L 18 AL 165/11

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 56 AL 3764/07
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AL 165/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg verkündet am 23. Mai 2012

Az.: L 18 AL 165/11 Az.: S 56 AL 3764/07 Berlin

Im Namen des Volkes Urteil

In dem Rechtsstreit

M B, M , B, - Klägerin und Berufungsbeklagte -

Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte Prof. F Js u.a., W , B,

gegen

Bundesagentur für Arbeit, Regionaldirektion Berlin-Brandenburg, Friedrichstraße 34, 10969 Berlin,

- Beklagte und Berufungsklägerin -.

Der 18. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg hat auf die mündliche Verhandlung vom 23. Mai 2012 durch den Vorsitzenden Richter Mälicke, den Richter Wein und die Richterin Schakat sowie die ehrenamtliche Richterin Woldtmann und den ehrenamtlichen Richter Bratzke für Recht erkannt:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. März 2011 geändert und die Klage in vol¬lem Umfang abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind im gesamten Verfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin war vom 1. August 2004 bis 30. Juni 2007 als Geschäftsführerin bei dem L e.V. beschäftigt (Arbeitszeit zunächst 30 Stunden wöchentlich [monatliches Bruttoarbeitsentgelt für Juli, August, September und November 2006: 2.683,20 EUR, für Oktober 2006: 2.772,64 EUR], im Dezember 2006 20 Stunden wöchentlich [Bruttoarbeitsentgelt: 1.456,- EUR] und im Zeitraum vom 1. Januar 2007 bis 30. Juni 2007 zehneinhalb Stunden wö¬chentlich [Bruttoarbeitsentgelt monatlich 936,-EUR]). Seit 23. Oktober 2006 ist die Klägerin mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stun¬den als Sozialberaterin bei der O GmbH beschäftigt. Sie meldete sich am 25. Juni 2007 mit Wirkung zum 1. Juli 2007 teilarbeitslos und beantragte Teilarbeitslosengeld (Talg). Die Be¬klagte lehnte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 5. September 2007 mit der Begrün¬dung ab, sie sei nicht arbeitslos, weil sie mehr als kurzzeitig beschäftigt sei. Der Widerspruch der Klägerin wurde mit Widerspruchsbescheid vom 17. Oktober 2007 als unbegründet zurück¬gewiesen. Zur Begründung führt die Beklagte aus, die Klägerin habe zwar zwölf Monate ihre Tätigkeit bei dem L e.V. ausgeübt, aber nicht neben einer anderen versicherungs¬pflichtigen Tätigkeit. Denn die Tätigkeit bei der O GmbH sei erst am 23. Oktober 2006 aufgenommen worden.

Im Klageverfahren hat die Klägerin vorgetragen: Nach dem Wortlaut des § 150 Abs. 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung – (SGB III) sei lediglich erforder¬lich, dass die verlorene Teilzeitbeschäftigung mindestens zwölf Monate ausgeübt worden sei. Das Gesetz sage nichts dazu, dass daneben die weiter ausgeübte Beschäftigung mindestens zwölf Monate parallel zur verlorenen Beschäftigung ausgeübt worden sein müsse. Nach der Gesetzesbegründung sollten Teilzeitarbeitnehmer vor einem wesentlichen Einkommensverfall geschützt werden, den sie nach längerer paralleler Ausführung von mehreren versicherungs¬pflichtigen Beschäftigungen in Folge des Wegfalls einer Beschäftigung erlitten. Das Sozialge¬richt (SG) Berlin hat unter Abweisung der Klage im Übrigen die Beklagte mit Urteil vom 22. März 2011 unter "Aufhebung" des Bescheides vom 15. September 2007 in der Gestalt des Wi¬derspruchsbescheides vom 17. Oktober 2007 verurteilt, der Klägerin ab 23. Oktober 2007 Talg zu gewähren. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei insoweit begrün¬det, als der Klägerin ab 23. Oktober 2007 einen Anspruch auf Talg zustehe. Die Klägerin er¬fülle nicht die Voraussetzungen für die Gewährung von Talg ab 1. Juni 2007 gemäß § 51 Abs. 2 Nr. 2 SGB III. Denn sie habe die weiterhin ausgeübte Teilzeitbeschäftigung bei der O GmbH zu diesem Zeitpunkt noch nicht zwölf Monate ausgeübt. Ab 23. Oktober 2007 seien jedoch die Voraussetzungen nach § 150 Abs. 2 Nr. 2 SGB III erfüllt.

Im Berufungsverfahren trägt die Beklagte vor: Maßgeblich für die Erfüllung der Talg-Anwart¬schaftszeit sei , dass innerhalb der Talg-Rahmenfrist 360 Kalendertage versicherungspflichtige Be¬schäftigungen nebeneinander, dh. parallel ausgeübt worden seien (vgl. Urteile des Bundessozialgerichts – BSG - vom 9. Dezember 2003 – B 7 AL 96/02 R – und vom 17. November 2005 – B 11a AL 1/05 R –). Die Talg-Rahmenfrist betrage gemäß § 150 Abs. 2 Nr. 2 SGB III iVm § 124 Abs. 1 SGB III zwei Jahre und beginne mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonsti¬gen Voraussetzungen für den Anspruch auf Talg. Ausgehend von der Teilarbeitslosmeldung und Antragstellung zum 1. Juli 2007 umfasse die zweijährige Rahmenfrist die Zeit vom 1. Juli 2005 bis 30. Juni 2007. Innerhalb dieser Frist habe die Klägerin lediglich an 251 Tagen versi¬cherungspflichtige Beschäftigungen nebeneinander ausgeübt, nämlich in der Zeit vom 23. Ok¬tober 2006 bis 30. Juni 2007. Auch wenn entsprechend den Ausführungen im angegriffenen Urteil die Rahmenfrist auf den Zeitraum vom 23. Oktober 2005 bis 22. Oktober 2007 verscho¬ben würde, hätte die Klägerin die Anwartschaftszeit nicht erfüllt. Denn auch in diesem Zeit¬raum habe die Klägerin lediglich an 251 Tagen versicherungspflichtige Beschäftigungen ne¬beneinander ausgeübt. Das Erfordernis der Deckungsgleichheit beider Beschäftigungsverhält¬nisse über ein Jahr entspreche nicht nur dem Wortlaut des § 150 Abs. 2 Nr. 2 SGB III, son¬dern auch am ehesten dem Gesetzeszweck. Es sollten Lücken im System der Arbeitslosenversicherung geschlossen werden, die dadurch entstünden, dass jemand bei längerer Ausübung von mehreren Beschäf¬tigungen keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld habe, solange er noch die andere versiche¬rungspflichtige Beschäftigung ausübe und damit nicht arbeitslos sei. Eine andere Auslegung würde dazu führen, dass ein Anspruch auf Talg auch dann bestünde, wenn innerhalb der Rah¬menfrist zwei Teilzeitbeschäftigungen von je zwölf Monaten ausgeübt worden seien.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. März 2011 zu ändern und die Klage im vol¬len Umfang abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angegriffene Urteil und trägt ergänzend vor: Die Auffassung der Beklagten, das beide Beschäftigungsverhältnisse 360 Kalendertage nebeneinander, dh. parallel ausgeübt werden müssten, sei durch die angeführten Urteile des BSG nicht gedeckt. Die vorliegende Parallelität vom 23. Oktober 2006 bis 30. Juni 2007 entspreche dem gesetzgeberi¬schen Willen, dass beide Teilzeitbeschäftigungen, bevor eine derselben wegfalle, länger ausge¬übt worden seien.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Leistungsakten der Beklagten und die Gerichtsakten haben vorgelegen und sind Gegens¬tand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist begründet.

Die Klägerin hat für den hier nur noch streitigen Zeitraum ab 23. Oktober 2007 keinen Anspruch auf Talg.

Nach § 150 Abs. 1 SGB III in der Fassung des Arbeitsförderungs-Reformgesetzes (AFRG) vom 24. März 1997 (BGBl. I 594) hat Anspruch auf Talg ein Arbeitnehmer, der 1. teilarbeitslos ist, 2. sich teilarbeitslos gemeldet hat und 3. die Anwartschaftszeit für Talg erfüllt hat. Zwar war die Klägerin ab 1. Juli 2007 teilarbeitslos. Teilarbeitslos ist, wer eine versiche¬rungspflichtige Beschäftigung verloren hat, die er neben einer weiteren versicherungspflichti¬gen Beschäftigung ausgeübt hat und eine versicherungspflichtigen Beschäftigung sucht (§ 150 Abs. 2 Nr. 1 SGB III). Die Klägerin hat mit Ablauf des 30. Juni 2007 die versicherungspflich¬tige Beschäftigung bei dem L e.V. verloren, die sie neben der weiteren versiche¬rungspflichtigen Beschäftigung bei der O GmbH ausgeübt hat. Nach dem Gesamtzusam¬menhang ist auch davon auszugehen, dass die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum eine (weitere) versicherungspflichtige Beschäftigung gesucht hat. Weiterhin hat sich die Kläge¬rin gemäß § 150 Abs. 1 Nr. 2 SGB III am 25. Juni 2007 mit Wirkung zum 1. Juli 2007 teilar¬beitslos gemeldet.

Die Klägerin hat jedoch nicht die Anwartschaftszeit für Talg erfüllt im Sinne des § 150 Abs. 1 Nr. 3 SGB III iVm § 150 Abs. 2 Nr. 2 SGB III. Denn sie hat in der Talg-Rahmen¬frist neben der weiterhin ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigung bei der O GmbH nicht mindestens zwölf Monate eine weitere versicherungspflichtige Beschäftigung (bei Lebensnah e.V.) ausgeübt. Nach § 150 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 SGB III hat die Anwartschaftszeit erfüllt, wer in der Talg-Rahmenfrist von zwei Jahren neben der weiterhin ausgeübten versicherungs¬pflichtigen Beschäftigung mindestens zwölf Monate eine weitere versicherungspflichtige Be¬schäftigung ausgeübt hat. Nach § 150 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 SGB III gelten für die Talg-Rahmenfrist die Regelungen zum Alg über die Rahmenfrist entsprechend. Gemäß § 124 Abs. 1 SGB III be¬ginnt die Rahmenfrist mit dem Tag vor der Erfüllung aller sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch von Alg. Die Rahmenfrist erstreckt sich im vorliegenden Fall gemäß § 150 Abs. 2 Nr. 2 SGB III iVm § 124 Abs. 1 SGB III auf den Zeitraum vom 30. Juni 2007 bis 1. Juli 2005. In der Rahmenfrist hat die Klägerin jedoch nicht parallel zu ihrer aufgegebenen Beschäftigung bei dem L e.V. eine weitere versicherungspflichtige Beschäftigung von mindestens zwölf Monaten ausgeübt. Denn sie hat neben ihrer Tätigkeit für den Le.V. in diesem Zeitraum lediglich an 251 Tagen eine weitere versi¬cherungspflichtigen Beschäftigung ausgeübt und zwar in der Zeit vom 23. Oktober 2006 bis 30. Juni 2007. Nach dem Urteil des BSG vom 17. November 2005 (– B 11a AL 1/05 R = SozR 4-4300 § 150 Nr. 2) ist es zwar nicht erforderlich, dass das fortgeführte Beschäftigungsverhältnis mindestens zwölf Monate neben dem aufgegebenen Be¬schäftigungsverhältnis ausgeübt worden ist. Das BSG hat insoweit festgestellt, dass zur Erfül¬lung der Anwartschaftszeit insoweit auch frühere "zusätzliche" Beschäftigungsverhältnisse zu berücksichtigen sind, die in die Rahmenfrist fallen. In diesem Falle liege das Erfordernis der längeren parallelen Ausübung mehrerer versicherungspflichtiger Beschäftigungen vor. Mit diesen Ausführungen hat das BSG zugleich ausgedrückt, dass ein Anspruch auf Talg nur dann gege¬ben sein kann, wenn es innerhalb der Rahmenfrist zu einer mindestens zwölfmonatigen Paral¬lelität zwischen aufgegebener Beschäftigung und einem weiteren bzw. mehreren weiteren Be¬schäftigungsverhältnissen gekommen ist (vgl. Peters-Lange, in Gagel, SGB II/SGB III, Bd. 2, Stand: Dezember 2011, § 150 Rn. 21; Jahraus, in NK-SGB III, 3. Aufl. 2008; § 150 Rn. 31). Mit dem zugunsten von Arbeitnehmern, die eine von mehreren nebeneinander ausgeübten Beschäftigungen verlieren, eingeführten Talg soll nicht der Wegfall irgendeiner Teilzeitbeschäftigung kompensiert, sondern lediglich der Verlust einer über einige Zeit zusätzlich ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigung teilweise ersetzen werden (vgl. BT-Drucks 13/14941 S. 181). Ebenso wie im Falle der mit § 150 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 SGB III vergleichbaren Vorschrift des § 141 Abs. 2 SGB III, nach der nur eine dem Entstehen des Alg-Anspruchs vorausgehende mindestens zwölfmonatige parallele Ausübung von Haupt- und Nebentätigkeit zu einer Anrechnungsfreiheit von Nebeneinkommen auf das Alg führen kann (vgl. BSG, Urteile vom 1. Juli 2010 – B 11 AL 31/09 R = SozR 4-4300 § 141 Nr. 4 – und vom 1. März 2011 – B 7 AL 26/09 R = SozR 4-4300 § 141 Nr. 5; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 3. Mai 2012 – L 18 AL 356/10 -) , ist für den Anspruch auf Talg damit darauf abzustellen, ob der Lebensstandard des Teilarbeitslosen über den angeführten Zeitraum von 12 Monaten hinweg von einem zusätzlichen Einkommen mitbestimmt worden ist. Dies war bei der Klägerin indes nicht der Fall.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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