L 19 AS 961/12 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 60 AS 4737/11
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 961/12 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Kläger wird der Beschluss des Sozialgerichts Dortmund vom 03.05.2012 abgeändert. Den Klägern wird für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt. Die Beiordnung eines Prozessbevollmächtigten ist nicht erforderlich.

Gründe:

I.

Die Kläger wenden sich gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe.

Die Kläger stehen im Bezug von Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches - Grundsicherung für Arbeitsuchendes - (SGB II).

Mit Bescheid vom 22.11.2010, geändert durch Bescheid vom 26.03.2011, bewilligte die Rechtsvorgängerin des Beklagten (im Folgenden einheitlich: Beklagter) den Klägern Leistungen für den Zeitraum vom 01.01.2011 bis 30.06.2011. Die Bescheide wurden bestandskräftig. Am 16.05.2011 erging bezüglich dieses Zeitraums ein weiterer Änderungsbescheid sowie ein separater Leistungsbescheid betreffend den Zeitraum vom 01.07.2011 bis 31.12.2011. Am 21.06.2011 stellten die Kläger Anträge nach § 44 des Zehnten Buch des Sozialgesetzbuches - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) betreffend die Bescheide vom 22.11.2010 und 26.03.2011 und legten Widerspruch gegen den Bewilligungsbescheid vom 16.05.2011 ein. Mit Bescheid vom 27.06.2011 lehnte der Beklagte den Antrag auf Überprüfung der Bescheide ab. Hiergegen legten die Kläger am 29.06.2011 Widerspruch ein. Mit Schreiben vom 30.06.2011 wies der Beklagte darauf hin, dass er davon ausgehe, der Widerspruch gegen den "Bewilligungsbescheid" vom 16.05.2011 beziehe sich auf den Zeitraum vom 01.07.2011 bis 31.12.2011.

Am 12.07.2011 erging ein Änderungsbescheid zum Bescheid vom 16.05.2011 betreffend den Zeitraum vom 01.08.2011 bis 31.12.2011. Am 01.08.2011 ergingen weitere Änderungsbescheide betreffend Juni und Juli 2011 wegen in dieser Zeit erzielten Einkommens. Gegen den Bescheid vom 12.07.2011 und die Änderungsbescheide vom 01.08.2011 legten die Kläger Widerspruch ein.

Mit Widerspruchsbescheid vom 07.10.2011 entschied die Widerspruchsstelle des Beklagten über den Widerspruch betreffend den Bescheid vom 27.06.2011 (Ablehnung der Überprüfung der Leistungsbewilligung für den Zeitraum vom 01.01.2011 bis 30.06.2011) und den Widerspruch gegen den Bescheid vom 01.08.2011 betreffend die Absenkung der Leistungsbewilligung für den Monat Juni 2011.

Am 02.11.2011 haben die Kläger Klage erhoben und beantragt, den Beklagten unter Aufhebung der Bescheide vom 27.06.2011 und 01.08.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2011 zu verurteilen, den Klägern die ihnen nach den gesetzlichen Bestimmungen des SGB II zustehenden Leistungen zu bewilligen. Zur Begründung haben sie wiederum ausgeführt die Regelungen über die Höhe der Leistungen sei für die Zeit ab dem 01.01.2011 verfassungswidrig. Darüber hinaus haben sie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt T beantragt.

Mit Beschluss vom 03.05.2012, den Klägern nach eigenen Angaben zugestellt am 14.05.2012, hat das Sozialgericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt T, J, abgelehnt. Auf den Inhalt des Beschlusses wird Bezug genommen.

Hiergegen haben die Kläger am 15.05.2012 Beschwerde eingelegt. Zur Begründung verweisen sie erneut darauf, dass die Höhe der Leistungen nach dem SGB II für die Zeit ab dem 01.01.2011 aus verfassungsrechtlichen Gründen zu niedrig sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte sowie die Gerichtsakte Bezug genommen

II.

Die zulässige Beschwerde der Kläger ist teilweise begründet.

Prozesskostenhilfe steht den Klägern nach § 73 a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) zu, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung nach summarischer Prüfung hinreichende Erfolgsaussicht aufweist.

Hinreichende Erfolgsaussicht ist gegeben, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt, wobei diese angesichts der gesetzlichen Regelung oder im Hinblick auf die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht ohne Schwierigkeiten beantwortet werden kann (Bundesverfassungsgericht - BVerfG - Nichtannahmebeschluss vom 19.07.2010 - 1 BvR 1873/09 = NJW 2010, 3083 ff.= juris Rn. 11; Beschluss vom 19.02.2008 - 1BvR 1807/07 = NJW 2008, 1060 ff. = juris Rn. 23 m.w.N). Wenn diese Voraussetzungen vorliegen, läuft es dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, den Unbemittelten wegen fehlender Erfolgsaussicht ihres Begehrens Prozesskostenhilfe vorzuenthalten. Das Hauptsacheverfahren eröffnet nämlich den Parteien bessere Möglichkeiten der Entwicklung und Darstellung ihrer Rechtsstandpunkte. Die vertiefte Erörterung im Hauptsacheverfahren bietet dabei auch dem entscheidenden Gericht nicht selten die Möglichkeit seine eigene - im Prozesskostenhilfeverfahren aufgrund summarischer Prüfung - gebildete Rechtsauffassung zu überdenken.

Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage im vorliegenden Fall hat der Beklagte die Höhe der den Klägern zustehenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben ermittelt und den Klägern die entsprechenden Leistungen bewilligt. Etwas Gegenteiliges wird auch von den Klägern nicht geltend gemacht. Sie rügen lediglich, dass die Ermittlung der konkreten Regelbedarfe durch das Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz - RBEG) vom 24.03.2011 (BGBl. I S 453) verfassungswidrig sei.

Die Höhe des Regelbedarfs ist nach dem Wortlaut der einschlägigen Vorschrift eindeutig festgelegt, eine vom Wortlaut abweichende Auslegung auch unter Beachtung verfassungsrechtlicher Vorgaben nicht möglich. Der Beklagte und die Gerichte sind an die Gesetze gebunden. Die Entscheidungskompetenz hinsichtlich Feststellungen der Verfassungswidrigkeit obliegt dem Bundesverfassungsgericht. Der Senat hat gegen die Höhe der gesetzlich geregelten Regelbedarfe für die Zeit ab dem 01.01.2011 keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken (so auch etwa LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.10.2011 - L 12 AS 3445/11 = juris; Bayerisches LSG, Beschluss vom 10.08.2011 - L 19 AS 305/11 NZB = juris; SG Aachen Urteil vom 20.07.2011 - S 5 AS 177/11 = juris; SG Augsburg, Urteil vom 10.11.2011 - S 15 AS 749/11 = juris). Jedoch ist zu berücksichtigen, dass in der Literatur dezidiert mit ausführlicher und differenzierter Begründung die Auffassung vertreten wird, dass die Neuregelung der Regelbedarfe durch das RBEG nicht den durch das Bundesverfassungsgericht dargelegten Anforderungen entspreche. Im Hinblick auf diesen Diskussionsstand in der Literatur ist unter dem Gesichtspunkt der Wahrung der Rechtsschutzgleichheit und der Komplexität der Rechtsfrage den Klägern die Möglichkeit zu eröffnen, ihren Rechtsstandpunkt - Verfassungswidrigkeit der Bestimmungen der Höhe der Regelbedarfe - darzulegen, um dem Gericht die Möglichkeit des Überdenkens seiner Rechtsauffassung zu geben. Unabhängig von der Frage, ob die Voraussetzungen des § 44 SGB V vorliegen, wären höhere Regelbedarfe jedenfalls bei Höhe der Leistungen für den Monat Juni 2011 zu berücksichtigen.

Für den hier streitigen Bewilligungsabschnitt vom 01.01.2011 bis 30.06.2011 ist jedoch nach § 73a SGG i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO die Beiordnung eines Rechtsanwalts nicht erforderlich. Eine Beiordnung ist nach dieser Vorschrift dann erforderlich, wenn die Sach- und Rechtslage schwierig ist oder ein Beteiligter nicht in der Lage ist, seine Rechte angemessen wahrzunehmen (BVerfG Beschluss vom 09.07.2010 - 2 BvR 2258/09). Ob die Beiordnung erforderlich ist, ist stets im Einzelfall zu prüfen (vgl. Beschluss des Senats vom 27.12.2011 - L 19 AS 1538/11 B).

Ein Anspruch auf Beiordnung eines Rechtsanwalts besteht nicht für die Klärung der betreffenden Rechtsfrage in mehr als einem Verfahren der Kläger.

Das Grundrecht auf Rechtsschutzgleichheit, welches auch dem Institut der Prozesskostenhilfe zugrunde liegt, gebietet es nicht, dem unbemittelten Rechtssuchenden für jeden weiteren Bewilligungsabschnitt im Hinblick auf die behauptete Verfassungsmäßigkeit der Regelleistungen Prozesskostenhilfe zu gewähren. Denn durch die in einer Sache gewährte anwaltliche Beratung und Prozessführung wird er in die Lage versetzt, die rechtliche Situation auch in den Parallelfällen hinreichend zu beurteilen. Aus der Erstberatung und den aus ihr hervorgegangenen Dokumenten (Anwaltsschreiben) bezieht der Beratene bei Vorliegen mehrerer sachlich und rechtlich (nahezu) gleich gelagerter Fälle spezifische Rechtskenntnisse, die eine im Prinzip rechtlich anspruchsvolle Materie auch für den Laien handhabbar machen können. Die Verweisung auf Selbsthilfe stellt dann keine unverhältnismäßige Einschränkung der Rechtswahrnehmung dar, weil auch ein kostenbewusster Bemittelter das aufgrund der Erstberatung vorhandene Wissen selbständig auf die späteren Fälle übertragen würde (so zur Beratungshilfe BVerfG, Beschluss vom 30.05.2011 - 1 BvR 3151/10 = NJW 2011, 2711 ff. = juris Rn. 12; Beschluss vom 02.09.2010 - 1 BvR 1974/08 = NZS 2011, 462 f. = juris Rn. 13 ff.).

Darüber hinaus ist bei der Frage der Erforderlichkeit der Beiordnung eines Rechtsanwalts zu berücksichtigen, dass im vorliegenden Fall zum Zeitpunkt der Klageerhebung (02.11.2011) bereits Verfahren vor dem Bundessozialgericht anhängig waren, die dieselbe Rechtsfrage zum Gegenstand hatten.

Ein sein Kostenrisiko vernünftig abwägender Bürger, der die Prozesskosten aus eigenen Mitteln finanzieren muss, wird ein Verfahren nicht (weiter) betreiben, solange dieselbe Rechtsfrage bereits in anderen Verfahren in der Revisionsinstanz (sog. unechte Musterverfahren) anhängig ist. Er kann auf diesem Wege - im Falle einer in seinem Sinne positiven Entscheidung des Revisionsgerichts - vom Ausgang dieser Verfahren profitieren, ohne selbst einem (weiteren) Kostenrisiko zu unterliegen. Geht das Revisionsverfahren hingegen aus Sicht des Betroffenen negativ aus, ist er nicht gehindert, sein Rechtsschutzziel im eigenen Verfahren weiter zu verfolgen (so ausdrücklich LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 29.02.2012 - L 14 AS 206/12 B PKH = juris Rn 7 unter Bezugnahme auf BVerfG Beschluss vom 18.11.2009 - 1 BvR 2455/08 = NJW 2010, 988 f. = juris Rn 9; BVerfG Beschluss vom 30.05.2011 - 1 BvR 3151/10 = NJW 2011, 2711 ff. = juris Rn. 12, zur Gewährung von Beratungshilfe; vgl. dazu auch BVerfG Beschluss vom 02.09.2010 - 1 BvR 1974/08 = NZS 2011, 462 f. = juris Rn. 13 ff.). Aus diesem Grund ist vorliegend die Beiordnung eines Rechtsanwalts nicht erforderlich. Aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Artikel 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Abs. 3 GG) folgt keine vollständige Gleichheit Unbemittelter und Bemittelter, sondern nur eine weitgehende Angleichung dergestalt, dass Vergleichsperson derjenige Bemittelte ist, der seine Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigt. Eine Besserstellung desjenigen, der seine Prozessführung nicht aus eigenen Mitteln bestreiten muss und daher von vorneherein kein Kostenrisiko trägt, gegenüber dem Bemittelten, der sein Kostenrisiko wägen muss, besteht nicht (LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 29.02.2012 - L 14 AS 206/12 B = juris Rn 6).

Es reicht aus verfassungsrechtlicher Sicht aus, wenn dem Betroffenen nach Ergehen der "Musterentscheidungen" noch alle prozessualen Möglichkeiten offenstehen, umfassenden gerichtlichen Schutz zu erlangen (BVerfG BVerfG Beschluss vom 18.11.2009 - 1 BvR 2455/08 = NJW 2010, 988 f. = juris Rn 11; BVerfG Beschluss vom 27.03.1980 - 2 BvR 316/80 = BVerfGE 54, 39 ff. = juris Rn 5). Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Regelleistungen sind mehrere Revisionen beim Bundessozialgericht anhängig, die erste seit dem 11.07.2011 (vgl. dazu auch LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 29.02.2012 - L 14 AS 206/12 B PKH = juris Rn 8; LSG NRW Beschluss vom 15.12.2011 - L 2 AS 1774/11 B; LSG NRW Beschluss vom 04.01.2012 - L 12 AS 2100/11 B = juris Rn 2). Ein seine Verfahren ordnungsgemäß betreibender Verfahrensbeteiligter musste zu diesem Zeitpunkt von der Anhängigkeit eines Verfahrens vor dem Bundessozialgericht Kenntnis haben. Als maßgeblicher Zeitpunkt kommt hierbei derjenige in Betracht, zu dem die Anhängigkeit des Rechtsstreits in allgemein zugänglicher Weise bekannt gemacht worden ist. Anfang November war durch das Bundessozialgericht bereits lange bekannt gemacht, dass ein entsprechendes Verfahren anhängig ist. Es wurde zu diesem Zeitpunkt auch schon in einschlägigen Internetforen diskutiert. Vor diesem Hintergrund war es den Klägern zum Zeitpunkt der Klageerhebung zuzumuten gewesen, das Betreiben des eigenen Verfahrens zurückzustellen bzw. förmlich zu beantragen, im Hinblick auf die genannten Revisionen das Ruhen des Verfahrens anzuordnen (§ 251 Satz 1 ZPO i.V.m. § 202 SGG; vgl. dazu auch BVerfG Beschluss vom 18.11.2009 - 1 BvR 2455/08 = NJW 2010, 988 f. = juris Rn 11; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 29.02.2012 - L 14 AS 206/12 B = juris Rn 8). Die Beiordnung eines Rechtsanwalts war nach alledem im vorliegenden Fall nicht erforderlich.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht erstattungsfähig (§ 73a SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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