Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 8 U 4397/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 36/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 1. Dezember 2011 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt im Verfahren nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) die Anerkennung ihrer Erkrankungen als Berufskrankheiten (BK) nach Nr. 1302 oder 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV).
Die Klägerin ist 1950 geboren. Von 1965 bis 1969 war sie in der Schuhfertigung tätig, von 1969 bis 1986 in einer Wäscherei in M., anschließend bis 1994 in gleicher Tätigkeit in K ... Seit 1994 geht die Klägerin keiner Erwerbstätigkeit mehr nach. Bei der Klägerin liegt eine durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankung (BK Nr. 4302 der Anlage 1 zur BKV) vor, anerkannt als BK seit 1. Oktober 1994, verursacht durch ihre Tätigkeit als Wäscherin mit Kontakt zu Chlor und Hydrosulfid. Die Klägerin erhält seitdem eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 v.H.
Mit ärztlicher Anzeige über eine BK teilte Dr. B., Nervenarzt, der Beklagten am 22. April 2005 mit, dass die Klägerin unter Kopfschmerzen, Nervosität, Einschlafen und Schmerzen in der Hand mit zunehmender Wesensänderung mit häufiger Depressivität und Antriebsminderung leide. Dies führe er auf die langjährige Arbeit als Schuhfertigerin bzw. in der Wäscherei zurück. Der Anzeige beigefügt war ein Bericht des Dr. B. an den behandelnden Arzt vom 26. März 2005, zwei Laborberichte sowie der Bericht über eine testpsychologische Untersuchung durch den Dipl.-Psych. K. vom 3. August 2004.
Die Beklagte nahm Ermittlungen auf und zog u.a. das Vorerkrankungsverzeichnis bei der Krankenkasse bei, die Akten zur anerkannten BK Nr. 4302 der Anlage 1 zur BKV, insbesondere den Bericht des Technischen Aufsichtsbeamten vom 7. Juli 2005, und gab bei Prof. Dr. S. ein neurologisches Gutachten in Auftrag. In seinem Gutachten vom 1. Dezember 2005 mit psychologischem Zusatzgutachten der Dipl. Psychologin M. teilte Prof. Dr. S. mit, dass auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet kein krankhafter Befund vorliege.
Nach Beteiligung der Staatlichen Gewerbeärztin, die eine BK der Nr. 1317 der Anlage 1 zur BKV nicht zur Anerkennung vorschlug, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 25. Januar 2006 die Anerkennung einer BK nach Nr. 1317 und Nr. 1302 der Anlage 1 zur BKV ab, gestützt auf das Gutachten von Prof. Dr. S ... Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 28. März 2006 zurück. In dem dagegen geführten Klageverfahren vor dem Sozialgericht Karlsruhe (SG, Az.: S 1 U 1915/06) gab das SG ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten bei Dr. B. in Auftrag. In seinem Gutachten vom 20. September 2006 – mit testpsychologischem Zusatzgutachten des Dipl. Psychologen W. vom 12. Oktober 2006 - kam dieser zum Schluss, die Klägerin leide unter Kopfschmerz, einer Migräne und einem vermutlich chronischen Spannungskopfschmerz. Es bestehe ein sensibles Karpaltunnelsyndrom, rechts deutlicher als links. Eine Polyneuropathie liege nicht vor, neuropsychologisch bestehe allenfalls eine leichte Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit. Es bestünden leichte Ängste und teilweise depressive Verstimmungszustände am ehesten im Sinne einer leichten Anpassungsstörung. Auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet bestehe daher keine Gesundheitsstörung, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die Berufstätigkeit zurückzuführen sei. Mit Gerichtsbescheid vom 14. Februar 2007 wies das SG die Klage ab. In dem dagegen vor dem Landessozialgericht geführten Berufungsverfahren (Az.: L 10 U 1275/07) wurde die dagegen erhobene Berufung durch Urteil vom 28. Juni 2007 zurückgewiesen.
Mit Schreiben vom 3. Juni 2009 wandte sich die Klägerin erneut an die Beklagte. Sie führte aus, dass nach dem Ergebnis von Untersuchungen im Institut für Neuropathologie des Universitätsklinikums Aachen nunmehr ihre Erkrankung als BK anzuerkennen sei. Beigefügt war der Bericht vom 6. August 2008, wonach eine geringgradige chronische, mäßig progrediente Neuropathie vom axonalen Typ mit deutlicher demyelinisierender Komponente und geringer Regenerationstendenz, eine erhebliche Mikroangiopathie endo- und epineuraler Blutgefäße sowie eine ausgeprägte unspezifische Atrophie der schnellen Typ 2-Muskelfasern kombiniert mit einer geringgradigen chronischen neurogenen Muskelatrophie vorliege.
Die Beklagte nahm Ermittlungen auf, zog deshalb u.a. Unterlagen der Deutschen Rentenversicherung (Gutachten vom 9. Dezember 2008, zahlreiche Arztbriefe und Untersuchungsberichte) bei und gab bei Prof. Dr. T. ein arbeitsmedizinisches Zusammenhangsgutachten in Auftrag. Dieser führte in seinem Gutachten vom 1. April 2010 aus, bei der Klägerin bestehe eine distal betonte Polyneuropathie der Beine unklarer Ätiogenese, eine depressive Episode, ein chemisch-irritatives Asthma bronchiale (BK Nr. 4302 der Anlage 1 zur BKV), ein Karpaltunnelsyndrom, rechts stärker als links (Fremddiagnose), eine chronisch-rezidivierende Lumboischialgie bei degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule (LWS) - Fremddiagnose, chronischer Spannungskopfschmerz (DD Migräne), allergisches Asthma bronchiale bei multipler Sensibilisierung auf Umweltallergene, euthyreste Struma nodose (Fremddiagnose), Polyarthralgien (Fremddiagnose), Adipositas Grad 1, Fettstoffwechselstörung, Hyperopie und Presbyopie (Fremddiagnose) sowie nebenbefundlich Thromozytose und Leberzysten. Es ergäben sich keine begründbaren Anhaltspunkte für eine exogene Ursache der Polyneuropathie. Auffällig sei aber ein leicht erhöhter Glucose-Plasma-Spiegel, der auf einen leichten Diabetes mellitus hinweisen könnte, so dass die pathologisch-histologischen Veränderungen, wie sie vom Institut für Neuropathologie des Universitätsklinikums Aachen mitgeteilt worden seien, mit einer prä-diabetischen Neuropathie vereinbar sein könnten. Gegen eine berufliche Verursachung spreche des Weiteren, dass derzeit keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber vorliegen würden, dass eine akute oder chronische Exposition gegenüber Tetrachlorethen, einem Stoff, der in chemischen Reinigungen vorkomme, grundsätzlich in der Lage sei, beim Menschen eine Polyneuropathie zu verursachen. Des Weiteren spreche auch der Krankheitsverlauf dagegen, denn dieser sei nach der Anamnese leicht progredient und seit 2004 weitgehend unverändert. Beigefügt war das neurologische Zusatzgutachten der Fachärztin für Neurologie Dr. S. vom 10. März 2010.
Mit Bescheid vom 4. Juni 2010 lehnte die Beklagte eine Neufeststellung nach § 44 SGB X ab, da ein ursächlicher Zusammenhang der beruflichen Tätigkeit in einer Industriewäscherei mit der Polyneuropathie nach dem Ergebnis des Gutachtens von Prof. Dr. T. und Dr. S. nicht wahrscheinlich gemacht werden könne.
Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch und brachte vor, dass nunmehr erwiesen sei, dass sie unter Polyneuropathie leide. Dies hätten die übrigen Ärzte stets bestritten. Mit Widerspruchsbescheid vom 23. September 2010 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 21. Oktober 2010 Klage zum SG erhoben und ausgeführt, ihr behandelnden Arzt Dr. B. habe von Anfang an Recht in seiner Auffassung gehabt, dass sie unter einer beruflich verusachten Polyneuropathie leide. Dies hätten die anderen Ärzte – mit Ausnahme von Prof. Dr. T. – stets zu Unrecht bestritten. Beigefügt war das Scheiben des Dr. B. vom 27. Januar 2011, in dem dieser sinngemäß ausführt, Prof. Dr. T. habe fälschlicherweise keinen Zusammenhang der Tätigkeit der Klägerin in der Schuhindustrie mit den bestehenden Einschränkungen, insbesondere hinsichtlich ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit gesehen. Das SG hat den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. D. als Gutachter bestellt. In seinem Gutachten vom 19. Mai 2011 fasst dieser zusammen, die Klägerin leide unter einer Somatisierungsstörung, einer mittelschweren depressiven Verstimmung, leichtgradiger Polyneuropathie ungeklärter Ursache und einem leicht- bis mittelgradigem Carpaltunnelsyndrom beidseits. Bei der von ihm durchgeführten Untersuchung sei ein pathologischer Befund nicht zu erheben gewesen, insbesondere sei das Polyneuropathie-Syndrom an den Beinen nicht sicher nachzuweisen. Die Klägerin habe allerdings in ihrem Ausmaß stark wechselnde Sensibilitätsstörungen in den Unterschenkeln und Füßen angegeben, die auf ein sensibles Polyneuropathie-Syndrom hindeuten könnten. Elektrophysiologisch habe sich dieses jedoch – wie in der Vergangenheit – nicht objektivieren lassen. Man müsse aber dennoch davon ausgehen, dass eine solche Nervenschädigung vorliege, wenn man das Ergebnis der histologischen Untersuchung in Aachen berücksichtige. In der psychopathologischen Exploration hätten sich Anhaltspunkte für eine Somatisierungsstörung ergeben. Sonstige Erkrankungen auf nervenärztlichem Fachgebiet lägen nicht vor. Insbesondere hätten sich keine Hinweise dafür ergeben, dass die Klägerin unter einem hirnorganischen Psychosyndrom leide. Hinsichtlich der Ursächlichkeit der sensiblen Polyneuropathie schließe er sich der Beurteilung durch Dr. T. an.
Mit Gerichtsbescheid vom 1. Dezember 2011 hat das SG die Klage abgewiesen, gestützt auf die Gutachten von Prof. Dr. T. und Dr. D ... Die Klägerin leide zwar unter einer leichten, distal betonten Polyneuropathie der Beine, diese sei jedoch nicht auf toxische Einflüsse zurückzuführen. Die Klägerin sei während ihrer Tätigkeit in der Schuhfabrik einer geringen bis mittleren inhalativen Lösungsmittelbelastung ausgesetzt gewesen. Eine Überschreitung der Grenzwerte sei jedoch – wie für den TAD – für das Gericht nicht wahrscheinlich. Während der Tätigkeit in der Wäscherei bis 1986 sei es allenfalls zu einer geringfügigen Belastung durch Restbestände von Chlorbleiche beim Pressen der feuchten Wäsche gekommen. Bei der sich anschließenden Tätigkeit in der Wäscherei bis 1994 sei es nach Feststellungen des TAD zu Lösungsmittelexpositionen durch Perchlorethylen und Natriumhypochlorit, Wasserstoffperoxyd und PER-Essigsäure gekommen. Doch könnten auch insoweit verlässliche Angaben infolge baulicher Veränderungen bzw. Betriebsstillegung nicht mehr gemacht werden. Ein Zusammenhang dieser Exposition mit der festgestellten Polyneuropathie sei jedoch mit Prof. Dr. T. nicht hinreichend wahrscheinlich zu machen. Ein Zusammenhang sei bereits deshalb nicht zu bejahen, weil die Klägerin keinen Stoffen ausgesetzt gewesen sei, die nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen eine Polyneuropathie verursachen könnten (insbesondere n-Hexan und 2-Hexanon). Dies gelte vor allem für Perchlorethylen. Darüber hinaus spreche auch der Krankheitsverlauf mit einer leichten Progredienz bis 2004 und danach gleichbleibendem Befund gegen einen hinreichenden Ursachenzusammenhang. Dr. B. beschränke sich in seinen Stellungnahmen auf allgemeine Ausführungen zu lösungsmittelbedingten Gesundheitsschäden, ohne auf den konkreten Einzelfall einzugehen.
Gegen den ihr mit Postzustellungsurkunde am 5. Dezember 2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 3. Januar 2012 Berufung eingelegt. Sie beruft sich auf die Aussagen des Dr. B ... Dass eine Polyneuropathie vorliege, sei durch die Biopsie in Aachen bewiesen. Dort habe man zur Verursachung keine Aussage machen können, da ihr beruflicher Werdegang nicht bekannt gewesen sei. Sie sei nie über die Gefahren informiert worden, die beim Umgang mit den Arbeitsmitteln bestanden hätten.
Die Klägerin beantragt, sinngemäß gefasst,
die Beklagte unter Aufhebung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Karlsruhe vom 1. Dezember 2011 sowie des Bescheids vom 4. Juni 2010 in der Gestalt des Widerspruchs- bescheids vom 23. September 2010 zu verurteilen, den Bescheid vom 25. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. März 2006 aufzuheben und bei ihr eine BK nach Nr. 1317 der Anlage 1 zur BKV oder nach Nr. 1302 der Anlage 1 zur BKV festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
und verweist zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidungen.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erteilt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungs- und der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und nach § 151 SGG auch im Übrigen zulässige Berufung, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (§ 124 Abs. 2 SGG), ist unbegründet. Das SG hat ohne Rechtsfehler die auf Aufhebung der angefochtenen Bescheide und Neuverbescheidung im Rahmen des § 44 SGB X gerichtete Klage abgewiesen, da die Beklagte zu Recht die Rücknahme der Bescheide abgelehnt hat.
Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem der unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X).
Die Beklagte hat zu Recht die Rücknahme des Bescheids vom 25. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. März 2006 nach § 44 SGB X abgelehnt, da sie bei Erlass der Bescheide weder von einem Sachverhalt ausgegangen war, der sich als unrichtig erwiesen hat, noch das Recht unrichtig angewandt hatte. Denn bei der Klägerin liegt weder eine BK nach Nr. 1317 der Anlage 1 zur BKV noch nach Nr. 1302 der Anlage 1 zur BKV vor, die festzustellen wäre (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG).
Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch [(SGB VII)]. Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII).
In Anlage 1 zur BKV sind unter Nr. 1302 Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe, unter Nr. 1317 Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische aufgeführt.
Wie das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 2. April 2009 (B 2 U 9/08 R = SGb 2009, 355) ausgeführt hat, lassen sich aus der gesetzlichen Formulierung bei einer BK, die in der BKV aufgeführt ist (sog. Listen-BK) im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten: Die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität), und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkungen" und "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweis, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl. BSG vom 27. Juni 2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr. 7, jeweils RdNr. 15; BSG vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 17, jeweils RdNr. 13 ff).
Klarstellend und abweichend von der früheren gelegentlichen Verwendung des Begriffs durch den 2. Senat des BSG (vgl. BSG vom 2. Mai 2001 - B 2 U 16/00 R - SozR 3-2200 § 551 Nr. 16; BSG vom 4. Dezember 2001 - B 2 U 37/00 R - SozR 3-5671 Anl. 1 Nr. 4104 Nr. 1) hat das BSG in der genannten Entscheidung betont, dass im BK-Recht der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und den Einwirkungen nicht als haftungsbegründende Kausalität bezeichnet werden kann. Durch diesen Zusammenhang wird keine Haftung begründet, weil Einwirkungen durch die versicherte Tätigkeit angesichts ihrer zahlreichen möglichen Erscheinungsformen und ihres unterschiedlichen Ausmaßes nicht zwangsläufig schädigend sind. Denn Arbeit - auch körperliche Arbeit - und die damit verbundenen Einwirkungen machen nicht grundsätzlich krank. Erst die Verursachung einer Erkrankung durch die der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden Einwirkungen begründet eine "Haftung". Ebenso wie die haftungsausfüllende Kausalität zwischen Gesundheits(-erst-)schaden und Unfallfolge beim Arbeitsunfall (vgl. nur BSG vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 17, jeweils RdNr. 10) ist die haftungsausfüllende Kausalität zwischen der berufsbedingten Erkrankung und den BK-Folgen, die dann ggf. zu bestimmten Versicherungsansprüchen führen, bei der BK keine Voraussetzung des Versicherungsfalles.
Nach Maßgabe dieser für das BK-Recht modifizierten Terminologie des BSG ist auch nach der Antragstellung der Klägerin im Jahr 2009 und den daraufhin durchgeführten Ermittlungen nach wie vor weder eine BK nach Nr. 1317 noch nach Nr. 1302 der Anlage 1 zur BKV festzustellen, so dass eine Rücknahme der streitgegenständlichen Bescheide aus dem Jahr 2006 nach § 44 SGB X nicht in Betracht kommt.
Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat zunächst auf die zutreffenden Ausführungen des SG auf den Seiten 7 bis 11 der Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheids und macht sich diese nach eigener Prüfung zu eigen (§ 153 Abs. 2 SGG).
Weder die Ausführungen der Klägerin, noch des Dr. B., die nach Juni 2009 zu den Akten gelangt sind, noch die Ergebnisse der durchgeführten Ermittlungen oder das Vorbringen der Klägerin im Berufungsverfahren rechtfertigen eine abweichende Beurteilung.
Der Klägerin ist zwar zuzugeben, dass das Bestehen einer Polyneuropathie nach der im Klinikum Aachen durchgeführten Gewebeprobe und deren histologischer Untersuchung mittlerweile nicht mehr im Streit stehen dürfte. Diese Feststellung rechtfertigt jedoch weder die Rücknahme der angefochtenen Entscheidungen noch lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass die mit dem Gesundheitszustand der Klägerin vorbefassten Gutachter (insbesondere Prof. Dr. S. und Dr. B.) unzutreffend das Bestehen einer Polyneuropathie verneint haben.
Für die Feststellung des Bestehens einer BK genügt nicht der Nachweis einer Erkrankung, die in der BKV aufgeführt ist, also im hier vorliegenden Rechtsstreit das Bestehen einer Polyneuropathie, die in Nr. 1317 der Anlage 1 zur BKV als Erkrankung aufgeführt ist. Dies allein kann also nicht ausreichen, um die Rücknahme der Bescheide nach § 44 SGB X zu rechtfertigen. Denn wie oben ausgeführt muss des Weiteren ein Zusammenhang der Erkrankung mit der beruflichen Tätigkeit, sei es in der Schuhfertigung oder der Wäscherei, hinreichend wahrscheinlich sein. Einen derartigen Zusammenhang haben aber alle Gutachter übereinstimmend abgelehnt. Zusammenfassend wurde die Ablehnung darauf gestützt, dass die Klägerin schon keinen Stoffen ausgesetzt war, die nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen geeignet sind, eine Polyneuropathie zu verursachen und dass der Krankheitsverlauf untypisch ist.
Soweit die Klägerin in der Berufungsbegründung ausführt, dass die Ärzte des Klinikums Aachen einen Zusammenhang mit ihrer Berufstätigkeit nur deshalb nicht hergestellt hätten, weil ihnen entsprechende Angaben gefehlt hätten, kann der Senat offen lassen, ob dies tatsächlich der Fall war. Denn in der zusammenfassenden Kommentierung führten die Ärzte selbst aus, dass eine von ihnen festgestellte Typ-2-Muskelfaseratrophie einen unspezifischen Befund darstelle, der u.a. bei muskulärer Inaktivität und systemisch entzündlichen Prozessen beobachtet werden könne, wobei sich bei der Klägerin jedoch keine Hinweise für einen entzündlichen Prozess gefunden hätten. Vielmehr haben die Ärzte einen Zusammenhang mit einer diabetischen Neuropathie hergestellt. Es kann daher letztlich offen bleiben, ob die Ärzte tatsächlich eine andere Bewertung abgegeben hätten, wenn ihnen der berufliche Hintergrund der Klägerin bekannt gewesen wäre. Denn auch dann hätte anhand des Befundes eine Ätiologie (aufgrund seiner mangelnden Spezifität) nicht beschreiben und daher ein hinreichender Zusammenhang zur ehemaligen Berufstätigkeit nicht feststellen lassen.
Allein der Umstand, dass in früheren Zeiten in den Betrieben sicherlich ein unzureichendes Bewusstsein hinsichtlich der Gefährdung durch bestimmte Arbeitsstoffe bestanden hat und die Beschäftigten oftmals gefährdenden Arbeitsbedingungen ausgesetzt waren, lässt eine berufliche Verursachung der leichten sensiblen Polyneuropathie bei der Klägerin durch eine ihrer Berufstätigkeiten ebenfalls nicht hinreichend wahrscheinlich machen. Es kommt auf die festgestellten Arbeitsbedingungen vor Ort an. Dazu hat das SG, gestützt auf die Feststellungen des TAD der Beklagten, bereits ausführlich Stellung genommen.
Ergänzend ist noch zu bemerken: Soweit die Klägerin ausgeführt hat, dass mit Ausnahme von Prof. Dr. T., dem als erstem Gutachter die Histologieergebnisse der Untersuchung aus Aachen vorgelegen hatten, unzutreffend eine Polyneuropathie verneint hatten, kann dem der Senat ebenfalls nicht folgen. Denn auch 2008 wurde durch das Institut für Neuropathologie in Aachen nur eine geringgradige chronische, mäßig progrediente Neuropathie festgestellt, wobei dieser Befund nicht nur gegen eine bereits seit den 1990er Jahren bestehende Polyneuropathie, sondern auch dagegen spricht, dass die von der Klägerin demonstrierten Einschränkungen in der Sensibilität in ihrer Stärke und ihrem Ausmaß auf dieser Erkrankung beruhen.
Weitere Ermittlungen waren daher nicht angezeigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt im Verfahren nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) die Anerkennung ihrer Erkrankungen als Berufskrankheiten (BK) nach Nr. 1302 oder 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV).
Die Klägerin ist 1950 geboren. Von 1965 bis 1969 war sie in der Schuhfertigung tätig, von 1969 bis 1986 in einer Wäscherei in M., anschließend bis 1994 in gleicher Tätigkeit in K ... Seit 1994 geht die Klägerin keiner Erwerbstätigkeit mehr nach. Bei der Klägerin liegt eine durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankung (BK Nr. 4302 der Anlage 1 zur BKV) vor, anerkannt als BK seit 1. Oktober 1994, verursacht durch ihre Tätigkeit als Wäscherin mit Kontakt zu Chlor und Hydrosulfid. Die Klägerin erhält seitdem eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 v.H.
Mit ärztlicher Anzeige über eine BK teilte Dr. B., Nervenarzt, der Beklagten am 22. April 2005 mit, dass die Klägerin unter Kopfschmerzen, Nervosität, Einschlafen und Schmerzen in der Hand mit zunehmender Wesensänderung mit häufiger Depressivität und Antriebsminderung leide. Dies führe er auf die langjährige Arbeit als Schuhfertigerin bzw. in der Wäscherei zurück. Der Anzeige beigefügt war ein Bericht des Dr. B. an den behandelnden Arzt vom 26. März 2005, zwei Laborberichte sowie der Bericht über eine testpsychologische Untersuchung durch den Dipl.-Psych. K. vom 3. August 2004.
Die Beklagte nahm Ermittlungen auf und zog u.a. das Vorerkrankungsverzeichnis bei der Krankenkasse bei, die Akten zur anerkannten BK Nr. 4302 der Anlage 1 zur BKV, insbesondere den Bericht des Technischen Aufsichtsbeamten vom 7. Juli 2005, und gab bei Prof. Dr. S. ein neurologisches Gutachten in Auftrag. In seinem Gutachten vom 1. Dezember 2005 mit psychologischem Zusatzgutachten der Dipl. Psychologin M. teilte Prof. Dr. S. mit, dass auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet kein krankhafter Befund vorliege.
Nach Beteiligung der Staatlichen Gewerbeärztin, die eine BK der Nr. 1317 der Anlage 1 zur BKV nicht zur Anerkennung vorschlug, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 25. Januar 2006 die Anerkennung einer BK nach Nr. 1317 und Nr. 1302 der Anlage 1 zur BKV ab, gestützt auf das Gutachten von Prof. Dr. S ... Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 28. März 2006 zurück. In dem dagegen geführten Klageverfahren vor dem Sozialgericht Karlsruhe (SG, Az.: S 1 U 1915/06) gab das SG ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten bei Dr. B. in Auftrag. In seinem Gutachten vom 20. September 2006 – mit testpsychologischem Zusatzgutachten des Dipl. Psychologen W. vom 12. Oktober 2006 - kam dieser zum Schluss, die Klägerin leide unter Kopfschmerz, einer Migräne und einem vermutlich chronischen Spannungskopfschmerz. Es bestehe ein sensibles Karpaltunnelsyndrom, rechts deutlicher als links. Eine Polyneuropathie liege nicht vor, neuropsychologisch bestehe allenfalls eine leichte Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit. Es bestünden leichte Ängste und teilweise depressive Verstimmungszustände am ehesten im Sinne einer leichten Anpassungsstörung. Auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet bestehe daher keine Gesundheitsstörung, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die Berufstätigkeit zurückzuführen sei. Mit Gerichtsbescheid vom 14. Februar 2007 wies das SG die Klage ab. In dem dagegen vor dem Landessozialgericht geführten Berufungsverfahren (Az.: L 10 U 1275/07) wurde die dagegen erhobene Berufung durch Urteil vom 28. Juni 2007 zurückgewiesen.
Mit Schreiben vom 3. Juni 2009 wandte sich die Klägerin erneut an die Beklagte. Sie führte aus, dass nach dem Ergebnis von Untersuchungen im Institut für Neuropathologie des Universitätsklinikums Aachen nunmehr ihre Erkrankung als BK anzuerkennen sei. Beigefügt war der Bericht vom 6. August 2008, wonach eine geringgradige chronische, mäßig progrediente Neuropathie vom axonalen Typ mit deutlicher demyelinisierender Komponente und geringer Regenerationstendenz, eine erhebliche Mikroangiopathie endo- und epineuraler Blutgefäße sowie eine ausgeprägte unspezifische Atrophie der schnellen Typ 2-Muskelfasern kombiniert mit einer geringgradigen chronischen neurogenen Muskelatrophie vorliege.
Die Beklagte nahm Ermittlungen auf, zog deshalb u.a. Unterlagen der Deutschen Rentenversicherung (Gutachten vom 9. Dezember 2008, zahlreiche Arztbriefe und Untersuchungsberichte) bei und gab bei Prof. Dr. T. ein arbeitsmedizinisches Zusammenhangsgutachten in Auftrag. Dieser führte in seinem Gutachten vom 1. April 2010 aus, bei der Klägerin bestehe eine distal betonte Polyneuropathie der Beine unklarer Ätiogenese, eine depressive Episode, ein chemisch-irritatives Asthma bronchiale (BK Nr. 4302 der Anlage 1 zur BKV), ein Karpaltunnelsyndrom, rechts stärker als links (Fremddiagnose), eine chronisch-rezidivierende Lumboischialgie bei degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule (LWS) - Fremddiagnose, chronischer Spannungskopfschmerz (DD Migräne), allergisches Asthma bronchiale bei multipler Sensibilisierung auf Umweltallergene, euthyreste Struma nodose (Fremddiagnose), Polyarthralgien (Fremddiagnose), Adipositas Grad 1, Fettstoffwechselstörung, Hyperopie und Presbyopie (Fremddiagnose) sowie nebenbefundlich Thromozytose und Leberzysten. Es ergäben sich keine begründbaren Anhaltspunkte für eine exogene Ursache der Polyneuropathie. Auffällig sei aber ein leicht erhöhter Glucose-Plasma-Spiegel, der auf einen leichten Diabetes mellitus hinweisen könnte, so dass die pathologisch-histologischen Veränderungen, wie sie vom Institut für Neuropathologie des Universitätsklinikums Aachen mitgeteilt worden seien, mit einer prä-diabetischen Neuropathie vereinbar sein könnten. Gegen eine berufliche Verursachung spreche des Weiteren, dass derzeit keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber vorliegen würden, dass eine akute oder chronische Exposition gegenüber Tetrachlorethen, einem Stoff, der in chemischen Reinigungen vorkomme, grundsätzlich in der Lage sei, beim Menschen eine Polyneuropathie zu verursachen. Des Weiteren spreche auch der Krankheitsverlauf dagegen, denn dieser sei nach der Anamnese leicht progredient und seit 2004 weitgehend unverändert. Beigefügt war das neurologische Zusatzgutachten der Fachärztin für Neurologie Dr. S. vom 10. März 2010.
Mit Bescheid vom 4. Juni 2010 lehnte die Beklagte eine Neufeststellung nach § 44 SGB X ab, da ein ursächlicher Zusammenhang der beruflichen Tätigkeit in einer Industriewäscherei mit der Polyneuropathie nach dem Ergebnis des Gutachtens von Prof. Dr. T. und Dr. S. nicht wahrscheinlich gemacht werden könne.
Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch und brachte vor, dass nunmehr erwiesen sei, dass sie unter Polyneuropathie leide. Dies hätten die übrigen Ärzte stets bestritten. Mit Widerspruchsbescheid vom 23. September 2010 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 21. Oktober 2010 Klage zum SG erhoben und ausgeführt, ihr behandelnden Arzt Dr. B. habe von Anfang an Recht in seiner Auffassung gehabt, dass sie unter einer beruflich verusachten Polyneuropathie leide. Dies hätten die anderen Ärzte – mit Ausnahme von Prof. Dr. T. – stets zu Unrecht bestritten. Beigefügt war das Scheiben des Dr. B. vom 27. Januar 2011, in dem dieser sinngemäß ausführt, Prof. Dr. T. habe fälschlicherweise keinen Zusammenhang der Tätigkeit der Klägerin in der Schuhindustrie mit den bestehenden Einschränkungen, insbesondere hinsichtlich ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit gesehen. Das SG hat den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. D. als Gutachter bestellt. In seinem Gutachten vom 19. Mai 2011 fasst dieser zusammen, die Klägerin leide unter einer Somatisierungsstörung, einer mittelschweren depressiven Verstimmung, leichtgradiger Polyneuropathie ungeklärter Ursache und einem leicht- bis mittelgradigem Carpaltunnelsyndrom beidseits. Bei der von ihm durchgeführten Untersuchung sei ein pathologischer Befund nicht zu erheben gewesen, insbesondere sei das Polyneuropathie-Syndrom an den Beinen nicht sicher nachzuweisen. Die Klägerin habe allerdings in ihrem Ausmaß stark wechselnde Sensibilitätsstörungen in den Unterschenkeln und Füßen angegeben, die auf ein sensibles Polyneuropathie-Syndrom hindeuten könnten. Elektrophysiologisch habe sich dieses jedoch – wie in der Vergangenheit – nicht objektivieren lassen. Man müsse aber dennoch davon ausgehen, dass eine solche Nervenschädigung vorliege, wenn man das Ergebnis der histologischen Untersuchung in Aachen berücksichtige. In der psychopathologischen Exploration hätten sich Anhaltspunkte für eine Somatisierungsstörung ergeben. Sonstige Erkrankungen auf nervenärztlichem Fachgebiet lägen nicht vor. Insbesondere hätten sich keine Hinweise dafür ergeben, dass die Klägerin unter einem hirnorganischen Psychosyndrom leide. Hinsichtlich der Ursächlichkeit der sensiblen Polyneuropathie schließe er sich der Beurteilung durch Dr. T. an.
Mit Gerichtsbescheid vom 1. Dezember 2011 hat das SG die Klage abgewiesen, gestützt auf die Gutachten von Prof. Dr. T. und Dr. D ... Die Klägerin leide zwar unter einer leichten, distal betonten Polyneuropathie der Beine, diese sei jedoch nicht auf toxische Einflüsse zurückzuführen. Die Klägerin sei während ihrer Tätigkeit in der Schuhfabrik einer geringen bis mittleren inhalativen Lösungsmittelbelastung ausgesetzt gewesen. Eine Überschreitung der Grenzwerte sei jedoch – wie für den TAD – für das Gericht nicht wahrscheinlich. Während der Tätigkeit in der Wäscherei bis 1986 sei es allenfalls zu einer geringfügigen Belastung durch Restbestände von Chlorbleiche beim Pressen der feuchten Wäsche gekommen. Bei der sich anschließenden Tätigkeit in der Wäscherei bis 1994 sei es nach Feststellungen des TAD zu Lösungsmittelexpositionen durch Perchlorethylen und Natriumhypochlorit, Wasserstoffperoxyd und PER-Essigsäure gekommen. Doch könnten auch insoweit verlässliche Angaben infolge baulicher Veränderungen bzw. Betriebsstillegung nicht mehr gemacht werden. Ein Zusammenhang dieser Exposition mit der festgestellten Polyneuropathie sei jedoch mit Prof. Dr. T. nicht hinreichend wahrscheinlich zu machen. Ein Zusammenhang sei bereits deshalb nicht zu bejahen, weil die Klägerin keinen Stoffen ausgesetzt gewesen sei, die nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen eine Polyneuropathie verursachen könnten (insbesondere n-Hexan und 2-Hexanon). Dies gelte vor allem für Perchlorethylen. Darüber hinaus spreche auch der Krankheitsverlauf mit einer leichten Progredienz bis 2004 und danach gleichbleibendem Befund gegen einen hinreichenden Ursachenzusammenhang. Dr. B. beschränke sich in seinen Stellungnahmen auf allgemeine Ausführungen zu lösungsmittelbedingten Gesundheitsschäden, ohne auf den konkreten Einzelfall einzugehen.
Gegen den ihr mit Postzustellungsurkunde am 5. Dezember 2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 3. Januar 2012 Berufung eingelegt. Sie beruft sich auf die Aussagen des Dr. B ... Dass eine Polyneuropathie vorliege, sei durch die Biopsie in Aachen bewiesen. Dort habe man zur Verursachung keine Aussage machen können, da ihr beruflicher Werdegang nicht bekannt gewesen sei. Sie sei nie über die Gefahren informiert worden, die beim Umgang mit den Arbeitsmitteln bestanden hätten.
Die Klägerin beantragt, sinngemäß gefasst,
die Beklagte unter Aufhebung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Karlsruhe vom 1. Dezember 2011 sowie des Bescheids vom 4. Juni 2010 in der Gestalt des Widerspruchs- bescheids vom 23. September 2010 zu verurteilen, den Bescheid vom 25. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. März 2006 aufzuheben und bei ihr eine BK nach Nr. 1317 der Anlage 1 zur BKV oder nach Nr. 1302 der Anlage 1 zur BKV festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
und verweist zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidungen.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung erteilt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungs- und der Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und nach § 151 SGG auch im Übrigen zulässige Berufung, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat (§ 124 Abs. 2 SGG), ist unbegründet. Das SG hat ohne Rechtsfehler die auf Aufhebung der angefochtenen Bescheide und Neuverbescheidung im Rahmen des § 44 SGB X gerichtete Klage abgewiesen, da die Beklagte zu Recht die Rücknahme der Bescheide abgelehnt hat.
Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem der unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X).
Die Beklagte hat zu Recht die Rücknahme des Bescheids vom 25. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. März 2006 nach § 44 SGB X abgelehnt, da sie bei Erlass der Bescheide weder von einem Sachverhalt ausgegangen war, der sich als unrichtig erwiesen hat, noch das Recht unrichtig angewandt hatte. Denn bei der Klägerin liegt weder eine BK nach Nr. 1317 der Anlage 1 zur BKV noch nach Nr. 1302 der Anlage 1 zur BKV vor, die festzustellen wäre (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG).
Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch [(SGB VII)]. Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII).
In Anlage 1 zur BKV sind unter Nr. 1302 Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe, unter Nr. 1317 Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische aufgeführt.
Wie das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 2. April 2009 (B 2 U 9/08 R = SGb 2009, 355) ausgeführt hat, lassen sich aus der gesetzlichen Formulierung bei einer BK, die in der BKV aufgeführt ist (sog. Listen-BK) im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten: Die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität), und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkungen" und "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweis, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl. BSG vom 27. Juni 2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr. 7, jeweils RdNr. 15; BSG vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 17, jeweils RdNr. 13 ff).
Klarstellend und abweichend von der früheren gelegentlichen Verwendung des Begriffs durch den 2. Senat des BSG (vgl. BSG vom 2. Mai 2001 - B 2 U 16/00 R - SozR 3-2200 § 551 Nr. 16; BSG vom 4. Dezember 2001 - B 2 U 37/00 R - SozR 3-5671 Anl. 1 Nr. 4104 Nr. 1) hat das BSG in der genannten Entscheidung betont, dass im BK-Recht der ursächliche Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und den Einwirkungen nicht als haftungsbegründende Kausalität bezeichnet werden kann. Durch diesen Zusammenhang wird keine Haftung begründet, weil Einwirkungen durch die versicherte Tätigkeit angesichts ihrer zahlreichen möglichen Erscheinungsformen und ihres unterschiedlichen Ausmaßes nicht zwangsläufig schädigend sind. Denn Arbeit - auch körperliche Arbeit - und die damit verbundenen Einwirkungen machen nicht grundsätzlich krank. Erst die Verursachung einer Erkrankung durch die der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden Einwirkungen begründet eine "Haftung". Ebenso wie die haftungsausfüllende Kausalität zwischen Gesundheits(-erst-)schaden und Unfallfolge beim Arbeitsunfall (vgl. nur BSG vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 17, jeweils RdNr. 10) ist die haftungsausfüllende Kausalität zwischen der berufsbedingten Erkrankung und den BK-Folgen, die dann ggf. zu bestimmten Versicherungsansprüchen führen, bei der BK keine Voraussetzung des Versicherungsfalles.
Nach Maßgabe dieser für das BK-Recht modifizierten Terminologie des BSG ist auch nach der Antragstellung der Klägerin im Jahr 2009 und den daraufhin durchgeführten Ermittlungen nach wie vor weder eine BK nach Nr. 1317 noch nach Nr. 1302 der Anlage 1 zur BKV festzustellen, so dass eine Rücknahme der streitgegenständlichen Bescheide aus dem Jahr 2006 nach § 44 SGB X nicht in Betracht kommt.
Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat zunächst auf die zutreffenden Ausführungen des SG auf den Seiten 7 bis 11 der Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheids und macht sich diese nach eigener Prüfung zu eigen (§ 153 Abs. 2 SGG).
Weder die Ausführungen der Klägerin, noch des Dr. B., die nach Juni 2009 zu den Akten gelangt sind, noch die Ergebnisse der durchgeführten Ermittlungen oder das Vorbringen der Klägerin im Berufungsverfahren rechtfertigen eine abweichende Beurteilung.
Der Klägerin ist zwar zuzugeben, dass das Bestehen einer Polyneuropathie nach der im Klinikum Aachen durchgeführten Gewebeprobe und deren histologischer Untersuchung mittlerweile nicht mehr im Streit stehen dürfte. Diese Feststellung rechtfertigt jedoch weder die Rücknahme der angefochtenen Entscheidungen noch lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass die mit dem Gesundheitszustand der Klägerin vorbefassten Gutachter (insbesondere Prof. Dr. S. und Dr. B.) unzutreffend das Bestehen einer Polyneuropathie verneint haben.
Für die Feststellung des Bestehens einer BK genügt nicht der Nachweis einer Erkrankung, die in der BKV aufgeführt ist, also im hier vorliegenden Rechtsstreit das Bestehen einer Polyneuropathie, die in Nr. 1317 der Anlage 1 zur BKV als Erkrankung aufgeführt ist. Dies allein kann also nicht ausreichen, um die Rücknahme der Bescheide nach § 44 SGB X zu rechtfertigen. Denn wie oben ausgeführt muss des Weiteren ein Zusammenhang der Erkrankung mit der beruflichen Tätigkeit, sei es in der Schuhfertigung oder der Wäscherei, hinreichend wahrscheinlich sein. Einen derartigen Zusammenhang haben aber alle Gutachter übereinstimmend abgelehnt. Zusammenfassend wurde die Ablehnung darauf gestützt, dass die Klägerin schon keinen Stoffen ausgesetzt war, die nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen geeignet sind, eine Polyneuropathie zu verursachen und dass der Krankheitsverlauf untypisch ist.
Soweit die Klägerin in der Berufungsbegründung ausführt, dass die Ärzte des Klinikums Aachen einen Zusammenhang mit ihrer Berufstätigkeit nur deshalb nicht hergestellt hätten, weil ihnen entsprechende Angaben gefehlt hätten, kann der Senat offen lassen, ob dies tatsächlich der Fall war. Denn in der zusammenfassenden Kommentierung führten die Ärzte selbst aus, dass eine von ihnen festgestellte Typ-2-Muskelfaseratrophie einen unspezifischen Befund darstelle, der u.a. bei muskulärer Inaktivität und systemisch entzündlichen Prozessen beobachtet werden könne, wobei sich bei der Klägerin jedoch keine Hinweise für einen entzündlichen Prozess gefunden hätten. Vielmehr haben die Ärzte einen Zusammenhang mit einer diabetischen Neuropathie hergestellt. Es kann daher letztlich offen bleiben, ob die Ärzte tatsächlich eine andere Bewertung abgegeben hätten, wenn ihnen der berufliche Hintergrund der Klägerin bekannt gewesen wäre. Denn auch dann hätte anhand des Befundes eine Ätiologie (aufgrund seiner mangelnden Spezifität) nicht beschreiben und daher ein hinreichender Zusammenhang zur ehemaligen Berufstätigkeit nicht feststellen lassen.
Allein der Umstand, dass in früheren Zeiten in den Betrieben sicherlich ein unzureichendes Bewusstsein hinsichtlich der Gefährdung durch bestimmte Arbeitsstoffe bestanden hat und die Beschäftigten oftmals gefährdenden Arbeitsbedingungen ausgesetzt waren, lässt eine berufliche Verursachung der leichten sensiblen Polyneuropathie bei der Klägerin durch eine ihrer Berufstätigkeiten ebenfalls nicht hinreichend wahrscheinlich machen. Es kommt auf die festgestellten Arbeitsbedingungen vor Ort an. Dazu hat das SG, gestützt auf die Feststellungen des TAD der Beklagten, bereits ausführlich Stellung genommen.
Ergänzend ist noch zu bemerken: Soweit die Klägerin ausgeführt hat, dass mit Ausnahme von Prof. Dr. T., dem als erstem Gutachter die Histologieergebnisse der Untersuchung aus Aachen vorgelegen hatten, unzutreffend eine Polyneuropathie verneint hatten, kann dem der Senat ebenfalls nicht folgen. Denn auch 2008 wurde durch das Institut für Neuropathologie in Aachen nur eine geringgradige chronische, mäßig progrediente Neuropathie festgestellt, wobei dieser Befund nicht nur gegen eine bereits seit den 1990er Jahren bestehende Polyneuropathie, sondern auch dagegen spricht, dass die von der Klägerin demonstrierten Einschränkungen in der Sensibilität in ihrer Stärke und ihrem Ausmaß auf dieser Erkrankung beruhen.
Weitere Ermittlungen waren daher nicht angezeigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
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