L 1 U 594/10

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Gotha (FST)
Aktenzeichen
S 17 U 2554/05
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 1 U 594/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ist für eine Dienstbeschädigung (hier: Innenohrschwerhörigkeit beiderseits mit Tinnitus beiderseits) eine MdE von 5 v.H. bestandskräftig festgesetzt worden, kann nach den Grundsätzen der gesetzlichen Unfallversicherung von einem mit einer MdE von 10 v.H. bewerteten neuen Schaden (hier: Tinnitus) der Vorschaden nicht dergestalt abgezogen werden, dass nun zwingend eine unfallversicherungsrechtlich zu berücksichtigtende MdE von 5 v.H. übrig bleibt. Vielmehr gilt insofern die Regel, dass nach Abzug des Vorschadens die Folgen der Schädigung eine nicht mehr messbare MdE bedingen. Die Gesamt-MdE für einen Lärmschaden in Höhe von 15 v.H. und einen Tinnitus mit einer nicht mehr messbaren MdE erreicht im konkreten Fall kein rentenberechtigendes Ausmaß.
Auf die Berufung der Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 1. Februar 2010 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine KO.en zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen einer Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (im Folgenden nur: BK 2301).

Im Rahmen des Wehrdienstes bei der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA) erlitt der Kläger am 31. Januar 1975 ein akutes Knalltrauma. Hierdurch trat eine Hörverschlechte-rung rechts mit einem Tinnitus auf. Zum Entlassungszeitpunkt aus der NVA verspürte der Kläger eine subjektive Gehörminderung rechts und einen pfeifenden Tinnitus rechts. Von 1976 bis 1991 war er als Karosseriebauer im Automobilwerk E. tätig. Die Lärmbelastung betrug hierbei 93 dB (A). Von 1991 bis 2004 übte der Kläger - versichert durch die Be-klagte - im Stahlbauwerk eine Tätigkeit als Stahlbauschlosser aus. Hierbei wurden Lärm-werte bis 91 dB (A) registriert.

Am 27. Juni 2004 beantragte der Kläger eine Rente wegen Lärmschwerhörigkeit und Tin-nitus.

Der arbeitsmedizinische Dienst - Dr. P. - attestierte unter Berücksichtigung der Tonschwel-lenaudiogramme der Jahre 1993, 2000 und 2004 einen unauffälligen Befund der Ohren.

Die Beklagte zog ein im Auftrag des Versorgungsamtes Suhl in Auftrag gegebenes HNO-fachärztliches Gutachten von Dr. K. vom 15. November 2004 bei. Im Rahmen dieser Be-gutachtung hatte der Kläger angegeben, dass ihm der Tinnitus auf der linken Seite erst nach Aufgabe der Lärmarbeit aufgefallen sei. Zudem habe er zwischen 1993 und 1997 einen Hörsturz rechts mit zunächst vollkommenem Hörverlust und anschließender Besse-rung des Gehörs erlitten. Der Gutachter schätzte ein, dass die Minderung der Erwerbsfä-higkeit (MdE) auf der Grundlage der Innenohrschwerhörigkeit beidseitig und dem perma-nenten Tinnitus aurium 20 vom Hundert (v.H.) betrage. Davon seien 5 v.H. als Folge einer Wehrdienstbeschädigung - dem akuten Knalltrauma - abzuziehen.

Auf der Grundlage dieses Gutachtens erkannte die Wehrbereichsverwaltung O. mit Be-scheid vom 16. März 2005 den Unfall vom 31. Januar 1975 als Dienstbeschädigung an. Der auf die Dienstbeschädigung zurückzuführende Grad der MdE wurde mit 5 v.H. festge-setzt.

In dem parallel betriebenen berufsgenossenschaftlichen Verfahren kam Dr. L. in einer HNO-beratungsärztliche Stellungnahme zu dem Ergebnis, dass der Kläger an einer BK 2301 leide. Er schätze die MdE für die Schwerhörigkeit mit 15 v.H. ein. Zusätzlich liege ein Tinnitus am dem linken Ohr vor, der nicht auf das knalltraumatische Ereignis von 1975 zurückzuführen sei. Insgesamt betrage die MdE deshalb 20 v.H. In einer weiteren bera-tungsärztlichen Stellungnahme schätzte der Arbeitsmediziner H. unter Auswertung des Tonaudiogramms von 1993 ein, dass bereits im September 1993 zwei Drittel bis drei Vier-tel der Gesamtlärmexposition auf den Kläger eingewirkt habe. Deshalb sei es nicht wahr-scheinlich, dass die verbleibende Resteinwirkung des Lärms nach 1993 allein für den Ge-samtschaden einer MdE von 20 v.H. ursächlich sei.

Auf die Ausführungen Dr. L. und Herrn H. sich stützend erkannte die Beklagte mit Be-scheid vom 3. Mai 2005 die beginnende Innenohrschwerhörigkeit beiderseits als BK 2301 an. Die Anerkennung des Knalltraumas rechts, des Tinnitus rechts, den Hörsturz, die Ver-schlechterung des Befundes der Schwerhörigkeit, soweit sie über den im Tonaudiogramm vom 21. September 1993 dokumentierten Hörverlust hinausreicht, sowie einen Anspruch auf Rente wegen der Berufskrankheit lehnte sie dagegen ab.

Mit Widerspruchsbescheid vom 11. August 2008 wies die Beklagte unter Bezugnahme auf das Gutachten des Dr. K. den Widerspruch als unbegründet zurück. Berücksichtigung kön-ne nur die Lärmexposition in der Zeit von 1991 bis 2004 finden. Vor dem Hintergrund der langjährigen Lärmexposition sei es nicht wahrscheinlich, dass der Gesamtschaden der MdE in Höhe von 20 v.H. allein auf die Zeit von 1991 bis 2004 zurückzuführen sei.

Hiergegen hat sich der Kläger mit seiner am 22. August 2005 zum Sozialgericht erhobenen Klage gewendet. Ein durch das Sozialgericht eingeholter Befundbericht von DM P. hat ergeben, dass der Kläger unter einer mittelgradigen Lärmschwerhörigkeit beiderseits und einem chronischen Tinnitus aurium leidet.

Der mit der Erstattung eines HNO-ärztlichen Gutachtens beauftragte Prof. Dr. A. hat fest-gestellt, dass der Kläger unter einer beiderseitigen Hörstörung, einem Tinnitus aurium beidseitig, einem Zustand nach Knalltrauma rechts 1975 sowie einem Zustand nach Hör-sturz beiderseitig 1997 leidet. Beidseitig bestehe eine mittelgradige Mittel- und Hochton-schwerhörigkeit mit geringgradiger Tieftonschwerhörigkeit sowie ein verdeckbarer Tinni-tus. Im Jahre 2004 habe der prozentuale Hörverlust auf beiden Seiten 30 v.H., zum Zeit-punkt der Begutachtung 40 v.H. betragen. Der Sachverständige hat weiter herausgearbeitet, dass sich das Hörvermögen des Klägers nach Therapie des Hörsturzes auf dem Niveau vor der Erkrankung befunden habe. Insgesamt schätze er die MdE aufgrund des Tinnitus mit 10 v.H. ein, wobei als Vorschaden für das Knalltrauma 5 v.H. abzuziehen seien. Für die Lärmschwerhörigkeit sei eine MdE von 15 v.H. festzusetzen. Die Gesamt-MdE von 20 v.H. ergebe sich durch Addition der Werte.

Das Gericht hat mit Urteil vom 1. Februar 2010 den Bescheid vom 3. Mai 2005 in der Ges-talt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 2005 abgeändert und die Beklagte verur-teilt, dem Kläger eine Rente wegen der BK Nr. 2301 aufgrund einer MdE von 20 v.H. ab 1. September 2004 zu zahlen. In seiner Begründung hat es sich den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. A. angeschlossen. Zwar ergebe sich für den Hörverlust eine MdE in Höhe von 15 v.H. und für den Tinnitus von 5 v.H ... Die Gesamt-MdE von 20 v.H. könne zwar nicht durch eine bloße Addition erfolgen, ohne die Berücksichtigung der MdE für den Tinnitus bliebe dieser Wert aber unberücksichtigt, weshalb er MdE-erhöhend wir-ke.

Dagegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. Sie vertritt die Auffassung, dass die Höhe der MdE allenfalls mit 15 v.H. festgestellt werden könne. Dr. K. komme in seinem Gutach-ten zu dem nachvollziehbaren Ergebnis, dass nach Abzug einer MdE in Höhe von 5 v.H. durch die Feststellung der Wehrbereichsverwaltung die Gesamt-MdE rechnerisch 15 v.H. betrage. Bei der Bildung einer Gesamt-MdE schätze Prof. A. die Bedeutung des Tinnitus mit 10 v.H. insgesamt zu hoch ein. Die Ausführungen seien in sich nicht schlüssig.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 1. Februar 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er ist der Ansicht, dass sowohl die Innenohrschwerhörigkeit als auch der Tinnitus lärmbe-rufsbedingt seien. Der pauschale Abzug in Höhe von 5 v.H. für das Knalltrauma sei nicht nachvollziehbar.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet.

Der Kläger hat wegen der BK 2301 keinen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenren-te.

Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) haben Versicher-te Anspruch auf Verletztenrente, wenn ihre Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungs-falles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v.H. ge-mindert ist.

Ein Versicherungsfall liegt mit der Feststellung einer BK 2301 vor. Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Bei der Bemessung der MdE werden Nachteile berücksichtigt, die die Versicherten dadurch erleiden, dass sie bestimmte von ihnen erwor-bene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen in Folge des Versicherungsfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen können, soweit solche Nachtei-le nicht durch sonstige Fähigkeiten, deren Nutzung ihnen zugemutet werden kann, ausge-glichen werden, § 56 Abs 2 Satz 3 SGB VII (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- vom 5. September 2006, Az: B 2 U 25/05 R; juris.de). Die Bemessung des Grades der MdE wird vom BSG in ständiger Rechtsprechung als Tat-sachenfeststellung gewertet, die das Gericht nach § 128 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichts-gesetzes (SGG) nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Dies gilt für die Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsver-mögens des Versicherten ebenso wie für die auf der Grundlage medizinischer und sonsti-ger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Be-einträchtigungen zu treffende Feststellung der ihm verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in wel-chem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Betroffenen durch den Ver-sicherungsfall beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beein-trächtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Ge-samtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE geschätzt werden. Die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versiche-rungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind deshalb bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahl-reichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel (Urteil des BSG vom 5. September 2006, Az: B 2 U 25/05 R; juris.de). Daneben sind weitere rechtliche Vorgaben zu beachten. Bestanden bei dem Versicherten vor dem Versicherungsfall bereits gesundheitliche, auch altersbedingte Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit (sog. Vorschäden), werden diese nach der ständigen Rechtsprechung des BSG und der einhelligen Auffassung in der Literatur für die Bemessung der MdE be-rücksichtigt, wenn die Folgen des Versicherungsfalles durch die Vorschäden beeinflusst werden. Denn Versicherte unterliegen mit ihrem individuellen Gesundheitszustand vor Eintritt des Versicherungsfalls dem Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversi-cherung. Dies verlangt § 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m ... Abs. 1 Satz 1 SGB VII, wonach die "in-folge" des Versicherungsfalls eingetretene Beeinträchtigung des Leistungsvermögens und die dadurch verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbsle-bens maßgeblich sind (Urteil des BSG vom 5. September 2006, Az: B 2 U 25/05 R; ju-ris.de). Nach den vorstehenden Grundsätzen ist die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht mindestens um 20 v.H. gemindert. Die Gesamt-MdE erreicht unter Berücksichtigung einer MdE von 15 v.H. für den Hörverlust und einer MdE von 5 v.H. für den Tinnitus keine 20 v.H. Der Senat folgt hinsichtlich der Einzelbestimmung der MdE den Gutachten des Prof. Dr. A. und des Dr. K ...

Prof. A. beschreibt, dass der Kläger aufgrund der Lärmtätigkeit von 1976 bis 2004 einen prozentualen Hörverlust in Höhe von 30 v.H. für beide Ohren erlitten hat. Während dieser Tätigkeit war der Kläger Lärmeinwirkungen weit über 85 dB, der wissenschaftlich nach-gewiesenen Grenze für Entwicklung einer lärmbedingten Schwerhörigkeit, ausgesetzt. Die Audiogramme im Jahre 1993 zeigen eine typische Entwicklung einer Lärmschwerhörig-keit. Der Hörverlust von 2004 bis 2009 um weitere 10 v.H. beruht auf einem lärmunab-hängigen Sachverhalt und ist als Nachschaden zu berücksichtigen. Auf den Hörsturz in den 90er Jahren kommt es nicht an, weil er schon nach kurzer Zeit folgenlos ausgeheilt ist. Der insgesamt 40-prozentige Hörverlust führt nach der gutachterlichen Einschätzungen zu ei-ner MdE von 20 v.H. Prof. A. bewertet die MdE für die lärmunabhängige Zunahme des Hörverlustes von 30 v.H. auf 40 v.H. mit 5 v.H. Dieser Nachschaden bleibt bei der Be-stimmung der berücksichtigungsfähigen MdE durch den Gesamthörverlust unberücksich-tigt; dabei kann dahingestellt bleiben, welchen MdE-Wert der Nachschaden genau erreicht.

Gestützt wird diese Einschätzung durch die gutachterlichen Ausführungen des Dr. K ... Er bestätigt bis 2004 einen prozentualen Hörverlust in Höhe von 30 v.H. und schätzt aufgrund des Hörverlustes gleichfalls die MdE mit 15 v.H. ein. Die Einschätzungen der Gutachter korrespondieren mit den Erfahrungswerten in der Literatur. Nach der Tabelle von Bru-sis/Mehrtens in Schönberger/Mehrtens/Valentin, 8. Aufl. S. 349 ist ein Hörverlust von 30 v.H. (vorliegende lärmabhängige Schwerhörigkeit) mit einer MdE von 15 v.H. zu be-werten. Zu einem gleichen Ergebnis führen die Begutachtungsvorschläge für Lärmschwer-hörigkeit nach dem Königsteiner Merkblatt. Nach Tabelle 3 des Königsteiner Merkblatts wird die MdE bei einer geringgradigen Schwerhörigkeit von 30 v.H. mit 15 v.H. bewertet. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Einschätzung einer MdE von 15 v.H. für den Hörverlust bis 2004 unzutreffend ist.

Hinsichtlich der scheinbaren mathematischen Genauigkeit, mit der Prof. A. die berücksich-tigungsfähige MdE für den Tinnitus auf 5 v.H. schätzt, kann der Senat aus Rechtsgründen den Ausführungen des Sachverständigen nicht folgen, auch wenn sein Gutachten in medi-zinischer Hinsicht die Grundlage für die Entscheidung des Gerichts ist.

Die Feststellungen von Art und Schwere einer Funktionsbeeinträchtigung unterliegen dem Vollbeweis. Die daraus abzuleitende MdE-Festsetzung ist nach der ständigen Rechtspre-chung des Bundessozialgerichts (BSG) eine Tatsachenfeststellung. Für das Gebiet der so-zialen Entschädigung hat das BSG zur MdE-Schätzung ausgeführt, dass jede Einschätzung der Erwerbsfähigkeit eines Menschen mit einem gewissen Unsicherheitsfaktor behaftet und insoweit durch einen unvermeidlichen Toleranzbereich gekennzeichnet sei. Je kleiner die Zahlendifferenz sei, mit der eine solche Bewertung arbeitet, um so geringer ist ihre Überzeugungs- und Beweiskraft (BSG, Urteil vom 23. November 1977, 9 RV 84/76). Auch in der Unfallversicherung unterliegen alle MdE-Bewertungen einer gewissen Schwankungsbreite. Der Gesetzgeber hat im Recht der sozialen Entschädigung diesem Umstand dadurch Rechnung getragen, dass er festgelegt hat, dass der Grad der Schädigung nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen ist; ein bis zu fünf Grad geringerer Grad der Schädigungsfolgen wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 2 des Bundesversorgungsgesetzes). In § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII ist bestimmt, dass die Folgen eines Versicherungsfalles nur zu berücksichtigen sind, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v.H. mindern. Eine MdE unter 10 v.H. ist grundsätzlich weder funktionell noch wirtschaftlich messbar.

Auf den vorliegenden Rechtsstreit übertragen bedeutet dies: Ist (nach altem Recht) für eine Dienstbeschädigung "Innenohrschwerhörigkeit beiderseits mit einem Tinnitus aurium bei-derseits" eine MdE von 5 v.H. festgesetzt worden, kann nach den Grundsätzen der gesetz-lichen Unfallversicherung von einem mit einer MdE von 10 v.H. bewerteten Tinnitus der Vorschaden von 5 v.H. nicht dergestalt abgezogen werden, dass nun zwingend eine unfall-versicherungsrechtlich zu berücksichtigende MdE von 5 v.H. übrig bleibt. Für die Unfall-versicherung gilt insofern vielmehr die Regel, dass hier die Folgen der Berufskrankheit eine nicht mehr messbare MdE bedingen.

Die Gesamt-MdE für den Lärmschaden in Höhe von 15 v.H. und den Tinnitus mit einer nicht mehr messbaren MdE erreicht beim Kläger kein rentenberechtigendes Ausmaß. Grundsätzlich wird bei der Festlegung einer Gesamt-MdE - vor allem, wenn sie die gleiche Körperregion betrifft - nicht regelmäßig eine Addition vorgenommen (so auch Schönber-ger/Mehrtens/Valentin, 8. Aufl., S. 103 unter Hinweis auf Urteil des BSG vom 15. März 1979, Az.: 9 Vs 6/77, juris.de). Da beide funktionellen Einschränkungen im vorliegenden Fall ineinander greifen, käme allenfalls eine leichte Erhöhung der MdE, nicht aber eine Addition der Einzel-MdE in Betracht (Empfehlungen im Königsteiner Merkblatt, 4. Aufla-ge 1996, Ziff. 4.3.5; Schönberger/Mehrtens/Valentin, 8. Aufl., S. 351). Die berücksichti-gungsfähige funktionelle Einschränkung durch den Tinnitus in Höhe von 5 v.H. ist in Be-zug auf die funktionelle Einschränkung in Höhe von 15 v.H. durch die Lärmschwerhörig-keit aber so gering, dass es nicht gerechtfertigt ist, ausnahmsweise eine Addition der Ein-zel-MdE vorzunehmen. Hinzu kommt, dass der Kläger für das Ausmaß der Funktionsein-schränkung beweisbelastet ist. Zu seinen Gunsten wurde bei der Bestimmung der Einzel- und Gesamt-MdE davon ausgegangen, dass der nicht auf den Vorschaden zurückzuführen-de Tinnitus tatsächlich in den Jahren der Versichertenzeiten alleine hervorgerufen wurde.

Bestätigt sieht sich der erkennende Senat durch die Rechtsprechung des Landessozialge-richts Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 10. August 2005, L 17 U 245/03), wo in einem vergleichbaren Fall ebenfalls eine Lärmschwerhörigkeit mit einer MdE von 15 v.H. und ein nicht messbarer Tinnitus (MdE unter 10 v.H.) zu einer Gesamt-MdE von 15 v.H. zu-sammengezogen wurden.

Vor diesem Hintergrund gelangt der Gutachter Prof. A. unzutreffend und nicht plausibel begründet zu einer Gesamt-MdE von 20 v.H. Unzulässigerweise addiert der Gutachter 15 v.H. für die Lärmschwerhörigkeit und 5 v.H. für den beeinträchtigenden Tinnitus zu 20 v.H.

Der Fall einer Stützrente ist nicht gegeben. Die anerkannte MdE wegen des Tinnitus aus einem anderen Versicherungsfall beträgt nicht wenigstens 10 v.H., § 56 Abs. 1 S. 3 SGB VII.

Das Urteil des Sozialgerichts Gotha ist aus diesem Grunde aufzuheben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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