L 7 SO 3773/09

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
7
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 14 SO 4635/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 SO 3773/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 23. Juli 2009 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt im Berufungsverfahren die Aufhebung einer Rücknahme- und Erstattungsentscheidung des Sozialhilfeträgers; streitig ist vorrangig die Zulässigkeit der Berufung.

Der Kläger bezog vom 30. Juli 1999 bis 31. Dezember 2004 Sozialhilfe nach den Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), das ihm durch Beklagte Ziff. 1 (Stadt Reutlingen) als Delegationsnehmerin nach § 4 des Ausführungsgesetzes Baden-Württemberg zum BSHG gewährt wurde. Anschließend erhielt er Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.

Mit Bescheid vom 6. Dezember 2006 nahm die Beklagte Ziff. 1 die Leistungsbewilligungen für die Zeit vom 30. Juli 1999 bis 31. Dezember 2004 ganz zurück, da der Kläger entgegen seinen Angaben bei Antragstellung bereits seit 1997 seinen Lebensmittelpunkt nicht am polizeilich gemeldeten Hauptwohnsitz Reutlingen, sondern am nicht in ihrem Zuständigkeitsbereich liegenden Nebenwohnsitz Albstadt gehabt habe. Des Weiteren forderte sie die Erstattung überzahlter Leistungen i.H.v. insgesamt EUR 41.089,95.

Am 5. April 2007 legte der Kläger gegen diesen Bescheid Widerspruch ein und beantragte gleichzeitig die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, da er den Bescheid nicht erhalten habe.

Durch Urteil des Amtsgerichtes Reutlingen vom 16. Januar 2008 wurde der Kläger u.a. wegen Betruges zum Nachteil des Sozialhilfeträgers durch unrechtmäßigen Bezug von Sozialhilfeleistungen im Zeitraum vom 30. Juli 1999 bis 31. Dezember 2004 verurteilt. Im Berufungsverfahren vor dem Landgericht Tübingen wurde das Verfahren gem. § 153 Abs. 2 der Strafprozessordnung am 17. September 2008 eingestellt.

Bereits mit Schreiben vom 9. Mai 2008 teilte die Beklagte Ziff. 1 dem Kläger mit, der Widerspruch werde als fristgerecht angesehen. Unter dem 17. August 2008 lehnte sie eine Abhilfe ab. Der Beklagte Ziff. 2 (Landkreis Reutlingen) teilte dem Kläger hingegen mit Schreiben vom 25. September 2008 mit, zunächst sei die Ausgangsbehörde zur Entscheidung über die Abhilfe berufen, daher sei der Widerspruch an die Beklagte Ziff. 1 zurückgegeben worden.

Am 29. Oktober 2008 hat der Kläger beim Sozialgericht Reutlingen (SG) Klage erhoben (S 14 SO 3804/08), die er ausdrücklich als Untätigkeitsklage gem. § 88 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bezeichnet und mit der er die Bescheidung des Widerspruches vom 5. April 2007 begehrt hat. Als Beklagte war die Beklagte Ziff. 1, vertreten durch das Landratsamt Reutlingen, bezeichnet; beigelegt waren aber Schreiben des Klägers an Stadt und Landkreis mit der Aufforderung zur Entscheidung über den Widerspruch unter Fristsetzung und Androhung der Untätigkeitsklage. Das Verfahren war daher vor dem SG gegen beide Beklagte geführt worden, ohne dass der Kläger hiergegen Einwendungen erhoben hat. Die gegen den die Klage abweisenden Gerichtsbescheid eingelegte Berufung des Klägers ist beim Senat anhängig (L 7 SO 3693/09).

Am 30. Dezember 2008 hat der Kläger beim SG eine weitere Untätigkeitsklage gegen die Beklagte Ziff. 1, wiederum vertreten durch das Landratsamt Reutlingen, erhoben, und wiederum die Bescheidung des Widerspruches vom 5. April 2007 begehrt. Auch dieses Verfahren war daher vor dem SG gegen beide Beklagte geführt worden, ohne dass der Kläger hiergegen Einwendungen erhoben hat. Auf Hinweis des SG hat dieser ausgeführt, eine Parallelsache zum Verfahren S 14 SO 3804/08 liege nicht vor; dieses betreffe die Untätigkeit der Beklagten bis zum 17. September 2008 (Berufungsverhandlung vor dem Landgericht Tübingen); das vorliegende die Untätigkeit ab dem 18. September 2008 bis laufend.

Durch Widerspruchsbescheid vom 4. März 2009 hat der Beklagte Ziff. 2 dem Widerspruch wie folgt stattgegeben: "In Abänderung des Bescheides vom 6. Dezember 2006 wird dem WF Hilfe zum Lebensunterhalt nach den §§ 11 ff. BSHG vom 30.07.1999 bis 31.12.2004 in Höhe des jeweils geltenden Regelsatzes eines Haushaltsangehörigen zuzüglich des jeweils zu entrichtenden Beitrags zur freiwilligen Krankenversicherung bewilligt.". Die Erstattungssumme reduziere sich auf EUR 16.249,47. Im Übrigen hat er den Widerspruch zurückgewiesen und in der Rechtsbehelfsbelehrung über die Klage als statthaften Rechtsbehelf belehrt.

Am 25. März 2009 hat der Kläger beim SG gegen "das Landratsamt Reutlingen" Klage auf Aufhebung des Bescheides vom 6. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. März 2009 erhoben (S 14 SO 935/09, jetzt S 6 SO 935/09 (Mitteilung des SG an die dortigen Beteiligten vom 5. Oktober 2010)), die noch anhängig ist. Auf Hinweise der Stadt, dass sie zuständig sei, und des Landkreises, dass nicht er, sondern die Stadt richtige Beklagte sei, ist im dortigen Verfahren auf entsprechende Anregung des dortigen Bevollmächtigten des Klägers das Rubrum geändert worden; das Verfahren wird gegen die Beklagte Ziff. 1 geführt (Schreiben des Kammervorsitzenden vom 14. Mai 2009). Durch Beschluss vom selben Tag hat das SG dem Kläger für das zwischen diesem und der Beklagten Ziff. 1 geführte Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt.

Auf Anfrage des SG hat der Kläger mit Schreiben vom 14. April 2009 mitgeteilt, im vorliegenden Verfahren (S 14 SO 4635/08) bestehe noch erheblicher sachlicher und verfahrensrechtlicher Klärungsbedarf; es werde daher nicht für erledigt erklärt. Nach Anhörung zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid hat er mit Schreiben vom 3. Mai 2009 ausgeführt, bis zur Klärung der Zulässigkeit der Klage im Verfahren S 14 SO 935/09 werde beabsichtigt, die Untätigkeitsklage "ggf. im Wege der Klageänderung fortzuführen", und unter dem 4. Juli 2009 vorsorglich Anträge auf Zeugenvernehmungen und die Beiziehung von Unterlagen gestellt. Zuletzt hat er im Schreiben vom 21. Juli 2009 ausgeführt: "Sollte die Klageerwiderung im Verfahren S 14 SO 935/09 bis zum" 31. Juli 2009 "nicht vorliegen, wird beantragt, in diesem Verfahren (S 14 SO 4635/08) im Wege der Klageänderung der Klage unverzüglich stattzugeben und den Bescheid der Beklagten vom 06.12.2006 mit sofortiger Wirkung aufzuheben".

Am 27. April 2009 hat der Kläger mit dem Antrag, den Bescheid vom 6. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. März 2009 aufzuheben, beim SG jeweils eine Klage gegen die Beklagte Ziff. 1 (S 14 SO 1320/09) und den Beklagten Ziff. 2 (S 14 SO 1321/09) erhoben. Die gegen die Klage abweisenden Entscheidungen des SG eingelegten Berufungen sind beim Senat anhängig (L 7 SO 5878/09 und 5879/09).

Mit Gerichtsbescheid vom 23. Juli 2009 hat das SG die hier zugrunde liegende Klage abgewiesen. Die Klage sei hinsichtlich des Bescheidungsantrages wegen anderweitiger Rechtshängigkeit im Verfahren S 14 SO 3804/08 bereits bei Klageerhebung unzulässig gewesen. Der im Schreiben vom 21. Juli 2009 gestellte weitere Klagantrag sei als bedingter Antrag ebenfalls unzulässig.

Gegen diesen ihm am 28. Juli 2009 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 19. August 2009 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) mit dem ausdrücklichen Begehren eingelegt, den Bescheid vom 6. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. März 2009 aufzuheben.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 23. Juli 2009 sowie den Bescheid vom 6. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. März 2009 aufzuheben.

Die Beklagte Ziff. 1 beantragt,

die Berufung als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise zurückzuweisen.

Sie hat auf das vor dem SG anhängige Verfahren S 14 SO 935/09 verwiesen und hält des Weiteren die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Der Beklagte Ziff. 2 hat keinen Antrag gestellt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten, der Verfahrensakten des SG und des Senats sowie auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist nicht zulässig.

Das Begehren im Berufungsverfahren besteht allein in der Anfechtung des Bescheides vom 6. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. März 2009. Nach dem eindeutigen Antrag im Berufungsschreiben wird das Bescheidungsbegehren nicht mehr weiterverfolgt.

Die Zulässigkeit einer Berufung setzt das Fortbestehen einer Beschwer des Rechtsmittelführers durch die erstinstanzliche Entscheidung im Berufungsverfahren voraus. Zwar liegt eine Beschwer des Klägers grundsätzlich schon dann vor, wenn die angefochtene Entscheidung ihm etwas versagt, was er beantragt hat (vgl. schon Bundessozialgericht (BSG) BSGE 9, 80; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, 10. Aufl., vor § 143 Rdnr. 6 m.w.N.). Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Berufung ist jedoch, dass der Berufungskläger die aus dem erstinstanzlichen Urteil folgende Beschwer beseitigen will; eine Berufung ist danach unzulässig, wenn sie den im ersten Rechtszug erhobenen Klageanspruch nicht wenigstens teilweise weiter verfolgt, also eine erstinstanzliche Klageabweisung gar nicht in Zweifel zieht, sondern lediglich im Wege der Klageänderung einen neuen, bisher nicht geltend gemachten Anspruch zur Entscheidung stellt (Bundesgerichtshof (BGH) NJW-RR 2002, 1435 und 2006, 442).

Gerade hieran fehlt es vorliegend. Im angefochtenen Gerichtsbescheid hat das SG zu zwei Sachanträgen des Klägers - abweisend - entschieden. Bei den dort als Ziff. 3 und 4 bezeichneten Anträgen (Beweisanträge im Schreiben vom 4. Juli 2009) handelt es sich nicht um Sachanträge, so dass sie für die Bestimmung der Beschwer nicht herangezogen werden können. Das SG hat den auf Bescheidung des Widerspruches gegen den Bescheid vom 6. Dezember 2006 gerichteten Klageantrag Ziff. 1 wegen anderweitiger Rechtshängigkeit im Verfahren S 14 SO 3804/08 - als unzulässig - abgewiesen. Des Weiteren hat es den ausdrücklich unter einer Bedingung gestellten, auf Aufhebung des Bescheides vom 6. Dezember 2006 gerichteten Antrag abgewiesen, da dieser gerade wegen der Bedingung unzulässig sei. Mit der Berufung begehrt der Kläger hingegen nach dem in der Berufungsschrift ausdrücklich gestellten Antrag ausschließlich - nunmehr unbedingt - die Aufhebung des Bescheides vom 6. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. März 2009. Über ein solches unbedingtes Aufhebungsbegehren liegt im vorliegenden Verfahren keine erstinstanzliche Entscheidung vor. Der Kläger macht nicht geltend, das Prozessurteil des SG hinsichtlich des bedingten Klagebegehrens sei unzutreffend gewesen, sondern begehrt ausschließlich eine Sachentscheidung zu dem nunmehr unbedingt erhobenen Begehren. Den Bescheidungsantrag hat er ebenfalls nicht weiterverfolgt. Damit richtet sich die Berufung nicht mehr gegen die aus der erstinstanzlichen Entscheidung resultierende Beschwer. Die bloße Erweiterung oder Änderung der Klage in zweiter Instanz kann nicht alleiniges Ziel des Rechtsmittels sein; vielmehr setzt ein derartiges Prozessziel eine zulässige Berufung voraus (vgl. BGH a.a.O. m.w.N.).

Die Berufung war als unzulässig zu verwerfen. Eine inhaltliche Überprüfung der Entscheidung des SG hatte somit nicht zu erfolgen. Ohnehin hätte die Berufung in der Sache keinen Erfolg haben können. Denn zum Zeitpunkt der erstmals unbedingt erklärten Umstellung der Klage mit Eingang der Berufungsschrift war das Anfechtungsbegehren bereits anderweitig rechtshängig (§ 17 Abs. 1 Satz 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes), nämlich im Verhältnis zur Beklagten Ziff. 1 durch die am 25. März 2009 und im Verhältnis zum Beklagten Ziff. 2 durch die am 27. April 2009 erhobene Klagen (S 14 SO 935/09 (jetzt S 6 SO 935/09) und S 14 SO 1321/09 bzw. L 7 SO 5879/09). Dass der Widerspruchsbescheid vom 4. März 2009 nicht gem. § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des hier zugrundeliegenden Klageverfahrens geworden ist, hat der Senat bereits in seinem den Beteiligten bekannten, den Antrag auf Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschluss vom 29. März 2012 dargelegt, auf den insoweit Bezug genommen wird.

Das Berufungsverfahren war nicht nach § 114 Abs. 2 SGG auszusetzen, da die Zulässigkeit der Berufung unabhängig vom Ausgang des beim SG noch anhängigen Verfahrens S 6 SO 935/09 nicht gegeben ist. Insoweit nimmt der Senat auf seinen Beschluss vom 15. Mai 2012 Bezug, mit dem die beantragte Aussetzung abgelehnt wurde.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG), liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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