S 40 AS 3427/10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Potsdam (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
40
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 40 AS 3427/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze
Sozialgericht Potsdam

Az.: S 40 AS 3427/10

Im Namen des Volkes Gerichtsbescheid In dem Rechtsstreit

1) ,

2) - Kläger -

Prozessbevollmächtigter zu 1) und 2): Rechtsanwalt ,

gegen

Jobcenter Landeshauptstadt Potsdam, vertreten durch die Geschäftsführung, Horstweg 102-108, 14478 Potsdam,

- Beklagter -

hat die 40. Kammer des Sozialgerichts Potsdam ohne mündliche Verhandlung am 16. April 2012 durch die Richterin am Sozialgericht Zanetti gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) für Recht erkannt:
1. Der Änderungsbescheid und der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 19. August 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. September 2010 werden aufgehoben. 2. Der Beklagte hat den Klägern den zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen des Rechtsstreits zu erstatten. 3. Die Berufung wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Kläger begehren die Aufhebung eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheides und eines Änderungsbescheides, beide datiert vom 19. August 2010, in Gestalt des Widerspruchsbe-scheides vom 29. September 2010. Betroffen ist der Zeitraum Januar bis Juni 2010 und eine Gesamtforderung in Höhe von 720,00 Euro.

Die Kläger bezogen im streitgegenständlichen Zeitraum Leistungen auf der Grundlage des So-zialgesetzbuches Zweites Buch (SGB II). Zuletzt bewilligte der Beklagte, soweit aus dem un-vollständig im Verwaltungsvorgang vorliegenden Änderungsbescheid vom 22. Februar 2010 ersichtlich, mit diesem endgültige Leistungen für die Kläger in Höhe von insgesamt 670,21 Euro. Bereits mit Faxeingang 18. Januar 2010 hatte die Klägerin zu 1) dem Beklagten ihren Arbeitsvertrag übersandt, wonach sie im Zeitraum Januar bis Dezember 2010 monatlich 300,00 Euro Verdienst erhalten sollte. Nach dem Anfang Juli 2010 auch die entsprechende Einkom-mensbescheinigung des Arbeitgebers beim Beklagten eingegangen war, hörte der Beklagte die Klägerin zu 1) zu einer Überzahlung im streitgegenständlichen Zeitraum mit der Begründung an, sie habe während des genannten Zeitraums ein erhöhtes Einkommen erzielt, welches zum Wegfall oder zur Minderung ihres Anspruchs geführt habe (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – SGB X -). Unter dem 19. August 2010 erließ der Beklagte zum einen einen Änderungsbescheid zum Bescheid vom 22. Februar 2010, in dem er den Klägern insge-samt Leistungen für den Zeitraum Januar bis Juni 2010 in Höhe von 550,21 Euro bewilligte. Zum anderen erließ der Beklagte einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid mit Datum 19. August 2010, mit dem er unter anderem den maßgeblichen Bescheid vom 22. Februar 2010 sowie den zuvor erlassenen vorläufigen Bescheid vom 17. Dezember 2009 für den Zeitraum 01. Januar 2010 bis 30. Juni 2010 für die Kläger teilweise in Höhe von insgesamt 720,00 Euro aufhob und in seiner Begründung die Begründung im Anhörungsschreiben wiederholte. Mit Eingang 24. August 2010 legten die Kläger sowohl gegen den Änderungsbescheid als auch gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 19. August 2010 Widerspruch ein und machten u. a. geltend dass, bereits im Januar die Änderung der Einkommensverhältnisse nach-gewiesen worden sei, weshalb nicht auf § 48 SGB X abgestellt werden könne. Mit Wider-spruchsbescheid vom 29. September 2010 wies der Beklagte beide Widersprüche als unbe-gründet zurück. In der Begründung führt er aus, die Klägerin zu 1) habe mit Fax vom 18. Janu-ar 2010 mitgeteilt, dass ein neuer Arbeitsvertrag geschlossen worden sei, aus dem sich ergibt, dass die monatliche Vergütung 300,00 Euro betrage. Im Rahmen der Bewilligung vom 22. Februar 2010 sei das höhere Arbeitseinkommen der Klägerin zu 1) noch nicht berücksichtigt worden. Es sei unter dem 19. August 2010 ein die Leistungen neu festsetzender Änderungsbe-scheid für den streitigen Zeitraum ergangen. Hinsichtlich der Aufhebungsentscheidung lägen die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X vor. Weiterhin enthält der Bescheid Ausführungen darüber, warum der Klägerin zu 1) der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit im Sinne der zitierten Norm gemacht werden müsse. In dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 19. August 2010 und dem Änderungsbescheid vom selben Tag sei eine einheitliche Ände-rungsentscheidung zu sehen.

Die Kläger vertiefen die Begründung ihres Widerspruchs und weisen zudem darauf hin, dass eine Anhörung zu den Voraussetzungen des § 45 SGB X nicht erfolgt sei.

Die Kläger haben am 29. Oktober 2010 Klage erhoben,

sie beantragen schriftsätzlich,

den Änderungsbescheid sowie den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 19.08.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.09.2010 hin-sichtlich Februar bis Juni 2010 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Er wiederholt und vertieft die Begründung des Widerspruchsbescheides.

Das Gericht hat dem Beklagten Gelegenheit gegeben, das Anhörungsverfahren förmlich nach-zuholen. Trotz mehrfacher Erinnerungen hat der Beklagte von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht.

Die Beteiligten wurden zur beabsichtigten Entscheidung des Gerichts durch Gerichtsbescheid angehört.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 105 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Die Beteiligten sind zuvor gehört worden.

Die Anfechtungsklage ist zulässig und begründet.

Die streitgegenständlichen Bescheide sind rechtswidrig und daher aufzuheben (vgl. § 54 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 SGG). Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 19. August 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. September 2010 ist wegen Verstoßes gegen die Anhörungspflicht nach § 24 SGB X rechtwidrig. Nach § 24 Abs. 1 SGB X ist, bevor ein Ver-waltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Nach Absatz 2 der Vorschrift kann davon unter bestimmten – hier jedoch nicht einschlägigen – Ausnahmen abge-sehen werden. Der Beklagte hat den Klägern im Ausgangsbescheid nicht die entscheidungser-hebliche Haupttatsache mitgeteilt, auf die sich die Rücknahme auf der Grundlage seiner Rechtsansicht stützen sollte. Entscheidungserheblich im Sinne von § 24 Abs. 1 SGB X sind alle Tatsachen, die zum Ergebnis der Verwaltungsentscheidung beigetragen haben (BSGE 69, 247). Der Beklagte hatte die Aufhebung der Bewilligungsentscheidung im Ausgangsbescheid zunächst auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X gestützt. Erstmals im insoweit maßgebenden Wi-derspruchsbescheid ging der Beklagte davon aus, dass für die Rücknahme der Leistungsbewil-ligung § 45, genauer § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X, einschlägig sei. Er sah auch die Voraus-setzungen einer Rücknahme für die Vergangenheit als erfüllt an, weil die Klägerin zu 1) die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes in Folge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt habe. Der Beklagte hat der Klägerin zu 1) im Verwaltungsverfahren zu der erstmals im Widerspruchsbe-scheid angeführten inneren Tatsache, sie habe die Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbeschei-des vom 22. Februar 2010 zumindest in Folge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt, keine Gele-genheit zu einer vorherigen Stellungnahme eingeräumt. Hierdurch hat er § 24 SGB X verletzt. Die fehlende Anhörung ist auch nicht nach § 41 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 3 SGB X nachgeholt worden. Ein während des Gerichtsverfahrens zu diesem Zweck durchzuführendes förmliches Verwaltungsverfahren, welches für eine Nachholung der Anhörung mit Heilungs-wirkung noch im Gerichtsverfahren notwendig ist, liegt vor, wenn die beklagte Behörde dem Kläger in angemessener Weise Gelegenheit zu Äußerung zu den entscheidungserheblichen Tatsachen gegeben hat und sie danach zu erkennen gibt, ob sie nach erneuter Prüfung dieser Tatsachen am bisher erlassenen Verwaltungsakt festhält. Dies setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts regelmäßig voraus, dass die Behörde den Kläger in einem gesonder-ten Anhörungsschreiben alle Haupttatsachen mitteilt, auf die sie die belastende Entscheidung stützen will und sie ihm eine angemessne Frist zur Äußerung setzt. Ferner ist erforderlich, dass die Behörde das Vorbringen des Betroffenen zur Kenntnis nimmt und sich abschließend zum Ergebnis der Überprüfung äußert (vgl. BSG, Urteil vom 09. November 2010 – B 4 AS 37/09 R -, amtlicher Umdruck, m.w.N.). Obwohl das Gericht dem Beklagten unter Hinweis auf die zi-tierte Entscheidung und unter mehrfacher Fristsetzung Gelegenheit gegeben hat, die entspre-chende Anhörung im Gerichtsverfahren ordnungsgemäß nachzuholen, hat der Beklagte hiervon keinen Gebrauch gemacht. Eine Heilung konnte daher nicht eintreten.

Vorstehende Ausführungen gelten entsprechend für den ebenfalls angefochtenen Änderungsbe-scheid vom 19. August 2010. Hierzu ist weiter auszuführen, dass der Änderungsbescheid, mit dem nach Aussage des Beklagten die Leistungen neu festgestellt werden sollen, dem ursprüng-lichen Bewilligungsbescheid vom 22. Februar 2010, der in Hinblick auf die Vorläufigkeit des Bescheides vom 17. Dezember 2009 der allein maßgebliche ursprüngliche Bewilligungsbe-scheid ist, in unzulässiger Weise zu Lasten des Klägers abändert. Bei der Bewilligung von Ar-beitslosengeld II handelt es sich um einen Dauerverwaltungsakt, dessen Bestandskraft nur durch eine gegenläufige Aufhebungsentscheidung durchbrochen werden kann (vgl. auch § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II in der zum streitgegenständlichen Zeitraum maßgebenden Fassung und BSG, Urteil vom 17.12.2009 – B 4 AS 30/09 R –, amtlicher Umdruck). Demgegenüber ist der Erlass neuer Verwaltungsakte zur Regelung des bereits bestandskräftig bewilligten Zeitraums zum Nachteil des Empfängers rechtswidrig (vgl. auch BSG, Urteil vom 22.09.2009 – B 2 U 32/08 R -, zitiert nach juris). Soweit ein solcher Änderungsbescheid informatorische Wirkung haben soll, ist er in Verbindung mit einem richtigerweise zu erlassenden, dem Bestimmtheits-gebot entsprechenden und ausreichend begründetem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid für den Empfänger überflüssig und verwirrend. Insbesondere, weil die Information in Bescheid-form und mit Rechtsbehelfsbelehrung versehen erteilt wird.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 105 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit § 193 SGG.

Die Nichtzulassung der Berufung folgt aus § 105 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG. Der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt nicht 750,00 Euro. Zulassungsgründe im Sinne des § 144 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.

Rechtsmittelbelehrung:

Dieser Gerichtsbescheid kann nur dann mit der Berufung angefochten werden, wenn sie nach-träglich zugelassen wird. Zu diesem Zweck kann die Nichtzulassung der Berufung mit der Be-schwerde angefochten werden.

Die Berufung ist zuzulassen, wenn

• die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,

• der Gerichtsbescheid von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialge-richts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesver-fassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder

• ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend ge-macht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

Die Beschwerde ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheides beim

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Försterweg 2-6

14482 Potsdam,

schriftlich, in elektronischer Form oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäfts-stelle einzulegen.

Die Beschwerdeschrift muss innerhalb der Monatsfrist bei dem vorgenannten Gericht einge-hen. Sie soll den angefochtenen Gerichtsbescheid bezeichnen und die zur Begründung dienen-den Tatsachen und Beweismittel angeben.

Anstelle der Beschwerde kann binnen eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheides bei dem Sozialgericht Potsdam, Rubensstraße 8, 14467 Potsdam, schriftlich, in elektronischer Form oder mündlich zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle mündliche Verhandlung beantragt werden. Wird ein solcher Antrag rechtzeitig gestellt, so gilt der Ge-richtsbescheid als nicht ergangen; anderenfalls wirkt er wie ein Urteil. Wird sowohl ein Rechtsmittel eingelegt als auch mündliche Verhandlung beantragt, findet mündliche Verhand-lung statt.

Die elektronische Form wird durch eine qualifizierte signierte Datei gewahrt, die nach den Maßgaben der Verordnung über den elektronischen Rechtsverkehr im Land Brandenburg vom 14. Dezember 2006 (GVBl. II S. 558) idF vom 1. Oktober 2007 (GVBl. II S. 425) in die elekt-ronische Poststelle des jeweiligen Gerichts zu übermitteln ist. Nähere Hinweise zu den Kom-munikationswegen für den elektronischen Rechtsverkehr können unter der Internetadresse www.erv.brandenburg.de abgerufen werden.
Rechtskraft
Aus
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