L 1 AS 2751/12 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
1
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 19 AS 2946/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 AS 2751/12 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Freiburg vom 25.06.2012 wird zurückgewiesen.

2. Der Beschwerdeführer trägt die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdegegners im Beschwerdeverfahren.

Gründe:

I.

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und hierbei insbesondere der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ("Ausgenommen sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt") im Streit.

Der 1959 geborene Beschwerdegegner (Bg.) ist bulgarischer Staatsbürger und hat sich nach seiner Einreise nach Deutschland am 05.10.2010 bei der Stadt F. gemeldet. Hierbei gab er an, dass er zum Zweck der Arbeitsuche eingereist sei. Der Bg. ist erwerbsfähig und ohne Einkommen oder Vermögen. Bis zum 30.04.2012 erhielt der Bg. von dem Beschwerdeführer (Bf.) Leistungen nach dem SGB II in Höhe von monatlich 595,73 EUR. Der Weitergewährungsantrag für die Zeit ab dem 01.05.2012 wurde mit Bescheid vom 26.04.2012, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 29.05.2012, abgelehnt, weil der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II einschlägig sei.

Das Sozialgericht Freiburg (SG) hat den Bf. auf Antrag des Bg. vom 14.06.2012 mit Beschluss vom 25.06.2012 im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verpflichtet, dem Bg. vorläufig ab dem 14.06.2012 bis längstens zum 31.10.2012 Leistungen nach dem SGB II dem Grunde nach als Darlehen zu gewähren. Das SG hat seine Entscheidung damit begründet, dass der Bg. die Voraussetzungen für einen Bezug von existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II grundsätzlich erfülle, und alleine der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im Streit sei. Es sei indes zweifelhaft, ob diese Ausschlussregelung mit höherrangigem Recht vereinbar sei, wozu das SG auf Art. 4 der Verordnung (EG) 883/2004 verwies, welche Personen eines Mitgliedsstaates grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten einräume wie den Staatsangehörigen eines Staates. Diese Regelung gelte nach Art. 3 Abs. 3 auch für beitragsunabhängige Geldleistungen nach Art. 70, wozu nach Anhang X (der VO [EG] 988/2009) in Deutschland auch die Leistungen nach dem SGB II gehörten. Da der Bg. aus Bulgarien und damit einem Mitgliedstaat stamme, begründe die VO (EG) 883/2004 einen nach Art. 91 unmittelbar geltenden Gleichbehandlungsanspruch des Bg., von welchem § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II eine Ausnahme anordne. Die insoweit aufgeworfene Rechtsfrage der Europarechtskonformität der von dem Bf. angewandten Ausschlussregelung sei überaus komplex und könne im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht abschließend geklärt werden (mit Hinweis auf u.a. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.08.2012 - L 7 AS 3769/10 ER-B -und LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.04.2012 - L 14 AS 763/12 ER-B -). Bei dem danach als offen zu bezeichnenden Ausgang des Hauptsacheverfahrens falle die im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vorzunehmende Folgenabwägung zugunsten des Bg. aus, der nachweislich über keine ausreichenden Mittel zur Bestreitung seines sozio-kulturellen Existenzminimums verfüge. Das Hauptsacheverfahren ist noch anhängig (S 19 AS 2947/12).

Am 28.06.2012 hat der Bf. deswegen beim Landessozialgericht Baden-Württemberg Beschwerde eingelegt und gleichzeitig die Aussetzung der Vollstreckung aus dem Beschluss beantragt. Die angeführten Zweifel an der Europarechtskonformität des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II seien nicht berechtigt (mit Hinweis auf SG Freiburg, Beschluss vom 01.06.2012 - S 17 AS 2307/12 ER - und auf LSG Berlin Brandenburg, Beschluss vom 29.02.2012 - L 20 AS 2347/11 B).

Der Bevollmächtigte des Bg. beantragt die Zurückweisung der Beschwerde. Aller Voraussicht nach sei § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II aus den vom SG genannten Gründen europarechtswidrig.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungs- und Gerichtsakten Bezug genommen.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Ag. ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung - ZPO -). Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben sich aus Artikel 19 Abs. 4 GG, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Eine solche Fallgestaltung ist anzunehmen, wenn es - wie hier - im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums während eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens geht. Ist während des Hauptsacheverfahrens das Existenzminimum nicht gedeckt, kann diese Beeinträchtigung nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden, selbst wenn die im Rechtsbehelfsverfahren erstrittenen Leistungen rückwirkend gewährt werden (BVerfG, Beschluss v. 12.05.2005- 1 BvR 569/05, NVwZ 2005, 927, 928 - juris). Die Gerichte müssen in solchen Fällen, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss v. 29.07.2003 - 2 BvR 311/03 - NVwZ 2004, 95, 96 - juris). Dies gilt insbesondere, wenn das einstweilige Rechtsschutzverfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller eines Eilverfahrens nicht überspannen. Die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel zu orientieren, das die Antragsteller mit ihrem Begehren verfolgen (BVerfG, Beschluss v. 12.05.2005, a.a.O.). Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange der Antragsteller umfassend in die Abwägung einzubeziehen.

Zutreffend hat das SG festgestellt, dass der Bg. die in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 SGB II genannten Voraussetzungen für die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II erfüllt und alleine der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und seine Europarechtskonformität fraglich sind. Der Senat lässt offen, ob beim Bg. davon ausgegangen werden muss, dass dieser sich alleine zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland aufhält. Indes ist offen und höchstrichterlich ungeklärt, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit höherrangigem Europarecht vereinbar ist (LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 25.08.2010 - L 7 AS 3769/10; Hessisches LSG, Beschluss vom 14.07.2011 - L 7 AS 107/11 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11.08.2011 - L 15 AS 188/11 B ER; juris). Insoweit kann der Bg. sich als Bulgare zwar nicht auf Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA; hierzu LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 03.07.2012 - L 3 AS 2541/12 ER-B) stützen, weil Bulgarien nicht zu den Unterzeichnern dieses Abkommens gehört (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 24.10.2011 - L 12 AS 3938/12 ER-B). Alleine aufgrund der vom SG zutreffend aufgeworfenen ungeklärten europarechtlichen Fragestellung sind in der obergerichtlichen Rechtsprechung zuletzt in vergleichbaren Fällen in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes überwiegend Leistungen im Rahmen einer Folgenabwägung zugesprochen worden (vgl. LSG Baden-Württemberg a.a.O.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10.05.2010 - L 7 AS 134/10 B ER -; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.08.2010 - L 7 AS 3769/10 ER-B -; Bayer. LSG, Beschluss vom 22.12.2010 - L 16 AS 767/10 B-ER -; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschlüsse vom 11.03.2011 - L 13 AS 51/11 B ER und vom 11.08.2011 - L 15 AS 188/11 B ER -; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30.06.2011 - L 25 AS 535/11 B ER -; Hess. LSG, Beschluss vom 14.07.2011 - L 7 AS 107/11 B ER; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 14.09.2011 - L 3 AS 155/11 B ER - (alle juris)). Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an, da die Folgenabwägung bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens zugunsten der Gewährung der existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II ausfällt.

Der weitere Antrag des Bf. gem. § 199 Abs. 2 S. 1 SGG auf Aussetzung der Vollstreckung aus dem Beschluss des SG hat sich erledigt, nachdem der Senat über seine Beschwerde in der Sache entschieden hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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