S 96 AS 15360/12 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
96
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 96 AS 15360/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für den Zeitraum 12. Juni 2012 bis 11. Dezember 2012 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 437,58 EUR zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin drei Viertel ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Der Antragstellerin wird mit Wirkung ab dem 12. Juni 2012 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt M A , K Str. , B bewilligt.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes um die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum 12. Juni 2012 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache. Die 22-jährige Antragstellerin, die die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzt, hält sich seit November 2009 durchgängig in Deutschland auf. Sie wohnt nach ihren Angaben gegenüber dem Antragsgegner mietfrei bei einem Bekannten in der P str. , B. Die Antragstellerin gibt an, seit November 2009 eine Tätigkeit als selbstständige Reinigungskraft auszuüben, mit der sie bisher ihren Lebensunterhalt bestritten hat. Es liegt eine entsprechende Gewerbeanmeldung vom 2. November 2009 vor. Rechnungen zu dieser Tätigkeit liegen erst ab August 2011 vor. Die Antragstellerin gibt an, zuvor lediglich für Auftraggeber gearbeitet zu haben, die keine Rechnungen benötigt hätten und das Geld bar vereinnahmt zu haben. Aus den Monaten August, September und Oktober 2011 liegen Rechnungen gegenüber der Firma ". Hotelreinigungsservice" über 1987,38 EUR, 1081,35 EUR und 640,80 EUR vor. Aus den Monaten Januar 2012 bis Juni 2012 liegenden Rechnungen gegenüber der Firma " Hotelreinigungsservice" (Januar) bzw. Herrn E ... H (ab Februar) über 372,46 EUR, 499,24 EUR, 542,35 EUR, 1006,93 EUR, 785,32 EUR und 145,51 EUR vor. Bezüglich der Rechnungen von Januar 2012 bis Mai 2012 finden sich in den eingereichten Kontoauszügen entsprechende Zahlungseingänge. Nach dem vorgelegten Auszug aus dem Mutterpass ist die Antragstellerin schwanger. Die Schwangerschaft ist am 7. Mai 2012 in der 12. Schwangerschaftswoche festgestellt worden, voraussichtlicher Entbindungstermin ist der 22. November 2012. Es liegt zudem eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des Frauenarztes B W vom 19. Juni 2012 für den Zeitraum 19. Juni 2012 bis 17. Juli 2012 vor. Am 22. Mai stellte die Antragstellerin einen Leistungsantrag beim Antragsgegner. Dieser lehnte die Bewilligung von Leistungen mit Bescheid vom 29. Mai 2012 ab und führte zur Begründung aus, die Antragstellerin habe ihre Freizügigkeitsbescheinigung auf Grundlage des § 5 FreizügigG/EU nur erhalten, weil sie gegenüber der Ausländerbehörde angegeben habe, über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichendes Einkommen zu verfügen. Die Antragstellerin erhob am 12. Juni 2012 Widerspruch gegen den Ablehnungsbescheid und stellte zugleich den vorliegenden Eilantrag beim Sozialgericht. Sie macht geltend, sie könne ihre bisherige Tätigkeit aufgrund der Schwangerschaft nicht mehr ausüben. Ein Leistungsanspruch bestehe aber selbst dann, wenn man sie als nur arbeitssuchend betrachte, da § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen höherrangiges Europarecht verstoße. Die Antragstellerin beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II für den Zeitraum ab 12. Juni 2012 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung der Hauptsache zu gewähren. Der Antragsgegner beantragt, den Antrag abzulehnen. Er ist der Auffassung, ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II bestehe nicht, da eine selbstständige Tätigkeit der Antragstellerin nicht ausreichend nachgewiesen sei und sie damit dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II unterfalle.

II.

Der Antrag ist zulässig und begründet. Nach § 86 b Absatz 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn die Regelung zur Abwehr wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen notwendig erscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des materiellen Anspruchs, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. die Unzumutbarkeit, bei Abwägung aller betroffenen Interessen die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten, voraus. Der geltend gemachte (Leistungs-)Anspruch (Anordnungsanspruch) und die besonderen Gründe für die Notwendigkeit der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 86 b Absatz 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Absatz 2 Zivilprozessordnung). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind von den Gerichten im Rahmen eines Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes in der Regel nur summarisch zu prüfen (vgl. BVerfG v. 29.07.2003 - 2 BvR 311/03 - NVwZ 2004, 95, 96). Können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, scheidet eine rein summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache jedoch aus. Die Gerichte sind in diesen Fällen vielmehr gemäß Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) gehalten, die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes auf eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage zu stützen. Scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden. Die grundrechtlichen Belange der Antragsteller sind dabei umfassend in die Abwägung einzustellen (BVerfG, Beschluss v. 12.05.2005 - 1 BvR 569/05; Beschluss v. 25.02.2009 – 1 BvR 120/09). Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die Voraussetzungen des als Anspruchsgrundlage allein in Betracht kommenden § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II sind nach Lage der Akten erfüllt. Auch ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – wie ihn der Antragsgegner annimmt – besteht nicht. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind Ausländer – und daran anschließend ihre Familienangehörigen – von Leistungen ausgeschlossen, wenn sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Zunächst dürfte die Antragstellerin während der Ausübung ihrer Tätigkeit als Reinigungskraft ein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU gehabt haben (ggf. auch nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 als FreizügG/EU Arbeitnehmerin, sofern man die Tätigkeit als "Scheinselbständigkeit" einordnen würde). Dieses Aufenthaltsrecht könnte gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU fortgelten, so dass ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II nicht in Betracht käme. Das Landessozialgericht hat mit Beschluss vom 20. Mai 2008 (Az: L 15 B 54/08 SO ER, sozialgerichtsbarkeit.de) entschieden, dass eine Schwangerschaft – bei einer an Art. 6 GG orientierten Auslegung - als nicht beeinflussbarer Umstand im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU anzusehen ist. Vorliegend spricht viel dafür, dass die Antragstellerin auch die für die Fortgeltung des Aufenthaltsrechts nach dieser Vorschrift erforderliche Mindestdauer der Tätigkeit von einem Jahr erfüllt hat. Allerdings fehlt es für die tatsächliche Ausübung der Tätigkeit in der Zeit vor August 2011 an aussagekräftigen Nachweisen. Die in diesem Punkte noch erforderliche Aufklärung ist im Eilverfahren aber nicht zu leisten, so dass an dieser Stelle eine Folgenabwägung zu Gunsten der Antragstellerin vorzunehmen wäre, wenn es auf diese Frage in entscheidungserheblicher Weise ankommen würde. Nach Auffassung der Kammer spricht jedoch auch einiges dafür, die Schwangerschaft der Antragstellerin unter die Vorschrift des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU zu subsumieren. In diesem Falle wäre die Mindestdauer von einem Jahr keine Voraussetzung. Letztlich kann nach der von der Kammer vertretenen Auffassung zu Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II die Frage der Fortgeltung des Aufenthaltsrechts der Antragstellerin aufgrund ihrer bisherigen Tätigkeit aber dahinstehen, da die Antragstellerin nach Auffassung der Kammer auch dann einen Leistungsanspruch hat, wenn sie kein anderes Aufenthaltsrecht geltend machen kann als das der Arbeitssuche. Denn der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ist nicht mit unmittelbar anwendbarem und Anwendungsvorrang genießendem Europarecht, nämlich mit Art. 4 VO 883/2004 vereinbar (vgl. Urteil des SG Berlin vom 24. Mai 2011, Az: S 149 AS 17644/09, dort S. 9, sowie Urteil vom 27. März 2012, Az: S 110 AS 28262/11 Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 14. Juli 2011, Az: L 7 AS 107/11 B ER, Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. April 2012, L 14 AS 7623/12 B ER, SG Dresden, Beschluss vom 5. August 2011, Az: S 36 AS 3461/11 ER, SG Berlin, Beschluss vom 8. Mai 2012, Az: S 91 AS 8804/12, SG Berlin, Beschluss vom 20. Juni 2012, Az: S 189 AS 15170/12 ER; a.A. insbesondere Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. Februar 2012, Az: L 20 AS 2347/11 B ER, Beschluss vom 3. April 2012, Az: L 5 AS 1257/11 B ER und Beschluss vom 12. Juni 2012, Az: L 29 AS 1044/12 B ER). Danach haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Gemäß Art. 3 Abs. 3 i.V.m. Art. 70 i.V.m. Anhang X VO 883/2004 gilt dieser Gleichbehandlungs¬grundsatz auch für Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Die Kammer ist auch unter Berücksichtigung der Argumente des 20. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg in seiner Entscheidung vom 29. Februar 2012 (Az: L 20 AS 2347/11 B ER) sowie des 5. Senats in seiner Entscheidung vom 3. April 2012 (Az: L 5 AS 1257/11 B ER) und des 29. Senats in seiner Entscheidung vom 12. Juni 2012 (Az: L 29 AS 1044/12 B ER) nicht der Auffassung, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II anwendbar ist. Der persönliche Geltungsbereich der Verordnung ist für die Antragstellerin eröffnet. Der persönliche Geltungsbereich der VO 883/2004 ist nach deren Art. 2 eröffnet für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, mithin für die Antragstellerin als Staatsangehöriger Bulgariens, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen (Art. 2 Abs. 1 VO 883/2004). Nach der Legaldefinition des Art. 1 Buchst. l) VO 883/2004 sind "Rechtsvorschriften" für jeden Mitgliedsstaat die Gesetze, Verordnungen, Satzungen und alle anderen Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004 genannten Zweige der sozialen Sicherheit. Nach Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004 gilt die Verordnung für alle Rechtsvorschriften, die bestimmte Zweige der sozialen Sicherheit betreffen, so u. a. die unter Buchstabe h) beschriebenen "Leistungen bei Arbeitslosigkeit". Diese Rechtsvorschriften gelten für die Antragstellerin, die beispielsweise – auch wenn man mögliche Ansprüche nach dem SGB II außer Betracht lässt – jedenfalls Arbeitsvermittlungsleistungen nach dem SGB III (z.B. nach § 29 ff SGB III) in Anspruch nehmen kann (vgl. auch SG Berlin, Beschluss vom 20. Juni 2012, Az: S 189 AS 15170/12 ER, juris). Die Leistungen des SGB II fallen auch ausdrücklich in den sachlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004. In Art. 3 Abs. 5 VO (EG) Nr. 883/2004 heißt es zwar, dass "diese Verordnung [ ] weder auf die soziale und medizinische Fürsorge noch auf Leistungssysteme für Opfer des Krieges und seiner Folgen anwendbar [ist]". Gemäß Art. 3 Abs. 3 der Verordnung erfasst der Anwendungsbereich jedoch ausdrücklich auch "die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gemäß Artikel 70". Diese Vorschrift wiederum trifft Regelungen für "besondere beitragsunabhängige Geldleistungen, die nach Rechtsvorschriften gewährt werden, die aufgrund ihres persönlichen Geltungsbereichs, ihrer Ziele und/oder ihrer Anspruchsvoraussetzungen sowohl Merkmale der in Artikel 3 Absatz 1 genannten Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit als auch Merkmale der Sozialhilfe aufweisen". Die Leistungen nach dem SGB II, welche neben bestimmten Leistungen nach dem SGB XII im Anhang X der Verordnung ausdrücklich angeführt sind, fallen unter den Begriff der besonderen beitragsunabhängigen Leistungen im Sinne des Art. 70 VO Nr. 883/2004 (BSG Urteil v. 18.01.2011 - B 4 AS 14/10 R; zu den Tabestandsvoraussetzungen des Art. 70 VO im Einzelnen vgl. SG Berlin, Beschluss vom 29. März 2012, S 43 AS 6270/12 ER, nicht veröffentlicht). Damit ergibt sich eine Anwendbarkeit des Art. 4 VO auf die Antragstellerin und zwar grundsätzlich auch in Hinblick auf Leistungen nach dem SGB II. Soweit der Art. 4 VO wiederum selbst hinsichtlich der angeordneten Gleichbehandlung Bezug auf die "Rechtsvorschriften" eines Mitgliedstaates nimmt, liegt diesem Begriff ein anderes Verständnis als nach der Legaldefinition des Art. 1 lit. l) der Verordnung zugrunde. Hierzu hat die 91. Kammer des Sozialgerichts Berlin in ihrem Beschluss vom 8. Mai 2012 (Az: S 91 AS 8804/12 ER) ausgeführt: Nach Art. 1 lit. l) der Verordnung "sind "Rechtsvorschriften" für jeden Mitgliedstaat die Gesetze in Bezug auf die in Artikel 3 Absatz 1 genannten Zweige der sozialen Sicherheit. Diese Zweige umfassen abschließend (vgl. EuGH, Rs. 122/84, Slg. 1985, I-1027 [Scrivner]; Rs. C-25/95, Slg. 1996, I-3745 [Otte]; Rs. C-160/96, Slg. 1998, I-843 [Molenaar]): Leistungen bei Krankheit, bei Mutterschaft und Vaterschaft, bei Invalidität, bei Alter, an Hinterbliebene, bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, das Sterbegeld, Leistungen bei Arbeitslosigkeit, Vorruhestandsleistungen sowie Familienleistungen. Leistungen nach dem SGB II besitzen indes einen Hybridcharakter: Sie weisen sowohl Merkmale von – von Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 umfassten – Leistungen bei Arbeitslosigkeit als auch der Sozialhilfe/sozialen Fürsorge ("social assistance") auf, die nach Art. 3 Abs. 5 lit. a) Variante 2 der Verordnung von ihrem Geltungsbereich ausgeschlossen sind, und werden daher zutreffend als besondere beitragsunabhängige Leistungen qualifiziert, die erst über Art. 3 Abs. 3 Eingang in den Geltungsbereich der Verordnung finden (vgl. BSG ebd.; SG Berlin, Beschl. v. 29. März 2012 - S 43 AS 6270/12 ER -; vgl. auch BSG, Urteil v. 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R - juris Rn. 29). Selbst wenn das SGB II mithin nicht "Rechtsvorschriften" im Sinne der Begriffsbestimmung gemäß Art. 1 lit. l) i.V.m. Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 enthält, sondern besondere beitragsunabhängige Leistungen gemäß Art. 3 Abs. 3 der Verordnung gewährt, findet der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 VO (EG) 883/2004 auch im Bereich der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II Anwendung. Hierfür sprechen bereits systematische Erwägungen. Art. 70 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 normiert die Nichtanwendbarkeit u.a. von Art. 7 der Verordnung für beitragsunabhängige Leistungen. Nach dieser Vorschrift dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt , in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat. Wenn "Rechtsvorschriften" im Sinne von Art. 7 VO (EG) 883/2004 lediglich solche wären, die die Begriffsbestimmung von Art. 1 lit. l) i.V.m. Art. 3 Abs. 1 der Verordnung erfüllen, hätte es der ausdrücklichen Anordnung der Nichtanwendbarkeit des Verbots von Wohnortklauseln für besondere beitragsunabhängige Leistungen im Sinne von Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 nicht bedurft. Ebenso wäre der Exportausschluss nach Art. 70 Abs. 4 Satz 1 der Verordnung überflüssig, zumindest in sich widersprüchlich. Ferner ist davon auszugehen, dass der Verordnungsgeber Art. 4 VO (EG) 883/2004 neben Art. 7 in Art. 70 Abs. 3 der Verordnung aufgenommen hätte, wenn besondere beitragsunabhängige Geldleistungen – wie nach dem SGB II – vom Anwendungsbereich des Gleichbehandlungsgebots gemäß Art. 4 der Verordnung ausgenommen werden sollten. Schließlich entspricht die Eröffnung des Anwendungsbereichs des Art. 4 VO (EG) 883/2004 für die gemäß Art. 3 Abs. 3 VO (EG) 883/2004 ausdrücklich in den Geltungsbereich der Verordnung einbezogenen besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen den Grundsätzen praktischer Wirksamkeit (effet utile). Nach Erwägungsgrund Nr. 5 der Verordnung ist erforderlich, bei der Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit innerhalb der Gemeinschaft sicherzustellen, dass die betroffenen Arbeitnehmer und Selbständige nach den verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften gleichbehandelt werden. In Halbsatz 1 des Erwägungsgrunds Nr. 32 ist hervorgehoben, dass zur Förderung der Mobilität der Arbeitnehmer vor allem ihre Arbeitssuche in den verschiedenen Mitgliedstaaten zu erleichtern ist. Die Regelungen des SGB II enthalten mit dem Alg II die Grundsicherung für Arbeitssuchende in Deutschland. Arbeitssuchende Bürger anderer Mitgliedsstaaten durch eine – bei engem Verständnis vom Wortlaut her nahegelegte – direkte Übertragung der Begriffsbestimmung gemäß Art. 1 lit. l) VO (EG) 883/2004 auf den Begriff der "Rechtsvorschriften" in Art. 4 der Verordnung von Alg II-Leistungen auszuschließen, würde die Arbeitssuche hierzulande für diese Gruppe erschweren und widerspräche damit dem Ziel der Förderung der Mobilität." Diese Ausführungen macht sich die Kammer nach selbständiger Prüfung ausdrücklich zu eigen. Nach alledem ergibt sich aus dem insoweit eindeutigen Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 i.V.m. Art. 70 i.V.m. Anhang X VO 883/2004, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 VO 883/2004 auch im Bereich der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II Anwendung findet (so auch noch das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. Februar 2012, Az: L 20 AS 2347/11 B ER). Die in der vorstehend genannten Entscheidung des Landessozialgerichts angeführten Widersprüchlichkeiten zu Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie erlauben eine Abweichung vom eindeutigen Wortlaut der VO 883/2004 nach Auffassung der Kammer nicht. Dabei ist zunächst zu beachten, dass der Wortlaut grundsätzlich die Grenze der Auslegungsmöglichkeiten darstellt. Darüber hinaus sind gemäß § 288 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) Verordnungen in vollem Umfang verbindlich und gelten in jedem Mitgliedsstaat unmittelbar. Eine Richtlinie ist jedoch gemäß Artikel 288 AEUV zunächst nur für die Mitgliedsstaaten, an die sie sich richtet, und nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Bei Art. 24 Abs. 2 der Unionsbürgerrichtlinie handelt es sich nicht um ein solches verbindliches Ziel, sondern lediglich um die Option für die Mitgliedsstaaten – abweichend von dem in Art. 24 Abs. 1 formulierten Ziel der Gleichbehandlung – im Bereich einzelner Fürsorgeleistungen gewisse zeitliche Einschränkungen vorzunehmen. Insgesamt ist also das für die Mitgliedstaaten verbindliche Ziel der Gleichbehandlung aus Art. 24 der Unionsbürgerrichtlinie etwas weniger weitreichend als die Gleichbehandlung, die Art. 4 VO 883/2004 Art. 3 Abs. 3 i.V.m. Art. 70 i.V.m. Anhang X schon verbindlich und unmittelbar gültig anordnet. Diese Inkongruenz – ein wirklicher Widerspruch besteht wohl auf rein europarechtlicher Ebene noch nicht – kann jedoch nach Auffassung der Kammer zu keiner einschränkenden Auslegung des eindeutigen Wortlautes der VO 883/2004 führen. Ein eindeutiger Widerspruch hingegen besteht tatsächlich zwischen dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II und Art. 4 i.V.m. Art. 3 Abs. 3 i.V.m. Art. 70 i.V.m. Anhang X VO 883/2004. Der Vorrang des Europarechts besagt, dass dieser Widerspruch nicht durch eine einschränkende Auslegung des Europarechts gelöst werden kann, sondern zur Unanwendbarkeit der Vorschrift führt, die im Widerspruch zum unmittelbar anwendbaren Europarecht steht (vgl. EuGH, Urteil vom 15. Juli 1964, Rs 6-64 - "Costa/E.N.E.L.", EuGHE 1964, 1141; BVerfG, Beschluss vom 8. April 1987, Az: 2 BvR 687/85, juris, dort Rz 58). Die Unionsbürgerrichtlinie ist auch nicht als speziellere Rechtsnorm vorrangig gegenüber der VO 883/2004 (a.A. LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 3. April 2012 - L 5 AS 2157/11 B ER - juris Rn. 9). Die Vorabentscheidung des EuGH vom 4. Juni 2009 (C-22/08, C-23/08 [Vatsouras & Koupatantze]) bietet nach Auffassung der Kammer keine Anhaltspunkte für ein derartiges Vorrangverhältnis. Die Vorgängerregelung der VO (EG) 883/2004, die VO (EWG) Nr. 1408/71, war in ihrem Anwendungsbereich im Wesentlichen auf Arbeitnehmer und Selbständige beschränkt. Sie fand – im Gegensatz zur RL 2004/38/EG – keine Anwendung auf die arbeitssuchenden Kläger jener Verfahren. Dementsprechend bestand für den EuGH in den Rechtssachen Vatsouras und Koupatantze kein Anlass, sich zum Verhältnis der VO (EWG) Nr. 1408/71 zur RL 2004/38/EG zu verhalten (vgl. SG Berlin, Beschluss vom 8. Mai 2012, Az: S 91 AS 8804/12 ER, SG Berlin, Beschl. v. 20. Juni 2012, Az: S 189 AS 15170/12 ER). Nach alledem ist der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II wegen eines Anwendungsvorrangs des Art. 4 i.V.m. Art. 3 Abs. 3 i.V.m. Art. 70 i.V.m. Anhang X VO 883/2004 nicht auf die Antragstellerin anwendbar, so dass diese einen Leistungsanspruch nach dem SGB II hat. Die Höhe des Leistungsanspruchs der Antragstellerin errechnet sich wie folgt: Der Antragstellerin steht ein Anspruch auf Regelleistung in Höhe von 374 EUR zu (§ 20 Abs. 2 und 5 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe vom 20. Oktober 2011). Der Antragstellerin steht zudem ein Mehrbedarf in Höhe von 17 Prozent der Regelleistung, also 63,58 EUR zu, da sie schwanger ist und sie die 12. Schwangerschaftswoche bereits überschritten hat (§ 21 Abs. 2 SGB II). Kosten der Unterkunft entstehen der Antragstellerin nach ihren Angaben nicht, so dass ein entsprechender Anspruch nach § 22 Abs. 1 SGB II nicht besteht. Es ergibt sich ein Gesamtanspruch in Höhe von 374 EUR + 63,58 EUR = 437,58 EUR. Der erforderliche Anordnungsgrund, d. h. die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile für die Antragstellerin, ergibt sich vorliegend aus dem existenzsichernden Charakter der Leistungen nach dem SGB II und der Tatsache, dass die Antragstellerin kein Vermögen oder Einkommen hat, aus dem sie ihren Lebensunterhalt auch nur übergangsweise bestreiten könnte. Nach alledem war dem Antrag in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang stattzugeben. Der Antrag war im Übrigen jedoch abzulehnen. Die Leistungen sind vorliegend ohne zeitliche Begrenzung beantragt worden. Der Antragstellerin waren vorliegend entsprechend § 41 Abs. 1 S. 3 SGB II Leistungen jedoch nicht für länger als für einen Zeitraum von sechs Monaten zuzusprechen. Für den nach dem 11. Dezember 2012 liegenden Zeitraum war der Antrag daher abzulehnen. Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG. Die Teilabweisung war vorliegend nicht mit mehr als einem Viertel zu bewerten, da der Streitgegenstand hier vornehmlich die Frage war, ob der Antragstellerin überhaupt Leistungen zu gewähren sind. Der Antragstellerin war Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Aus den oben dargelegten Gründen bot die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg, so dass ein Anspruch auf Gewährung von Prozesskostenhilfe bestand.
Rechtskraft
Aus
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