Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 5 SB 545/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 523/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 28. Dezember 2011 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger macht im Berufungsverfahren noch die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) geltend.
Bei dem am 06.03.1991 geborenen Kläger, der im Besitz einer unbefristeten Niederlassungserlaubnis ist, besteht infolge einer Chromosomenaberration eine Dysmorphie, weswegen er bereits mehrmals operiert worden ist.
Mit Bescheid vom 02.07.2007 stellte der Beklagte beim Kläger einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 fest. Hierbei berücksichtigte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen:
Chromosomale Abberation, Dysmorphie-Syndrom, Kleinwuchs GdB 70 Schielen GdB 30 Funktionsstörung durch beidseitige Fußfehlform, Gebrauchsein- schränkung beider Beine GdB 20 Schwerhörigkeit beidseitig GdB 20.
Einen Änderungsantrag vom 14.09.2007 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 14.09.2007 ab mit der Begründung, der höchstmögliche GdB von 100 sei bereits festgestellt. Ein daraufhin am 25.09.2007 gestellten Antrag auf Feststellung des Nachteilsausgleichs "G" lehnte der Beklagte mit bestandskräftigem Bescheid vom 07.11.2007 ab.
Am 01.07.2010 beantragte der Kläger die Feststellung der Nachteilsausgleiche "G" und "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung). Nach Beiziehung und Auswertung medizinischer Unterlagen lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 30.09.2010 den Antrag ab. Hiergegen erhob der Kläger am 08.10.2010 Widerspruch. Mit Schriftsatz vom 08.11.2010 beschränkte er den Widerspruch auf die Zuerkennung des Merkzeichens "G" und erklärte, bezüglich des Merkzeichens "B" werde der Widerspruch nicht aufrechterhalten. Zur Begründung führte er aus, er leide an einer Nierenfunktionseinschränkung und infolgedessen auch an erhöhtem Blutdruck. Er habe deshalb immer wieder Schwindelanfälle, insbesondere wenn er im Straßenverkehr unterwegs sei und z.B. öffentliche Verkehrsmittel benutze. Der Schwindel gehe erst vorbei, wenn er Flüssigkeit zu sich nehme. Aufgrund der Gesundheitsstörungen an den Beinen und Schmerzen im linken Knie sei er auch nicht in der Lage, längere Wegstrecken zurückzulegen.
In der Versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 16.12.2010 führte Dr. A. aus, über die festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen hinaus bestehe noch ein Bluthochdruck (GdB 10) und eine Nierenfunktionseinschränkung (GdB 30). Gleichwohl lägen die Voraussetzungen für das beantragte Merkzeichen "G" nicht vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 01.02.2011, auf den Bezug genommen wird, wies der Beklagte den Widerspruch zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 15.02.2011 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben. Das SG hat die behandelnden Ärzte des Klägers als sachverständige Zeugen gehört. Auf die schriftlichen Auskünfte des Orthopäden Dr. B. vom 10.06.2011 und des Internisten Dr. C. vom 20.06.2011 wird Bezug genommen. Das SG hat weiter ein orthopädisches Sachverständigengutachten bei Dr. D. eingeholt. Auf das Gutachten vom 14.11.2011 wird Bezug genommen.
Mit Gerichtsbescheid vom 28.12.2011 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "G". Sein Gehvermögen sei nur leicht beeinträchtigt. Weder die Schielfehlstellung der Augen noch die Schwindelbeschwerden führten zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Orientierungsfähigkeit im Straßenverkehr. Sofern der Kläger mit Schriftsatz vom 05.05.2011 auch die Verurteilung des Beklagten zur Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "B" beantragt habe, sei die Klage unzulässig, weil das gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erforderliche Widerspruchsverfahren nicht durchgeführt worden sei. Nachdem der Widerspruch lediglich auf die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "G" beschränkt worden sei, sei der Bescheid vom 30.09.2011 hinsichtlich der Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "B" bestandskräftig geworden und der Beklagte habe im Widerspruchsbescheid vom 01.02.2011 nicht hierüber entschieden.
Gegen den am 02.01.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 02.02.2012 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Er trägt vor, unberücksichtigt geblieben seien die Schwindelanfälle, die er zwei- bis dreimal im Monat wegen des erhöhten Blutdruckes erleide und bei denen er sich nicht auf den Beinen halten könne. Er könne auch lediglich eine Wegstrecke von 500 Metern zurücklegen. Dann habe er erhöhte Knieschmerzen, sodass ihm eine weitere Fortbewegung schwerfalle. Unberücksichtigt geblieben sei auch der Kleinwuchs, die Funktionsbeeinträchtigung durch das Schielen, eine beidseitige Fußfehlform und die Gebrauchseinschränkung beider Beine. Überdies leide er an einer Schwerhörigkeit. Im Zusammenspiel all dieser Funktionsbeeinträchtigungen sei es ihm nicht möglich, mehr als einen Kilometer zu gehen oder sich ungehindert im öffentlichen Verkehr zu bewegen. Bei seinen Angaben gegenüber dem Sachverständigen Dr. D. zu den von ihm zurückgelegten Wegstrecken sei zu berücksichtigen, dass es sich um Wege zu seiner Schule handle, die er bereits kenne, da er sie regelmäßig zurücklege, und die ihm aufgrund der Übung leicht fielen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 28. Dezember 2011 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 30. September 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01. Februar 2011 zu verurteilen, bei ihm das Vorliegen einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichen "G") festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und trägt vor, auf die vorgetragenen Gesichtspunkte sei bereits im orthopädischen Gutachten des Dr. D. vom 14.11.2011 ausreichend eingegangen worden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündlichen Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG durch den Berichterstatter allein einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht entscheidet im erklärten Einverständnis der Beteiligten sowie in Anwendung des ihm danach gesetzlich eingeräumten Ermessens ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) durch den Berichterstatter allein. Gemäß § 155 Abs. 3 SGG kann der Vorsitzende im Einverständnis der Beteiligten auch sonst anstelle des Senats entscheiden. Ist - wie vorliegend - ein Berichterstatter bestellt, so entscheidet gemäß § 155 Abs. 4 SGG dieser anstelle des Vorsitzenden.
Die Berufung des Klägers ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor.
Die Berufung ist jedoch nicht begründet.
Das SG hat die Berufung zurecht insoweit als unzulässig abgewiesen, als die Zuerkennung des Merkzeichens "B" geltend gemacht worden ist, da der Kläger insoweit den Widerspruch zurückgenommen hat und Gegenstand Widerspruchsverfahrens deshalb allein die Entscheidung über das Merkzeichen "G" war. Dementsprechend hat der Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens "B" im Berufungsverfahren auch nicht mehr geltend gemacht.
Die Berufung ist auch nicht begründet, soweit der Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens "G" anstrebt.
Nach § 69 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) sind neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale festzustellen, welche Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr im Sinne des Merkzeichens "G" gemäß § 146 SGB IX.
Nach § 145 Abs. 1 SGB IX werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 SGB IX unentgeltlich befördert.
Die erhebliche Beeinträchtigung im Straßenverkehr im Sinne von § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in § 146 Abs. 1 SGB IX definiert. Danach ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG(Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 17 BVG zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB. Ob die Regelungen der VG zum Merkzeichen G mangels ausreichender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig sind, weil die Verordnungsermächtigung in § 30 Abs. 17 BVG nicht auf die im Schwerbehindertenrecht in SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche verweist (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009), lässt der Senat dahinstehen. Eine inhaltliche Änderung der bisher angewandten Grundsätze und Kriterien erfolgte hierdurch nicht. Die VG haben die Grundsätze zum Merkzeichen G aus den AHP übernommen (vgl. Teil D Nr. 1 S. 114f) und damit gewährleistet, dass gegenüber dem bisherigen Feststellungsverfahren keine Schlechterstellung möglich ist. In den VG ist ebenso wie in den AHP (BSG, Urteil vom 01.09.1999 - B 9 V 25/98 R - SozR 3-3100 § 30 Nr. 22) der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben. Dadurch wird eine für den behinderten Menschen nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnistand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht. Nach der Rechtsprechung des Senats besteht kein Anlass, von diesen in ständiger Übung angewandten Bewertungsgrundsätzen abzuweichen, die im maßgebenden Verkehrskreis nach allgemeiner, von ständiger Rechtsprechung geprägten Überzeugung als rechtsverbindlich im oben dargelegten Sinne beurteilt wurden und damit einer gewohnheitsrechtlichen Übung entsprachen.
Hierzu bestimmen die VG, dass bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen vorliegen, es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles ankommt, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nicht behinderten Menschen noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Teil D 1 b) VG).
Diese Voraussetzungen sind beim Kläger nicht erfüllt. Die Funktionsbeeinträchtigungen an den unteren Gliedmaßen, nämlich eine Funktionsstörung durch beidseitige Fußfehlform und eine Gebrauchseinschränkung beider Beine, bedingen lediglich einen GdB von 20 und nicht von 50, wie sie Teil D 1 d) VG voraussetzt. Auch durch seinen Kleinwuchs ist der Kläger nicht daran gehindert, entsprechende Strecken zu Fuß zurückzulegen. Bei der gutachterlichen Untersuchung durch Dr. D. konnte der Kläger die erschwerten Gangprüfungen mit Ausnahme des einbeinigen Hüpfens links sicher demonstrieren. Trotz eines leichten Watschelgangs, hervorgerufen durch eine vermehrte Außendrehstellung beider Füße, kann er noch sehr zügig und sicher z.B. auf dem Gehweg gehen. Es bestehen keine höhergradigen Arthrosen an den unteren Extremitätengelenken, die Kniebeweglichkeit ist beidseits nur geringfügig beeinträchtigt mit 125 Grad rechts und 120 Grad links bei erhaltener Streckfähigkeit. Auch die Hüftbeweglichkeit ist insgesamt gut. Auch von Seiten des Wirbelsäulenachsenorgans ergeben sich keine Hinweise für eine höhergradige Beeinträchtigung des Gehvermögens, auch Nervenschäden liegen nicht vor.
Gegen eine höhergradige Einschränkung des Gehvermögens entspricht auch, das der Kläger ausweislich seiner Angaben gegenüber dem Sachverständigen Dr. D. noch gelegentlich Fußball spielt und zweimal in der Woche einen Dauerlauf von 10 Minuten absolviert.
Das eigenständige Gehen wird auch nicht durch das Schielen beeinträchtigt. So kann der Kläger den Weg zu seiner Arbeitsstelle alleine zurücklegen. Hierbei hat er eine Wegstrecke von 500 Meter zu Fuß zurückzulegen und benutzt selbständig Bus und S-Bahn. Auch die vom Kläger angegebenen zwei- bis dreimaligen Schwindelanfälle pro Monat vermögen die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht zu begründen. Denn zum einen ist der Kläger dadurch nicht daran gehindert, regelmäßig Wege, wie z.B. zur und von der Arbeit, zurückzulegen, Fahrrad zu fahren oder Fußball zu spielen. Zum anderen führen die Schwindelanfälle nur zu einer kurzen Unterbrechung des Weges. Ausweislich seines Vortrags in der Berufungsbegründung geht der Schwindel nämlich vorbei, sobald der Kläger Flüssigkeit zu sich nimmt.
Soweit die Klägervertreterin im Erörterungstermin am 13.06.2012 angeregt hat, ein weiteres Gutachten zur Beurteilung der Gehfähigkeit des Klägers einzuholen, bestand hierfür keine Veranlassung. Der Sachverhalt ist aufgeklärt, zumal auch der behandelnde Orthopäde Dr. B. in der sachverständigen Zeugenaussage vom 10.06.2011 noch eine ausreichende Gehfähigkeit des Klägers mitgeteilt hat. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der sachverständigen Zeugenaussage des Internisten Dr. C. vom 20.06.2011. Darin hat dieser lediglich die anamnestischen Angaben des Klägers wiedergegeben, jedoch gleichzeitig ausgeführt, eine Begleitung des Klägers über einen längeren Zeitraum habe nicht stattgefunden. Auch die von ihm angegebenen Orientierungsstörungen aufgrund von Elektrolytentgleisungen können, wie auch vom Kläger angegeben, durch Trinken jeweils alsbald behoben werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger macht im Berufungsverfahren noch die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) geltend.
Bei dem am 06.03.1991 geborenen Kläger, der im Besitz einer unbefristeten Niederlassungserlaubnis ist, besteht infolge einer Chromosomenaberration eine Dysmorphie, weswegen er bereits mehrmals operiert worden ist.
Mit Bescheid vom 02.07.2007 stellte der Beklagte beim Kläger einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 fest. Hierbei berücksichtigte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen:
Chromosomale Abberation, Dysmorphie-Syndrom, Kleinwuchs GdB 70 Schielen GdB 30 Funktionsstörung durch beidseitige Fußfehlform, Gebrauchsein- schränkung beider Beine GdB 20 Schwerhörigkeit beidseitig GdB 20.
Einen Änderungsantrag vom 14.09.2007 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 14.09.2007 ab mit der Begründung, der höchstmögliche GdB von 100 sei bereits festgestellt. Ein daraufhin am 25.09.2007 gestellten Antrag auf Feststellung des Nachteilsausgleichs "G" lehnte der Beklagte mit bestandskräftigem Bescheid vom 07.11.2007 ab.
Am 01.07.2010 beantragte der Kläger die Feststellung der Nachteilsausgleiche "G" und "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung). Nach Beiziehung und Auswertung medizinischer Unterlagen lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 30.09.2010 den Antrag ab. Hiergegen erhob der Kläger am 08.10.2010 Widerspruch. Mit Schriftsatz vom 08.11.2010 beschränkte er den Widerspruch auf die Zuerkennung des Merkzeichens "G" und erklärte, bezüglich des Merkzeichens "B" werde der Widerspruch nicht aufrechterhalten. Zur Begründung führte er aus, er leide an einer Nierenfunktionseinschränkung und infolgedessen auch an erhöhtem Blutdruck. Er habe deshalb immer wieder Schwindelanfälle, insbesondere wenn er im Straßenverkehr unterwegs sei und z.B. öffentliche Verkehrsmittel benutze. Der Schwindel gehe erst vorbei, wenn er Flüssigkeit zu sich nehme. Aufgrund der Gesundheitsstörungen an den Beinen und Schmerzen im linken Knie sei er auch nicht in der Lage, längere Wegstrecken zurückzulegen.
In der Versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 16.12.2010 führte Dr. A. aus, über die festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen hinaus bestehe noch ein Bluthochdruck (GdB 10) und eine Nierenfunktionseinschränkung (GdB 30). Gleichwohl lägen die Voraussetzungen für das beantragte Merkzeichen "G" nicht vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 01.02.2011, auf den Bezug genommen wird, wies der Beklagte den Widerspruch zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 15.02.2011 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben. Das SG hat die behandelnden Ärzte des Klägers als sachverständige Zeugen gehört. Auf die schriftlichen Auskünfte des Orthopäden Dr. B. vom 10.06.2011 und des Internisten Dr. C. vom 20.06.2011 wird Bezug genommen. Das SG hat weiter ein orthopädisches Sachverständigengutachten bei Dr. D. eingeholt. Auf das Gutachten vom 14.11.2011 wird Bezug genommen.
Mit Gerichtsbescheid vom 28.12.2011 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "G". Sein Gehvermögen sei nur leicht beeinträchtigt. Weder die Schielfehlstellung der Augen noch die Schwindelbeschwerden führten zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Orientierungsfähigkeit im Straßenverkehr. Sofern der Kläger mit Schriftsatz vom 05.05.2011 auch die Verurteilung des Beklagten zur Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "B" beantragt habe, sei die Klage unzulässig, weil das gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erforderliche Widerspruchsverfahren nicht durchgeführt worden sei. Nachdem der Widerspruch lediglich auf die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "G" beschränkt worden sei, sei der Bescheid vom 30.09.2011 hinsichtlich der Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "B" bestandskräftig geworden und der Beklagte habe im Widerspruchsbescheid vom 01.02.2011 nicht hierüber entschieden.
Gegen den am 02.01.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 02.02.2012 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Er trägt vor, unberücksichtigt geblieben seien die Schwindelanfälle, die er zwei- bis dreimal im Monat wegen des erhöhten Blutdruckes erleide und bei denen er sich nicht auf den Beinen halten könne. Er könne auch lediglich eine Wegstrecke von 500 Metern zurücklegen. Dann habe er erhöhte Knieschmerzen, sodass ihm eine weitere Fortbewegung schwerfalle. Unberücksichtigt geblieben sei auch der Kleinwuchs, die Funktionsbeeinträchtigung durch das Schielen, eine beidseitige Fußfehlform und die Gebrauchseinschränkung beider Beine. Überdies leide er an einer Schwerhörigkeit. Im Zusammenspiel all dieser Funktionsbeeinträchtigungen sei es ihm nicht möglich, mehr als einen Kilometer zu gehen oder sich ungehindert im öffentlichen Verkehr zu bewegen. Bei seinen Angaben gegenüber dem Sachverständigen Dr. D. zu den von ihm zurückgelegten Wegstrecken sei zu berücksichtigen, dass es sich um Wege zu seiner Schule handle, die er bereits kenne, da er sie regelmäßig zurücklege, und die ihm aufgrund der Übung leicht fielen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 28. Dezember 2011 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 30. September 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01. Februar 2011 zu verurteilen, bei ihm das Vorliegen einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichen "G") festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und trägt vor, auf die vorgetragenen Gesichtspunkte sei bereits im orthopädischen Gutachten des Dr. D. vom 14.11.2011 ausreichend eingegangen worden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündlichen Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG durch den Berichterstatter allein einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht entscheidet im erklärten Einverständnis der Beteiligten sowie in Anwendung des ihm danach gesetzlich eingeräumten Ermessens ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) durch den Berichterstatter allein. Gemäß § 155 Abs. 3 SGG kann der Vorsitzende im Einverständnis der Beteiligten auch sonst anstelle des Senats entscheiden. Ist - wie vorliegend - ein Berichterstatter bestellt, so entscheidet gemäß § 155 Abs. 4 SGG dieser anstelle des Vorsitzenden.
Die Berufung des Klägers ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor.
Die Berufung ist jedoch nicht begründet.
Das SG hat die Berufung zurecht insoweit als unzulässig abgewiesen, als die Zuerkennung des Merkzeichens "B" geltend gemacht worden ist, da der Kläger insoweit den Widerspruch zurückgenommen hat und Gegenstand Widerspruchsverfahrens deshalb allein die Entscheidung über das Merkzeichen "G" war. Dementsprechend hat der Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens "B" im Berufungsverfahren auch nicht mehr geltend gemacht.
Die Berufung ist auch nicht begründet, soweit der Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens "G" anstrebt.
Nach § 69 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) sind neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale festzustellen, welche Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr im Sinne des Merkzeichens "G" gemäß § 146 SGB IX.
Nach § 145 Abs. 1 SGB IX werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 SGB IX unentgeltlich befördert.
Die erhebliche Beeinträchtigung im Straßenverkehr im Sinne von § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in § 146 Abs. 1 SGB IX definiert. Danach ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG(Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 17 BVG zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB. Ob die Regelungen der VG zum Merkzeichen G mangels ausreichender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig sind, weil die Verordnungsermächtigung in § 30 Abs. 17 BVG nicht auf die im Schwerbehindertenrecht in SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche verweist (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009), lässt der Senat dahinstehen. Eine inhaltliche Änderung der bisher angewandten Grundsätze und Kriterien erfolgte hierdurch nicht. Die VG haben die Grundsätze zum Merkzeichen G aus den AHP übernommen (vgl. Teil D Nr. 1 S. 114f) und damit gewährleistet, dass gegenüber dem bisherigen Feststellungsverfahren keine Schlechterstellung möglich ist. In den VG ist ebenso wie in den AHP (BSG, Urteil vom 01.09.1999 - B 9 V 25/98 R - SozR 3-3100 § 30 Nr. 22) der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben. Dadurch wird eine für den behinderten Menschen nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnistand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht. Nach der Rechtsprechung des Senats besteht kein Anlass, von diesen in ständiger Übung angewandten Bewertungsgrundsätzen abzuweichen, die im maßgebenden Verkehrskreis nach allgemeiner, von ständiger Rechtsprechung geprägten Überzeugung als rechtsverbindlich im oben dargelegten Sinne beurteilt wurden und damit einer gewohnheitsrechtlichen Übung entsprachen.
Hierzu bestimmen die VG, dass bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen vorliegen, es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles ankommt, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nicht behinderten Menschen noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Teil D 1 b) VG).
Diese Voraussetzungen sind beim Kläger nicht erfüllt. Die Funktionsbeeinträchtigungen an den unteren Gliedmaßen, nämlich eine Funktionsstörung durch beidseitige Fußfehlform und eine Gebrauchseinschränkung beider Beine, bedingen lediglich einen GdB von 20 und nicht von 50, wie sie Teil D 1 d) VG voraussetzt. Auch durch seinen Kleinwuchs ist der Kläger nicht daran gehindert, entsprechende Strecken zu Fuß zurückzulegen. Bei der gutachterlichen Untersuchung durch Dr. D. konnte der Kläger die erschwerten Gangprüfungen mit Ausnahme des einbeinigen Hüpfens links sicher demonstrieren. Trotz eines leichten Watschelgangs, hervorgerufen durch eine vermehrte Außendrehstellung beider Füße, kann er noch sehr zügig und sicher z.B. auf dem Gehweg gehen. Es bestehen keine höhergradigen Arthrosen an den unteren Extremitätengelenken, die Kniebeweglichkeit ist beidseits nur geringfügig beeinträchtigt mit 125 Grad rechts und 120 Grad links bei erhaltener Streckfähigkeit. Auch die Hüftbeweglichkeit ist insgesamt gut. Auch von Seiten des Wirbelsäulenachsenorgans ergeben sich keine Hinweise für eine höhergradige Beeinträchtigung des Gehvermögens, auch Nervenschäden liegen nicht vor.
Gegen eine höhergradige Einschränkung des Gehvermögens entspricht auch, das der Kläger ausweislich seiner Angaben gegenüber dem Sachverständigen Dr. D. noch gelegentlich Fußball spielt und zweimal in der Woche einen Dauerlauf von 10 Minuten absolviert.
Das eigenständige Gehen wird auch nicht durch das Schielen beeinträchtigt. So kann der Kläger den Weg zu seiner Arbeitsstelle alleine zurücklegen. Hierbei hat er eine Wegstrecke von 500 Meter zu Fuß zurückzulegen und benutzt selbständig Bus und S-Bahn. Auch die vom Kläger angegebenen zwei- bis dreimaligen Schwindelanfälle pro Monat vermögen die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht zu begründen. Denn zum einen ist der Kläger dadurch nicht daran gehindert, regelmäßig Wege, wie z.B. zur und von der Arbeit, zurückzulegen, Fahrrad zu fahren oder Fußball zu spielen. Zum anderen führen die Schwindelanfälle nur zu einer kurzen Unterbrechung des Weges. Ausweislich seines Vortrags in der Berufungsbegründung geht der Schwindel nämlich vorbei, sobald der Kläger Flüssigkeit zu sich nimmt.
Soweit die Klägervertreterin im Erörterungstermin am 13.06.2012 angeregt hat, ein weiteres Gutachten zur Beurteilung der Gehfähigkeit des Klägers einzuholen, bestand hierfür keine Veranlassung. Der Sachverhalt ist aufgeklärt, zumal auch der behandelnde Orthopäde Dr. B. in der sachverständigen Zeugenaussage vom 10.06.2011 noch eine ausreichende Gehfähigkeit des Klägers mitgeteilt hat. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der sachverständigen Zeugenaussage des Internisten Dr. C. vom 20.06.2011. Darin hat dieser lediglich die anamnestischen Angaben des Klägers wiedergegeben, jedoch gleichzeitig ausgeführt, eine Begleitung des Klägers über einen längeren Zeitraum habe nicht stattgefunden. Auch die von ihm angegebenen Orientierungsstörungen aufgrund von Elektrolytentgleisungen können, wie auch vom Kläger angegeben, durch Trinken jeweils alsbald behoben werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
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