S 8 KR 77/11

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 8 KR 77/11
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
Sprungrevision
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 47/12 R
Datum
Kategorie
Urteil
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 5.260,09 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.06.2009 zu zahlen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Die Sprungrevision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Vergütung für einen stationären Krankenhausaufenthalt der bei der Beklagten krankenversicherten C., geboren 1937, im Zeitraum vom 31.05.2008 bis 26.06.2008 in Höhe von 5.260,09 EUR.

Die Klägerin ist Betreiberin des in den Krankenhausplan des Landes Hessen aufgenommenen A. Klinikum in A-Stadt. Die Klägerin stellte der Beklagten mit Rechnung vom 10.07.2008 die Behandlungskosten für die stationäre Behandlung der Versicherten e C. in Höhe von 5.260,09 EUR in Rechnung. Dieser Rechnung lag die DRG L44Z (geriatrische frührehabilitative Komplexbehandlung bei Krankheiten und Störungen der Harnorgane) zugrunde.

Da die Beklagte Zweifel an der vorgenommenen Kodierung hatte, leitete sie das Prüfverfahren durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ein. Nach zunächst vollständigem Rechnungsausgleich verrechnete die Beklagte am 04.06.2009 den vollständigen Rechnungsbetrag und zahlte den aus ihrer Sicht korrekten Rechnungsbetrag in Höhe von 1.695,19 EUR. Die Beklagte war der Auffassung, dass das aufnahmebegründende Krankheitsbild die Durchführung einer geriatrischen Frührehabilitation nicht rechtfertige.

Am 17.02.2011 hat die Klägerin Klage erhoben. Zur Begründung trägt die Klägerin vor, die Patientin sei wegen einer zunehmenden Verschlechterung des Allgemeinzustandes und zunehmender Immobilität bei Vorliegen eines Harnwegsinfektes eingewiesen worden. Des Weiteren legt die Klägerin ausführlich dar, aus welchen medizinischen Gründen die durchgeführte geriatrische Frührehabilitation gerechtfertigt war. Daher sei der OPS-Code 8-550.q zu Recht abgerechnet worden. Des Weiteren führt die Klägerin aus, von einer Verwirkung des geltend gemachten Vergütungsanspruches sei nicht auszugehen.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 5.260,09 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.06.2009 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen und die Sprungrevision zuzulassen.

Zur Begründung trägt die Beklagte vor, nach Auswertung der Patientenakte durch den MDK würde sie sich nicht länger darauf berufen, dass der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch materiell-rechtlich nicht bestehen würde. Jedoch sei die Klageforderung nach Treu und Glauben verwirkt. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in seinen Urteilen vom 08.09.2009, Az. B 1 KR 11/09 R und vom 17.12.2009, Az. B 3 KR 12/08 R entschieden, dass Krankenhäuser unter bestimmten Voraussetzungen von der Nachberechnung von Forderungen nach den Grundsätzen von Treu und Glauben ausgeschlossen seien. Vorliegend handle es sich zwar nicht, wie in den den zitierten Entscheidungen des BSG zugrundeliegenden Sachverhalten, um eine Korrektur bezahlter Schlussrechnungen. Gleichwohl seien die in den oben genannten Urteilen manifestierten Grundsätze von Treu und Glauben auch auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar. Mit dem vom BSG aufgestellten Grundsatz der wechselseitigen Treue- und Obhutspflichten vertrage es sich nicht, wenn die Klägerin durch langzeitiges Untätigbleiben bei der Beklagten den Eindruck erwecke, als akzeptiere sie die Bewertung des Sachverhaltes durch den MDK. Zwar gebe es in der vorliegenden Rechtsbeziehung zwischen den Parteien kein formalisiertes Widerspruchsverfahren, die Beklagte habe jedoch darauf vertrauen dürfen, dass die Klägerin nach so langer Zeit diesen Fall nicht wieder aufgreife. Das unterlassen der Klägerin sei unter Berücksichtigung des dauerhaften Vertragsrahmens, in dem die Parteien professionell zusammenarbeiten würden, und in dem von beiden Parteien gegenseitige Rücksichtnahme erwartet werden könne, einem Tun gleichzusetzen. Aus dem dem Krankenhausabrechnungssystem immanenten Beschleunigungsprinzip folge die beiderseitige Verpflichtung zu schnellstmöglicher Abwicklung des Abrechnungsvorgangs.

Wegen der weiteren Einzelheiten, auch im Vorbringen der Beteiligten, wird auf die Gerichts- und auf die Patientenakte verwiesen, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig. Die Klägerin macht den Anspruch auf Zahlung der Vergütung für die Krankenhausbehandlung der Versicherten gegen die Beklagte zu Recht mit der echten Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) geltend. Die Klage eines Krankenhausträgers (wie der Klägerin) auf Zahlung der Behandlungskosten eines Versicherten gegen eine Krankenkasse ist ein Beteiligtenstreit im Gleichordnungsverhältnis, in dem eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht in Betracht kommt, kein Vorverfahren durchzuführen ist und keine Klagefrist zu beachten ist (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2008, Az.: B 1 KN 3/08 KR R; BSG Urteil vom 28.09.2006, Az.: B 3 KR 23/05 R, st. Rspr.).

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung von 5.260,09 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.06.2009. Rechtsgrundlage des streitigen Vergütungsanspruchs der Klägerin in Höhe von 5.260,09 EUR ist § 109 Abs. 4 Satz 3 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch, Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) in Verbindung mit § 7 Satz 1 Nr. 1 Gesetz über die Entgelte für voll- und teilstationäre Krankenhausleistungen, Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) sowie dem nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 SGB V für das Land Hessen bestehenden Krankenhausbehandlungsvertrag.

Die Zahlungsverpflichtung einer Krankenkasse entsteht unabhängig von einer schriftlichen Kostenzusage, die nur als deklaratorisches Schuldanerkenntnis anzusehen ist, unmittelbar mit der Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten, wenn die Versorgung in einem wie hier zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und im Sinne von § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann. Der Zahlungsanspruch des Krankenhauses korrespondiert in aller Regel mit dem Anspruch des Versicherten auf Krankenhausbehandlung. Demgemäß müssen beim Versicherten bei der Aufnahme in das Krankenhaus grundsätzlich alle allgemeinen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung sowie speziell von Krankenhausbehandlungen, insbesondere deren Erforderlichkeit vorliegen. Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die zur Krankenbehandlung gehörende Krankenhausbehandlung (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V) wird gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB V vollstationär, teilstationär, vor- und nachstationär sowie ambulant erbracht. Der Anspruch ist gerichtet auf vollstationäre Behandlung in einem zugelassenen Krankenhaus (§ 108 SGB V), wenn die Aufnahme nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann (§ 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V) (vgl. BSG, Urteil vom 16.12.2008, Az.: B 1 KN 3/08 KR R). Dabei richtet sich die Frage, ob einem Versicherten vollstationäre Krankenhausbehandlung zu gewähren ist nach medizinischen Erfordernissen (BSG, Großer Senat, Beschluss vom 25.09.2007, Az.: GS 1/06; BSG, Urteil vom 16.12.2008, Az.: B 1 KN 3/08 KR R). Das heißt, die Krankenkasse schuldet eine vollstationäre Krankenhausbehandlung nur, wenn der Gesundheitszustand des Patienten sie aus medizinischen Gründen erfordert. Im vorliegenden Fall besteht kein Streit darüber, dass der Versicherte der stationären Krankenhausbehandlung für den gesamten Zeitraum bedurfte.

Der Behandlungspflicht der zugelassenen Krankenhäuser i.S.d. § 109 Abs. 4 Satz 2 SGB V steht ein Vergütungsanspruch gegenüber, der nach Maßgabe des Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze, Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG), des KHEntgG und der Verordnung zur Regelung der Krankenhauspflegesätze, Bundespflegesatzverordnung (BPflV) in den zwischen den Krankenkassen und dem Krankenhausträger abgeschlossenen Verträgen beruht. Dabei ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass das von der Klägerin betriebene Krankenhaus in das DRG-Vergütungssystem einbezogen ist (§ 1 BPflV). Auch die Höhe des von der Klägerin geltend gemachten Anspruchs ist unstreitig.

Streit besteht lediglich über die Frage der Verwirkung der von der Klägerin geltend gemachten Forderung. Die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche sind jedoch nicht verwirkt. Der Tatbestand der Verwirkung setzt voraus, dass seit der Möglichkeit, das Recht geltend zu machen, längere Zeit verstrichen ist. Die erforderliche Zeitspanne richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles. Zu berücksichtigen sind vor allem Art und Bedeutung des Anspruchs, die Intensität des vom Berechtigten geschaffenen Vertrauenstatbestandes und das Ausmaß der Schutzbedürftigkeit des Verpflichteten. Ein Verhalten des Berechtigten, das einem konkludenten Verzicht nahekommt mindert die erforderliche Zeitdauer, so etwa die Nichtgeltendmachung des Anspruchs bei einer Abrechnung oder bei Verhandlungen oder die widerspruchslose Hinnahme der Zurückweisung des Anspruchs. Die Schutzbedürftigkeit des Verpflichteten wird wesentlich bestimmt durch den Umfang seiner Vertrauensinvestitionen und seinen Informationsstand (d.h. ob er vom Recht des anderen Teils wusste wissen musste oder ob er gutgläubig war). Kurze Verjährungsfristen rechtfertigen, wenn überhaupt nur ausnahmsweise die Bejahung einer Verwirkung. Die Regelverjährung von 3 Jahren muss dem Gläubiger grundsätzlich ungekürzt zur Verfügung stehen (Palandt/ Grüneberg, BGB, § 242 Rn. 93). Des Weiteren darf der Berechtigte während des für die Verwirkung erforderlichen Zeitraumes nichts zur Durchsetzung seines Rechts getan haben (Palandt/ Grüneberg, BGB, § 242 Rn. 95). Weiter muss der Verpflichtete sich auf Grund des Verhaltens des Berechtigten (Umstandsmoment) darauf eingerichtet haben, dass dieser sein (vermeintliches) Recht nicht mehr geltend machen wird. Hinzukommen muss, dass die verspätete Geltendmachung des Rechts wegen des geschaffenen Vertrauenstatbestandes als eine mit Treu und Glauben unvereinbare Härte erscheint; dies ist in der Regel dann der Fall, wenn der Schuldner im Hinblick auf die Nichtgeltendmachung des Rechts Vermögensdispositionen getroffen hat (vgl. Palandt/ Grüneberg, BGB, § 242 Rn. 95).

Im vorliegenden Fall hat die Klägerin durch ihr bloßes Nichtstun über einen Zeitraum von mehr als 1½ Jahren jedoch gerade keinen Vertrauenstatbestand geschaffen. Zwar kann ein Vertrauenstatbestand auch durch ein bloßes Nichtstun geschaffen werden, wenn das Nichtstun einem konkludenten Verzicht nahe kommt. Der konkludente Verzicht könnte hier darin gesehen werden, dass die Klägerin über einen Zeitraum von mehr als 1½ Jahren die Zurückweisung des Anspruchs widerspruchslos hingenommen hat. Jedoch rechtfertigt die für den hier geltend gemachten Anspruch geltende relativ kurze Verjährungsfrist von 4 Jahren (vgl. § 45 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch, Allgemeiner Teil (SGB I)) nur ausnahmsweise die Bejahung einer Verwirkung. Die Regelverjährung von 4 Jahren muss dem Gläubiger grundsätzlich ungekürzt zur Verfügung stehen. Daher sind hier strengere Anforderungen an den Vertrauenstatbestand zu stellen, als dies bei einer längeren Verjährungsfrist von z.B. 10 Jahren oder gar 30 Jahren der Fall wäre. Die Schaffung eines Vertrauenstatbestandes setzt daher bei einer Zeitspanne unterhalb der Verjährungsfrist von 4 Jahren ein positives Tun des Berechtigten voraus; ein bloßes Unterlassen reicht nicht aus. Anderenfalls würden die Vorschriften über eine kurze Verjährungsfrist von 4 Jahren ins Leere gehen. Des Weiteren ist auch nicht ersichtlich, welche Vermögensdispositionen die Beklagte im Hinblick auf die Nichtgeltendmachung des Rechts der Klägerin getroffen haben soll.

Etwas anderes kann auch nicht den von der Beklagten zitierten Urteilen des BSG entnommen werden. Den von der Beklagten zitierten Urteilen des BSG vom 08.09.2009, Az. B 1 KR 11/09 R und vom 17.12.2009, Az. B 3 KR 12/08 R lagen Sachverhalte zugrunde, die mit dem vorliegenden Sachverhalt nicht vergleichbar sind. In diesen Fällen hatte das klagende Krankenhaus der Krankenkasse jeweils eine Schlussrechnung in Rechnung gestellt, welche die Krankenkasse vollständig beglichen hat. Später hat das Krankenhaus dann eine neue, höhere "Schlussrechnung" erstellt und den Differenzbetrag von der Krankenkasse eingefordert. In dem Erstellen der Schlussrechnung kann das für die Verwirkung erforderliche Umstandsmoment gesehen werden. So führt das BSG aus (Urteil vom 17.12.2009, Az. B 3 KR 12/08 R, Rn. 14 f.): "Pendant für diese wesentliche [ ] Verfahrensbeschleunigung ist auf Seiten der Krankenkasse die Erwartung, dass das Krankenhaus den Behandlungsfall mit der Schlussrechnung jedenfalls grundsätzlich abschließt [ ]. Die Korrektur eines dem Krankenhaus im Einzelfall gleichwohl unterlaufenen Abrechnungsfehlers kann hiernach nur verlangt werden, wenn sein Interesse an der Fehlerkorrektur das der Krankenkasse am endgültigen Verfahrensabschluss überwiegt. Das wird im Regelfall zu bejahen sein, wenn der nachgeforderte Betrag den Kostenaufwand der Krankenkasse für die zusätzliche Prüfung übersteigt." Im vorliegenden Fall macht die Klägerin jedoch gerade keine neue, höhere "Schlussrechnung" geltend. Vielmehr macht die Klägerin lediglich den Betrag geltend, den sie der Beklagten von Anfang an in Rechnung gestellt hatte und den die Beklagte gekürzt hatte, da nach ihrer Auffassung die Nebendiagnose falsch kodiert war.

Der Zinsanspruch der Klägerin seit dem 06.06.2009 folgt aus § 10 des Landesvertrages in Verbindung mit § 288 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197 a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Die Sprungrevision war nach § 161 Abs. 2 i.V.m. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen, da die streitgegenständlichen Rechtsfragen, bislang nicht durch das BSG entschieden wurden.
Rechtskraft
Aus
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