeschriebenen Gesamtverfahrens beantragt worden ist, das die Insolvenz des Arbeitgebers voraussetzt und den teilweisen oder vollständigen Vermögensbeschlag gegen diesen Arbeitgeber sowie die Bestel-lung eines Verwalters oder einer Person, die eine ähnliche Funktion ausübt, zur Folge hat, und wenn entweder die aufgrund der genannten Rechts- und Verwal-tungsvorschriften zuständige Behörde die Eröffnung des Verfahrens beschlossen oder sie festgestellt hat, dass das Unternehmen oder der Betrieb des Ar-beitgebers endgültig stillgelegt worden ist und die Vermögensmasse nicht aus-reicht, um die Eröffnung des Verfahrens zu rechtfertigen. Nach Nummer 4 der Erwägungsgründe zur Richtlinie 2008/94/EG sollen die Mitgliedstaaten, um zu bestimmen, ob die Garantieeinrichtung zu einer Zahlung verpflichtet ist, vorsehen können, dass für den Fall, dass das Vorliegen einer Insolvenz zu mehreren Insolvenzverfahren führt, die Situation so behandelt wird, als handelte es sich um ein einziges Insolvenzverfahren. Während die Richtlinie also grundsätzlich an ein formelles Insolvenzereignis anknüpft, ermöglicht sie den Mitgliedstaaten die insolvenzgeldrechtliche Zusammenfassung mehrerer formeller Insolvenzereignisse zu einem Gesamtverfahren. Zusätzlich haben die Mitgliedstaaten nach Art. 12 a) der Richtlinie 2008/94/EG das Recht, die erforderlichen Maßnahmen zur Missbrauchsabwehr zu treffen. Hiervon hat der nationale Gesetzgeber in § 183 Abs. 2 SGB III a.F. dadurch Gebrauch gemacht, dass er bei Weiterarbeit oder Arbeitsaufnahme nach Eintritt des Insolvenzereignisses grundsätzlich an die Kenntnis des Arbeitnehmers anknüpft. Daneben ist die Anordnung eines Gesamtverfahrens im Sinne einer Zusammenfassung mehrerer formeller Insol-venzereignisse zu einem Gesamtverfahren im deutschen Recht allerdings nicht erfolgt. Es handelt sich hierbei um eine wirtschafts- und sozialpolitische Ent-scheidung erheblicher Tragweite, die allein dem parlamentarischen Gesetzgeber obliegt. Dieser hat aber bislang eine entsprechende Anordnung nicht getroffen und Voraussetzungen definiert, unter denen ein zweites Insolvenzverfahren, das auf ein erstes Insolvenzverfahren mit angeschlossenem und formell beendeten Insolvenzplanverfahren wie hier mit zeitlichem Abstand folgt, nur ein un-selbständiger Teil des ersten Verfahrens ist. Nur durch eine entsprechende ein-deutige gesetzgeberische Regelung würde indes gewährleistet, dass Arbeit-nehmer ihr Verhalten im Wissen darum, dass an die Weiterbeschäftigung trotz förmlicher Beendigung eines Insolvenzverfahrens keine Insolvenzgeldansprüche geknüpft sind, ggf. einstellen können. Denn es kann von einem Arbeitnehmer schlechterdings nicht erwartet werden, die Liquidität seines Arbeitgebers zu beurteilen und sein Verhalten daran auszurichten, wenn dieser seine Unter-nehmenstätigkeit nach Abschluss eines förmlichen Planüberwachungsverfahrens ohne weitere behördliche Aufsicht fortsetzt. Ungeachtet dessen, dass der Arbeitnehmer weder über Wege noch über Mittel verfügen dürfte, um eine solche Prüfung durchzuführen, besteht nach dem öffentlich bekannt gegebenen Ende der Überwachungsphase bei ununterbrochenen Lohnzahlungen überhaupt kein Anlass zu Zweifeln an der Zahlungsfähigkeit des Arbeitgebers. Die von der Beklagten favorisierte Auslegung, die allein auf der Fortentwicklung von Richterrecht beruht und im Gesetzeswortlaut nicht zwingend angelegt ist, würde vor diesem Hintergrund zu einer unangemessenen Belastung des durch die In-solvenzgeldvorschriften geschützten Arbeitnehmers führen (vgl. zum Vorstehenden ausführlich Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 09.03.2011 – L 1 AL 241/06, Rdnrn. 58 ff. (Juris); Frank/Heinrich, NZI 2011, S. 569 ff.; Frank, NZS 2011, S. 689 ff.).
Nachdem eine gesetzliche Regelung zur insolvenzgeldrechtlichen Zusammen-fassung mehrerer formeller Insolvenzereignisse bislang nicht existiert (vgl. hierzu die Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zur Ver-besserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 08.07.2011, BR-Drucks. 313/11, S. 3 ff., und die Gegenäußerung der Bundesregierung vom 25.08.2011, BT-Drucks. 17/6853, S. 18), kann an eine solches bei europa-rechtskonformer Auslegung des geltenden Insolvenzgeldrechts in Fällen wie dem vorliegenden, in denen ein Unternehmen nach Durchführung eines Insolvenzverfah-rens ohne insolvenzrechtliche Beschränkungen weiter operiert, nicht angeknüpft werden.
b) Bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens 02.11.2010 hatte die Klägerin noch offene Ansprüche auf Arbeitsentgelt aus den dem Insolvenzereignis vorausgehenden letzten drei Monaten ihres Arbeitsverhältnisses, hier der Zeit vom 01.05.2010 bis zum 07.07.2010. c) Die Klägerin hat Insolvenzgeld schließlich auch rechtzeitig (§ 324 Abs. 3 SGB III) bei der Beklagten beantragt.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Bewilligung von Insolvenzgeld nach dem Sozialge-setzbuch Drittes Buch (SGB III) für in den Monaten Mai bis Juli 2010 ausgefallenes Arbeitsentgelt.
Die Klägerin war als Produktionsmitarbeiterin bei der xxx GmbH versicherungspflichtig beschäftigt. Über das Vermögen der xxx GmbH wurde mit Beschluss des Amtsgerichts Karlsruhe vom 23.11.2004 (Az. 2 IN 963/04) das Insolvenzverfahren eröffnet. Es wurde ein Insolvenzplan erstellt, der unter anderem auch Forderungen der Beklagten aus Insolvenzgeldzahlungen im Zusammenhang mit diesem Insolvenzereignis betrafen (Bestätigungsbeschluss des Amtsgerichts Karlsruhe vom 21.12.2005). Das Insolvenzverfahren endete durch Einstellungsbeschluss des Amtsgerichts Karlsruhe vom 29.12.2006. Die angeordnete Planüberwachung hob das Amtsgericht Karlsruhe mit Beschluss vom 11.02.2010 wegen Zeitablaufs (Ablauf von drei Jahren ohne erneuten Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens) gemäß § 268 Abs. 1 Nr. 2 Insolvenz-ordnung (InsO) auf. Am 06.07.2010 beantragte die xxx GmbH erneut die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. Ein zweites Insolvenzverfahren über das Vermögen der xxx GmbH eröffnete das Amtsgerichts Karlsruhe mit Beschluss vom 02.11.2010 eröffnet (Az. G2 IN 794/10).
Am 31.07.2010 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Insolvenzgeld für in der Zeit vom 01.05.2010 bis zum 07.07.2010 ausgefallenes Arbeitsentgelt.
Dies lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 06.08.2010 mit der Begründung ab, mangels wiederhergestellten Zahlungsfähigkeit liege eine berücksichtigungsfähige zweite Insolvenz der xxx GmbH nicht vor.
Hiergegen wandte sich die Klägerin mit Widerspruch vom 27.08.2010 und trug vor, das letzte, im Jahr 2004 eingeleitete Insolvenzverfahren sei abgeschlossen gewesen. In der Zwischenzeit haben sie regelmäßig und pünktlich Gehaltszahlungen seitens der xxx GmbH erhalten.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 27.09.2010 zu-rück. Darin führte sie aus, die xxx GmbH habe entgegen der Verpflichtungen aus dem Insolvenzplan in den Jahren 2007 bis 2009 keinerlei Zahlungen an sie geleistet. In der Folge habe die Beklagte die Erfüllung der Zahlungsverpflichtungen aus dem In-solvenzplan mit Schreiben vom 03.11.2009 angemahnt und ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei Nichterfüllung des Insolvenzplans im Fall einer erneuten Insolvenz mangels wiederhergestellter Zahlungsfähigkeit kein erneuter Anspruch auf Insolvenzgeld bestehe. Dies entspreche der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gemäß Urteil vom 29.05.2008 (Az. B 11a AL 57/06 R).
Mit der am 21.10.2010 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie trägt vor, die erneute Insolvenz sei Folge der besonderen wirtschaftlichen Lage in den Jahren 2009 und 2010. Mit der Beendigung der Planüberwachung Anfang 2010 sei das vorangegangene Insolvenzverfahren abgeschlossen gewesen. Die Klägerin verweist hierzu auf die Entscheidung des Sächsischen Landessozialgerichts vom 09.03.2011 (Az. L 1 AL 241/06). Insoweit sei zu ihren Gunsten zumindest einen Ver-trauenstatbestand erfüllt. Hierbei müsse berücksichtigt werden, dass seitens der Be-klagten keine Warnung an die Beschäftigten der xxx GmbH erfolgt sei, obgleich diese gewusst habe, dass angesichts der ausstehenden Verbindlichkeiten eine Zahlung von Insolvenzgeld im Falle eines neuen Insolvenzantrags nach ihrer Rechtsauffassung ausscheide (Schreiben der Beklagten vom 03.11.2009). Im Übrigen habe es die Beklagte unterlassen, wegen der Nichterfüllung ihrer Forderungen von dem ihr selbst zustehenden Insolvenzantragsrecht Gebrauch zu machen.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 06.08.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.09.2010 zu verurteilen, ihr hinsichtlich des in der Zeit vom 01.05.2010 bis zum 07.07.2010 ausgefallenen Arbeitsentgelts aus der Beschäftigung bei der xxx GmbH Insolvenzgeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte trägt vor, für die Wiedererlangung der Zahlungsfähigkeit sei es in der Regel erforderlich, dass ein Arbeitgeber auch bezüglich seiner Altschulden eine Re-gelung treffen, die der Sanierung des Unternehmens ausreichend Rechnung trage. Eine solche sei jedenfalls bezüglich ihrer eigenen Forderungen nicht getroffen worden. Die Erfüllung laufender Verbindlichkeiten genüge demgegenüber auch dann nicht, wenn zwischen den jeweiligen Insolvenzereignis ein längerer zeitlicher Abstand liege. Zur Einreichung eines eigenen Insolvenzantrag sei die Beklagte nicht verpflichtet. Hiervon habe sie gerade im Hinblick auf den Erhalt bestehender Arbeitsplätze abgesehen. Es bestehe auch keine Verpflichtung eines Gläubigers, andere Gläubiger darüber zu unterrichten, dass seine Forderungen noch nicht beglichen seien. Die Auffassung des Sächsischen Landessozialgerichts teile sie nicht. Bei Nichterfüllung des Insolvenzplans sei die xxx GmbH vielmehr auch nach Aufhebung der Planüberwachung wegen Zeitablaufs verpflichtet gewesen, ihre Gläubiger zu befriedigen. Insoweit sei sie nach dem Insolvenzplan zu Vollstreckungshandlungen berechtigt gewesen. Es bestehe ein Unterschied, ob die Planüberwachung wegen Erfüllung der Ansprüche oder rein wegen Zeitablaufs aufgehoben werde. Nachdem die xxx GmbH zahlreiche Zahlungsverpflichtungen aus dem Insolvenzplan nicht erfüllt habe, habe sie ihre Zahlungsfähigkeit bis zum neuerlichen Insolvenzantrag, mit dem sie Vollstre-ckungshandlungen ihrer Gläubiger zuvorgekommen sei, nicht wiedererlangt.
Die Beklagte hat eine Stellungnahme des zuständigen Sachbearbeiters vom 07.02.2012 vorgelegt, auf die im Einzelnen Bezug genommen wird.
Die Kammer hat die Verfahrensakten des Amtsgerichts Karlsruhe zu den dortigen Insolvenzverfahren (Az. 2 IN 963/04 und G2 IN 794/10) beigezogen.
Für das weitere Vorbringen der Beteiligten und die Einzelheiten zum Sachverhalt wird auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
1. Die zulässige Klage ist begründet. Die Ablehnungsentscheidung der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat hinsichtlich des in der Zeit vom 01.05.2010 bis zum 07.07.2010 aus der Beschäftigung bei der xxx GmbH wegen der erneuten Insolvenz ausgefallenen Arbeitsentgelts Anspruch auf Insolvenzgeld.
Anspruch auf Insolvenzgeld haben gemäß § 183 SGB III in der hier maßgeblichen, bis zum 31.03.2012 geltenden Fassung Arbeitnehmer, die im Inland beschäftigt waren und bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen ihres Arbeitgebers, Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse oder vollständiger Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht gestellt worden ist und ein Insolvenzverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt, (Insolvenzereignis) für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben. Ein entsprechender Antrag ist innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Monaten nach dem Insolvenzereignis zu stellen (§ 324 Abs. 3 SGB III). Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin hinsichtlich des im streitgegenständlichen Zeitraum ausgefallenen Arbeitsentgelts vor.
a) Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch Beschluss des Amtsgerichts Karlsruhe vom 02.11.2010 (Az. G2 IN 794/10) stellt ein berücksichtigungsfähiges Insolvenzereignis im Sinne von § 183 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III a.F. dar. Die Klägerin hatte aufgrund der Eröffnung des ersten Insolvenzverfahrens über das Vermögen der xxx GmbH am 23.11.2004 (Az. 2 IN 963/04) zwar bereits In-solvenzgeld erhalten. Aufgrund dieses Insolvenzereignisses steht ihr daher – auch unter Berücksichtigung der Vertrauensschutzregelung gemäß § 183 Abs. 2 SGB III a.F. – kein Insolvenzgeld mehr zu. Das vorangegangene, im Jahr 2004 eröffnete Insolvenzverfahren entfaltet allerdings keine Sperrwirkung und steht einem Insolvenzgeldanspruch für den streitgegenständlichen Zeitraum daher nicht entgegen. Bei dem im Jahr 2010 eingetretenen handelt es sich vielmehr und ein neues Insolvenzereignis im Sinne der Insolvenzgeldvorschriften.
aa) Ein neues Insolvenzereignis tritt nach der Rechtsprechung des Bundessozialge-richts zwar grundsätzlich nicht ein, solange die auf einem bestimmten Insol-venzereignis beruhende Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers andauert. Eine andauernde Zahlungsunfähigkeit in diesem Sinne ist so lange anzunehmen, wie er nicht in der Lage ist, seine fälligen Geldschulden im Allgemeinen zu erfüllen. Sie endet nicht bereits dann, wenn der Schuldner einzelne Zahlungsverpflichtungen wieder erfüllt (Bundessozialgericht, Urteil vom 29.05.2008 – B 11a AL 57/06 R, Rdnr. 11; Urteil vom 21.11.2002 – B 11 AL 35/02 R, Rdnr. 14, jeweils m.w.N. (Juris)). Für eine erneute Zahlungsfähigkeit genügt es daher nicht, wenn die Betriebstätigkeit fortgeführt wird und die laufenden Verbindlichkeiten wie z.B. Lohnansprüche befriedigt werden. Vielmehr muss grundsätzlich auch hinsichtlich der Altschulden eine Sanierungsregelung getroffen sein (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 11.01.1989 – 10 RAr 7/87, Rdnr. 15; Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 06.09.2005 – L 11 AL 38/05, Rdnr. 19; Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 21.02.2003 – L 3 AL 66/02, Rdnr. 34 (Juris); Krodel, in: NIESEL/BRAND, SGB III, 5. Aufl. 2010, § 183 Rdnr. 37 m.w.N.).
Allein die Bestätigung des Insolvenzplans und die darauf folgende Aufhebung des Insolvenzverfahrens, hier durch Beschluss des Amtsgerichts Karlsruhe vom 29.12.2006, beseitigt vor diesem Hintergrund allein nicht eingetretenen (ersten) Insolvenzfall (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 21.11.2002 – B 11 AL 35/02 R, Rdnrn. 17 ff. (Juris)). Von einer Fortdauer des ersten Insolvenzereignisses ist vielmehr jedenfalls so lange auszugehen, wie die im Insolvenzplan vorgesehene Überwachung der Planerfüllung andauert. Denn während der Dauer der Planüberwachung wird der Zusammenhang mit dem vorangegangenen Insol-venzverfahren durch die fortbestehenden Aufgaben und Befugnisse des Insol-venzverwalters und die Aufsicht des Insolvenzgerichts dokumentiert (vgl. Bun-dessozialgericht, Urteil vom 29.05.2008 – B 11a AL 57/06 R, Rdnr.14 (Juris)). Die Möglichkeit eines erneuten insolvenzgeldrelevanten Insolvenzereignisses war daher zumindest während der bis zum 11.02.2010 dauernden Phase der Planüberwachung ausgeschlossen. Auch danach war die xxx GmbH materiell-rechtlich gesehen nicht in der Lage, ihre fälligen Verbindlichkeiten im Allgemeinen zu erfüllen. Der Insolvenzplan wurde nicht vollständig erfüllt, sondern es bestanden eine Vielzahl von Restverbindlichkeiten, die zu erfüllen das Unternehmen nicht in der Lage war. Auf den Bericht des Insolvenzverwalters im Folgeinsolvenzverfahren vom 13.01.2011 wird insoweit Bezug genommen.
bb) Gleichwohl kommt es auf die Wiedererlangung der Zahlungsfähigkeit im mate-riellen Sinne nach förmlichem Abschluss einer Insolvenzplanüberwachung nicht an. § 183 Abs. 1 Satz 1 SGB III a.F. (jetzt: § 165 Abs. 1. Satz 1 SGB III) ist vielmehr europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass auch ein nachfolgendes formelles Insolvenzereignis trotz fortbestehender Insolvenz ausreicht, um einen Anspruch auf Insolvenzgeld auszulösen. Dies folgt daraus, dass der nationale Gesetzgeber von der ihm durch das europäische Richtlinienrecht (Richtlinie 2008/94/EG vom 22.10.2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. EU L 283 vom 28.10.2008, S. 36 ff., früher Richtlinie 80/987/EWG vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. EG L 283 vom 28.10.1980, S. 23 ff., zuletzt in der durch die Richtlinie 2002/74/EG vom 23.09.2002 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. EG vom 08.10.2001, S. 10 ff., geänderten Fassung) eingeräumten Möglichkeit der Zusammenfassung mehrerer Insolvenzverfahren zu einem Gesamtverfahren keinen Gebrauch gemacht hat.
Nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/94/EG gilt ein Arbeitgeber als zahlungs-unfähig, wenn die Eröffnung eines nach den Rechts- und Verwaltungsvorschriften eines Mitgliedstaates vorgeschriebenen Gesamtverfahrens beantragt worden ist, das die Insolvenz des Arbeitgebers voraussetzt und den teilweisen oder vollständigen Vermögensbeschlag gegen diesen Arbeitgeber sowie die Bestel-lung eines Verwalters oder einer Person, die eine ähnliche Funktion ausübt, zur Folge hat, und wenn entweder die aufgrund der genannten Rechts- und Verwal-tungsvorschriften zuständige Behörde die Eröffnung des Verfahrens beschlossen oder sie festgestellt hat, dass das Unternehmen oder der Betrieb des Ar-beitgebers endgültig stillgelegt worden ist und die Vermögensmasse nicht aus-reicht, um die Eröffnung des Verfahrens zu rechtfertigen. Nach Nummer 4 der Erwägungsgründe zur Richtlinie 2008/94/EG sollen die Mitgliedstaaten, um zu bestimmen, ob die Garantieeinrichtung zu einer Zahlung verpflichtet ist, vorsehen können, dass für den Fall, dass das Vorliegen einer Insolvenz zu mehreren Insolvenzverfahren führt, die Situation so behandelt wird, als handelte es sich um ein einziges Insolvenzverfahren. Während die Richtlinie also grundsätzlich an ein formelles Insolvenzereignis anknüpft, ermöglicht sie den Mitgliedstaaten die insolvenzgeldrechtliche Zusammenfassung mehrerer formeller Insolvenzereignisse zu einem Gesamtverfahren. Zusätzlich haben die Mitgliedstaaten nach Art. 12 a) der Richtlinie 2008/94/EG das Recht, die erforderlichen Maßnahmen zur Missbrauchsabwehr zu treffen. Hiervon hat der nationale Gesetzgeber in § 183 Abs. 2 SGB III a.F. dadurch Gebrauch gemacht, dass er bei Weiterarbeit oder Arbeitsaufnahme nach Eintritt des Insolvenzereignisses grundsätzlich an die Kenntnis des Arbeitnehmers anknüpft. Daneben ist die Anordnung eines Gesamtverfahrens im Sinne einer Zusammenfassung mehrerer formeller Insol-venzereignisse zu einem Gesamtverfahren im deutschen Recht allerdings nicht erfolgt. Es handelt sich hierbei um eine wirtschafts- und sozialpolitische Ent-scheidung erheblicher Tragweite, die allein dem parlamentarischen Gesetzgeber obliegt. Dieser hat aber bislang eine entsprechende Anordnung nicht getroffen und Voraussetzungen definiert, unter denen ein zweites Insolvenzverfahren, das auf ein erstes Insolvenzverfahren mit angeschlossenem und formell beendeten Insolvenzplanverfahren wie hier mit zeitlichem Abstand folgt, nur ein un-selbständiger Teil des ersten Verfahrens ist. Nur durch eine entsprechende ein-deutige gesetzgeberische Regelung würde indes gewährleistet, dass Arbeit-nehmer ihr Verhalten im Wissen darum, dass an die Weiterbeschäftigung trotz förmlicher Beendigung eines Insolvenzverfahrens keine Insolvenzgeldansprüche geknüpft sind, ggf. einstellen können. Denn es kann von einem Arbeitnehmer schlechterdings nicht erwartet werden, die Liquidität seines Arbeitgebers zu beurteilen und sein Verhalten daran auszurichten, wenn dieser seine Unter-nehmenstätigkeit nach Abschluss eines förmlichen Planüberwachungsverfahrens ohne weitere behördliche Aufsicht fortsetzt. Ungeachtet dessen, dass der Arbeitnehmer weder über Wege noch über Mittel verfügen dürfte, um eine solche Prüfung durchzuführen, besteht nach dem öffentlich bekannt gegebenen Ende der Überwachungsphase bei ununterbrochenen Lohnzahlungen überhaupt kein Anlass zu Zweifeln an der Zahlungsfähigkeit des Arbeitgebers. Die von der Beklagten favorisierte Auslegung, die allein auf der Fortentwicklung von Richterrecht beruht und im Gesetzeswortlaut nicht zwingend angelegt ist, würde vor diesem Hintergrund zu einer unangemessenen Belastung des durch die In-solvenzgeldvorschriften geschützten Arbeitnehmers führen (vgl. zum Vorstehenden ausführlich Sächsisches Landessozialgericht, Urteil vom 09.03.2011 – L 1 AL 241/06, Rdnrn. 58 ff. (Juris); Frank/Heinrich, NZI 2011, S. 569 ff.; Frank, NZS 2011, S. 689 ff.).
Nachdem eine gesetzliche Regelung zur insolvenzgeldrechtlichen Zusammen-fassung mehrerer formeller Insolvenzereignisse bislang nicht existiert (vgl. hierzu die Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zur Ver-besserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 08.07.2011, BR-Drucks. 313/11, S. 3 ff., und die Gegenäußerung der Bundesregierung vom 25.08.2011, BT-Drucks. 17/6853, S. 18), kann an eine solches bei europa-rechtskonformer Auslegung des geltenden Insolvenzgeldrechts in Fällen wie dem vorliegenden, in denen ein Unternehmen nach Durchführung eines Insolvenzverfah-rens ohne insolvenzrechtliche Beschränkungen weiter operiert, nicht angeknüpft werden.
b) Bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens 02.11.2010 hatte die Klägerin noch offene Ansprüche auf Arbeitsentgelt aus den dem Insolvenzereignis vorausgehenden letzten drei Monaten ihres Arbeitsverhältnisses, hier der Zeit vom 01.05.2010 bis zum 07.07.2010. c) Die Klägerin hat Insolvenzgeld schließlich auch rechtzeitig (§ 324 Abs. 3 SGB III) bei der Beklagten beantragt.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
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