L 7 AS 403/12 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 53 AS 1033/12 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 403/12 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
wegen einstweiliger Anordnung
1. Wer nach Aufgabe seiner bisherigen Wohnung und ohne neue Wohnung vorübergehend bei einem Familienmitglied wohnt, hat dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt mit der Folge, dass der Leistungsträger nach dem SGB II, wo sich die Wohnung des Familienmitglieds befindet, örtlich zuständig wird.
2. Kosten der Unterkunft können dann nur übernommen werden, soweit eine Beteiligung an den Unterkunftskosten des Familienmitglieds nachgewiesen wird.
3. Ist Hilfebedürftigkeit im Eilverfahren nicht glaubhaft gemacht, ist eine Beweislastentscheidung zu Lasten des Antragsstellers möglich, ohne dass eine Folgeabwägung nach den Grundsätzen des BVerfG erfolgen muss (s. auch VerfG 1.2.2010 A BvR 20/10).
1.Die Beschwerde der Bf gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom
09. Mai 2012 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

3. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.



Gründe:


I.

Die Antragsteller und Beschwerdeführer (Bf) begehren Leistungen nach dem SGB II aufgrund ihres Antrags vom 23.03.2012 mit Wirkung ab 15.04.2012.

Die Bf - die Bf zu 1) ist die alleinerziehende Mutter der im Jahr 2008 geborenen Bf zu 2 - waren zunächst von Dezember 2010 bis August 2011 im Leistungsbezug beim Beschwerdegegner (Bg) zu 1).

Im September 2011 flossen der Bf zu 1) 30.000 Euro zu, die der ehemalige Lebengefährte der Bf zu 1) als "Abfindung" anlässlich der Beendigung der Beziehung zahlte.

Im November 2012 zogen die Bf in den Bereich des Bg zu 2). Am 27.12.2012 beantragte die Bf zu 1) dort Leistungen nach dem SGB II. Mit Bewilligungsbescheid vom 12.01.2012 sowie Änderungsbescheid vom 17.01.2012 und weiterem Änderungsbescheid vom 09.05.2012 bewilligte der Bg zu 2) den Bf vorläufig - die Bf zu 1) erzielte als selbständige Künstlerin unregelmäßig Einkommen - Leistungen nach dem SGB II ab 01.12.2011.

Am 23.03.2012 beantragte die Bf zu 1) unter Vorlage eines Mietvertrags für eine Wohnung in F. wieder beim Bg zu 1) Leistungen nach dem SGB II und informierte gleichzeitig den Bg zu 2) vom beabsichtigten Umzug.

Mit Bescheid vom 17.04.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.05.2012 hob daraufhin der Bg zu 2) den laufenden Bewilligungsbescheid gemäß § 48 SGB X mit der Begründung auf, dass die Bf ab 15.04.2012 in den Bereich des Bg zu 1) umgezogen sei. Ob Klage gegen den Widerspruchsbescheid erhoben wurde, ist aus den Akten nicht ersichtlich.

Der Bg zu 1) erfuhr am 19.04.2012 vom von der Bf zu 1) eingeschalteten Makler, dass die Wohnung wegen Differenzen mit der Bf zu 1) nicht übergeben und neu inseriert werde. Daraufhin lehnte der Bg zu 1) den Antrag vom 15.04.2012 mit Bescheid vom 19.04.2012 mit der Begründung ab, das Mietverhältnis sei in F. nicht zustande gekommen, so dass die Bf nicht in den Bereich des Bf zu 1) gezogen seien. Die Bf hätten jetzt ihren gewöhnlichen Aufenthalt in A-Stadt, nämlich bei der älteren Tochter der Bf zu 1). Ob Widerspruch gegen diesen Bescheid eingelegt wurde, ist aus den Akten nicht ersichtlich.

Am 20.04.2012 beantragten die Bf beim Sozialgericht München einstweiligen Rechtsschutz. Sie benötigten die Kosten der Unterkunft für die Wohnung in F., damit ihnen der Wohnungsschlüssel für die bereits angemietete Wohnung übergeben werde, sowie Geld für Lebensmittel.

Nachdem der Bg zu 1) den Antrag der Bf vom 23.03.2012 auf Leistungen nach dem SGB II am 24.04.2012 wegen des Aufenthalt des Bf in A-Stadt in der Wohnung der älteren Tochter der Bf zu 1) an das Jobcenter A-Stadt weitergeleitetet hatte, lud das Sozialgericht das Jobcenter A-Stadt für das Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz bei.

Mit Beschluss vom 09.05.2012 verpflichtete das Sozialgericht München den Beigeladenen im Wege der einstweiligen Anordnung, den Bf ab 15.04.2012 vorläufig Leistungen nach dem SGB II in Höhe von monatlich 276,00 Euro bis zum 30.06.2012 zu gewähren, längstens jedoch bis zur Bestandskraft der Hauptsache, und lehnte den Antrag im Übrigen ab.

Der Antrag gegenüber dem Bg zu 1) und dem Bg zu 2) auf einstweiligen Rechtsschutz sei unbegründet, da beide örtlich nicht zuständig seien.
Im Bereich des Bg zu 1) sei zwar versucht worden, eine Wohnung anzumieten, diese aber den Bf letztlich nicht übergeben worden, so dass die Bf dort nie gewohnt hätten.
Aus dem Gebiet des Bg zu 2) seien die Bf bereits vor dem 15.04.2012 weggezogen. Die dortige Wohnung sei wegen des aus Sicht der Bf zu 1) zu starken Lärms fristlos gekündigt worden. Spätestens seit der Kündigung schliefen die Bf dort nicht mehr. In der Wohnung werde nach den Feststellungen des BG zu 2) auch kein Strom mehr verbraucht. Per Post seien die Bf nur unter der Adresse der Tochter in A-Stadt erreichbar. Schwerpunkt des Lebensbereichs der Bf sei daher derzeit A-Stadt.

Gegenüber dem Beigeladenen sei der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zum Teil erfolgreich. Den Bf stünde ein Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch hinsichtlich des Regelbedarfs in Höhe von 276 Euro monatlich zu.
Hilfebedürftigkeit der Bf sei letztlich nicht auszuschließen, obwohl die Bf zu 1) im September 2011 30.000,00 Euro erhalten habe. Die Nachweise für den Verbrauch des Geldes seien zwar noch nicht vollständig erbracht. Die Bf zu 1) habe jedoch eidesstattlich versichert, dass das Geld verbraucht worden sei und die Bf derzeit mittellos seien.
Ein Anordnungsgrund sei bezüglich des Regelbedarfs jedoch lediglich in Höhe von 276,00 Euro ersichtlich. Der Regelbedarf betrage bezüglich der Bf zu 1) monatlich 374,00 Euro und für die Bf zu 2) monatlich 219,00 Euro. Dem stünden Kindergeld für die Bf zu 2) in Höhe von 184,00 Euro sowie Leistungen nach dem UVG in Höhe von 133,00 Euro gegenüber, so dass ein ungedeckter Regelbedarf in Höhe von 276,00 Euro anzunehmen sei. Ein Abschlag vom Regelbedarf, wie er nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 11.05.2005 1 BvR 276/05) zur Vermeidung der Vorwegnahme der Hauptsache zwar zulässig sei, sei hier aber nicht vorzunehmen, da im Rahmen der einstweiligen Anordnung ein Mehrbedarf für Alleinerziehende bei der Bg zu 1) sowie mögliche eventuelle Freibeträge nicht berücksichtigt würden. Die Leistungsverpflichtung des Beigeladenen werde bis zum 30.06.2012 befristet, da die Bf gegenüber dem Beigeladenen noch ihren Mitwirkungspflichten im Hinblick auf die aktuelle Einkommens- und Vermögenssituation nachkommen müssten.

Kosten der Unterkunft seien im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nicht zu gewähren. Die Bf lebten derzeit kostenfrei in der Wohnung der älteren Tochter der Bf zu 1) in A-Stadt.

Hiergegen haben die Bf Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht eingelegt und für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe beantragt. Es sei ein rechtswirksamer Mietvertrag für die Wohnung in F. vorgelegt worden. Im Übrigen sei allen Mitwirkungspflichten nachgekommen worden. Mit E-Mail vom 09.06.2012 hat die Bf zu 1) ihre Situation und das Verhalten der Bg zu 1) und zu 2) nochmals detailliert geschildert.

II.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.

Zu Recht hat das Sozialgericht entschieden, dass gegenüber dem Bg zu 1) und dem Bg zu 2) mangels örtlicher Zuständigkeit kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II besteht.
Dabei kann dahingestellt bleiben, ob gegen die Bescheide der Bg jeweils überhaupt Rechtsmittel eingelegt worden ist.
Denn die Bf haben ihre Wohnung bzw ihren gewöhnlichen Aufenthalt weder im Zuständigkeitsbereich des Bg zu 1) noch des Bg zu 2), so dass beide für Leistungen nach dem SGB II gegenüber den Bf örtlich nicht zuständig sind, vgl. § 36 SGB II.
Die Bf bewohnen die Wohnung im Bereich des Bg zu 2 nicht mehr und haben diese fristlos gekündigt. Sie haben im Rahmen des Verfahrens auch nicht vorgetragen, dort noch zu wohnen und wollen Kosten der Unterkunft nach eigenem Sachvortrag nur für die Wohnung in F ... Dem entspricht auch, dass die Bf Leistungen ab 15,04.2012 beim Bg zu 1) beantragt haben. Eine Wohnung bzw ein gewöhnlicher Aufenthalt im Bereich des Bg zu 2) ist zumindest seit dem 15.04.2012 nicht mehr feststellbar.
Im Bereich des Bg zu 1) haben die Bf zwar versucht, eine Wohnung anzumieten. Die Wohnung wurde aber letztlich vom eingeschalteten Makler wegen Differenzen mit der Bf zu 1) nicht übergeben. Demnach konnten die Bf ihren Wohnsitz im Bereich des Bf zu 1 nicht nehmen. Nach den Feststellungen der zuständigen Behörden und des Sozialgerichts haben die Bf ihren tatsächlichen Aufenthalt in der Wohnung der älteren Tochter der Bf zu 1 genommen, mit der Folge, dass örtlich zuständig nun mehr der Beigeladene gemäß § 36 SGB II wurde.

Ebenfalls zu Recht hat das SG den seit 15.04.2012 örtlich zuständigen Beigeladenen im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nur verpflichtet, den Regelbedarf der Bf vorläufig zu leisten. Eine Verpflichtung des Beigeladenen zur Tragung von Kosten der Unterkunft und Heizung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes scheitert schon daran, dass insoweit weder Anordnungsanspruch noch Anordnungsgrund glaubhaft sind, vgl. § 86b Abs 2 Satz 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 920 Abs 2, § 294 Zivilprozessordnung (ZPO). Die Bf haben nicht vorgetragen, dass sie der älteren Tochter gegenüber verpflichtet wären, zu den Kosten der Unterkunft beizutragen. Anhaltspunkte hierfür sind auch nicht gegeben.

Soweit das SG entschieden hat, dass den Bf ab 15.04.2012 als Regelbedarf ein monatlicher Betrag in Höhe von 276 Euro vorläufig gewährt wird, ist angesichts der Tenorierung des SG lediglich klarzustellen, dass dieser Betrag ausschließlich der Bf zu 1) vorläufig zugesprochen wurde.

Denn die Bf zu 2) hat auch keinen Anspruch auf den Regelbedarf. Ihr Regelbedarf von 219 Euro wird durch ihr Einkommen von 184,00 Euro Kindergeld und 133,00 Euro UVG-Vorschuss mehr als gedeckt, wobei der Bf zu 1) das überschießende Einkommen von 98,00 Euro - bereinigt mit der 30-Euro-Pauschale - in Höhe von 68,00 Euro zuzurechnen ist.

Was eine mögliche Hilfebedürftigkeit der Bf zu 1) im Hinblick auf den Regelbedarf anbetrifft, verbietet sich unter Heranziehung der vom BVerfG aufgestellten Grundsätze (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 1 BvR 569/05 Rz 25) - entgegen der Ansicht des SG - eine "summarische" Prüfung. Die Sach- und Rechtslage ist umfassend und nicht nur summarisch zu prüfen, wobei nicht aufklärbare Sachverhaltselemente grundsätzlich nach den Beweislastregeln entschieden werden können (BVerfG, Beschluss vom 01.02.2010
1 BvR 20/10) und ggf. bei verbleibenden Unklarheiten eine Entscheidung im Eilverfahren nach Abwägungsgesichtspunkten vorzunehmen ist.

Letztlich ist hier die aktuelle Einkommens- und Vermögenslage der Bf - insbesondere im Hinblick auf den Verbleib der 30.000 Euro und mögliche Einkünfte der Bf zu1) aus selbständiger Tätigkeit - unklar, so dass Hilfebedürftigkeit bzw. der Umfang der Hilfebedürftigkeit im Rahmen des Eilverfahrens nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden kann, so dass nach den Vorgaben des BVerfG dann eine Abwägungsentscheidung angebracht erscheint.
Diese Abwägung hat das SG im Ergebnis im Hinblick auf die Höhe der vorläufigen Bewilligung des Regelbedarfs zutreffend vorgenommen, soweit das SG die Höhe des vorläufig zu leistenden Regelbedarfs auf 276,00 Euro beschränkt hat. Die Höhe eines vorläufigen Regelsatzes von 276,00 Euro für die Bf zu 1) erscheint sachgemäß.

Ausgehend von einem Regelbedarf der Bf zu 1) von 374,00 Euro abzüglich des der Bf zu 1) zuzurechnenden überschießenden Einkommens der Bf zu 2) i.H.v. 68,00 Euro ist, verblieb ein Regelbedarf von 306,00 Euro.
Das SG ist dann zutreffend davon ausgegangen, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (aaO Rz 26) im einstweiligen Rechtsschutz zur Vermeidung der Vorwegnahme der Hauptsache grundsätzlich ein Abschlag möglich ist, und hat aber in der Folge richtigerweise auf einen solchen Abschlag vom Regelbedarf der Bf zu 1) verzichtet mit dem Argument, dass es den Alleinerziehendenzuschlag für die Bf zu 1) bei der Bedarfsberechnung außer Betracht ließ.
Dass das SG die Laufdauer der einstweiligen Anordnung bis zum 30.06.2012 befristet hat, ist auch dies sachgemäß. Die Bf haben bislang den Verbleib der 30.000,00 Euro noch nicht vollständig nachgewiesen und gegenüber dem Beigeladenen auch noch nicht die weiter zur Bearbeitung des Antrags notwendigen Angaben vollständig gemacht, etwa zu evtl. Einnahmen der Bf zu1) aus ihrer selbständigen Tätigkeit als Künstlerin. Durch die Befristung der Laufdauer der vorläufigen Anordnung auf Ende Juni wird dem Beigeladenen ermöglicht, in dieser Zeit anhand der bis dahin von der Bf zu 1) vorgelegten Unterlagen über den Antrag der Bf zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und der Erwägung, dass die Bf mit ihrem Beschwerdebegehren erfolglos blieben.
Der Antrag auf Prozesskostenhilfe ist gemäß § 73 a SGG i.V.m. § 114 ZPO mangels hinreichender Erfolgsaussichten - wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt - abzulehnen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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