L 12/13 RA 1554/00

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 9 RA 24/99
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 12/13 RA 1554/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Erstattet ein Neurologe, der auch zur psychotherapeutischen Behandlung zugelassen ist, ein nervenfachärztliches Gutachten, so bedarf es keiner weiteren Zusatzbegutachtung auf psychosomatischem Fachgebiet. Dies gilt vor allem dann, wenn das Gutachten eine breite psychosomatische Befunderhebung und -beurteilung enthält.
2. Der Psychotherapeut versteht es auf Grund seiner Ausbildung in aller Regel, auch psychosomatisch zu untersuchen und nach den Erkenntnissen eines Psychosomatikers Gutachten zu erstatten.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 27. November 2000 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben sich auch in dem Berufungsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach dem 6. Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VI).

Die 1942 geborene Klägerin hat sich von April 1957 bis Oktober 1958 zur Damenmantelnäherin mit Prüfung ausbilden lassen. Als Näherin war sie anschließend bis 1960 tätig. Sie arbeitete sodann von 1961 bis 1965 als Montagehelferin, von 1971 bis 1975 als Köchin in einem Kindergarten und ab Mai 1977 bei der Firma XY. Co. GmbH in X-Stadt als Verkäuferin. Sie war bei einer wöchentlichen Arbeitsleistung von 26,25 Stunden neben dem Verkauf auch mit dem Auffüllen der Waren, dem Aufräumen des Lagers und der Sortimentspflege in Tagesschicht befaßt. Entlohnt war sie zuletzt worden nach der Gehaltsgruppe G 1 AB, in die sie im Wege des Bewährungsaufstieges zu Beginn des 4. Tätigkeitsjahres gelangt war. Seit November 1997 ist sie nicht mehr berufstätig. Sie bezog seitdem Lohnfortzahlung, Kranken- und Arbeitslosengeld.

Am 28. November 1997 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung der Rente wegen Erwerbsminderung. Diese holte nach der Vorlage der Befundberichte des Internisten und Rheumatologen Dr. QQ. (Q-Stadt) und des Orthopäden Dr. WW. (X-Stadt) vom 20. März 1995 und 25. November 1997 das Gutachten des Rheumatologen Dr. EE. (Q-Stadt) vom 21. Januar 1998 ein. Darin wird die Klägerin noch für in der Lage gehalten, vollschichtig leichte Frauenarbeiten mit gewissen Einschränkungen verrichten zu können. Darauf gestützt, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 18. Februar 1998 die Gewährung der Rente ab. Im Widerspruchsverfahren gelangten die Befundberichte des Orthopäden Dr. WW. vom 24. März und 17. August 1998 zur Akte. Die Beklagte holte das orthopädische Gutachten des Dr. RR. (R-Stadt) vom 2. Oktober 1998 ein. Dieser führte aus, daß die Klägerin nicht mehr als Verkäuferin tätig sein könne; es seien jedoch vollschichtig aufsichtführende Tätigkeiten mit betriebsüblichen Pausen zumutbar. Hierauf wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10. Dezember 1998 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin bei dem Sozialgericht Darmstadt (SG) am 6. Januar 1999 Klage erhoben. Das SG hat Befundberichte der Dres. WW., TT., ZZ. und des Neurologen UU. (sämtliche X-Stadt) von Juli, 21. September und 14. Oktober 1999 beigezogen und von dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie - Psychotherapie, und analytische und tiefenpsychologische Verfahren - Dr. med. OO. (O-Stadt) ein Gutachten vom 8. April 2000 eingeholt. Darin beurteilt der Sachverständige das Leistungsvermögen der Klägerin dahin, daß diese in der Lage sei, ganztags (8 Stunden täglich) leichte körperliche Arbeiten mit Heben und Tragen von Lasten bis zu 8 kg verrichten zu können. Als Einschränkungen bezeichnete er: Es sollten Arbeiten in stetem Wechsel zwischen Sitzen, Gehen und Stehen verrichtet werden. Zu vermeiden seien körperliche Zwangshaltungen, Über-Kopf-Arbeiten und überwiegende Hebe- und Bückarbeiten. Akkord-, Nacht- oder Schichtarbeit und Wechselschichtarbeiten sowie Arbeiten, die ein ungestörtes Hörvermögen voraussetzten, kämen ebenso nicht in Betracht wie ein besonders intensiver Publikumsverkehr (nicht mehr als 4 Personen Kontakte pro Stunde). Die Klägerin sei innerhalb von drei Monaten für ihre angemessenen Tätigkeiten umstellungs- und anpassungsfähig. Nach der Einholung von Auskünften des letzten Arbeitgebers der Klägerin, der Firma XY. Co. GmbH, vom 8. Juni und 14. August 2000, und nach Eingang des ärztlichen Attestes des Neurologen UU. vom 29. Juni 2000 hat das SG die Klage durch Urteil vom 27. November 2000 abgewiesen. Zur Begründung hat es hauptsächlich ausgeführt: Die Klägerin sei weder erwerbs- noch berufsunfähig, wie sich aus den eingeholten Gutachten, insbesondere aus dem des Sachverständigen Dr. OO. ergäbe. Sie könne, auch mit Einschränkungen, vollschichtig tätig sein. Als Verkäuferin sei sie nach dem vom Bundessozialgericht (BSG) entwickelten Mehrstufenschema der 3. Gruppe zuzuordnen. Sie müsse den Abstieg in die nächst niedrigere Gruppe hinnehmen, soweit diese Tätigkeiten nicht nur ganz geringen qualitativen Wert auswiesen. Ohne die Benennung von Verweisungstätigkeiten sei dies hier für die Klägerin sozial zumutbar, selbst dann, wenn sie als Verkäuferin nicht mehr tätig sein könne. Bei gegebener Zustellungs- und Anpassungsfähigkeit läge auch nicht eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor. Die Klägerin sei damit auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar, weswegen auch keine Berufsunfähigkeit vorliege.

Gegen das ihr am 8. Dezember 2000 zugestellte Urteil hat die Klägerin bei dem Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt am 15. Dezember 2000 Berufung eingelegt.

Die Klägerin hält sich nach wie vor für erwerbsunfähig und bringt unter Bezugnahme auf ihren bisherigen Vortrag ergänzend vor: Ihr Restleistungsvermögen sei bisher noch nicht ausreichend abgeklärt. Nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. OO. bestünden psychosomatische Erkrankungen. Der Sachverständige sei Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, aber kein Psychosomatiker. Sie rege deshalb an, ein Gutachten eines Facharztes für Psychosomatik einzuholen.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 27. November 2000 sowie den Bescheid der Beklagten vom 18. Februar 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Dezember 1998 aufzuheben und diese zu verurteilen, ihr ab dem 1. November 1997 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit,
hilfsweise,
wegen Berufsunfähigkeit in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Im übrigen meint sie: Die Einholung von psychosomatischen Gutachten seien in der Rentenbegutachtung nicht hilfreich. Sie würden überwiegend nur zu den subjektiv vorgetragenen Beschwerden Stellung nehmen, und nicht, wie rentenrechtlich gefordert, zu objektiven Befunden. Das psychiatrische Gutachten des Dr. OO. sei nicht zu beanstanden.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Beklagten- und Gerichtsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Rechtsstreit konnte im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung und durch den Vorsitzenden des Senats als Einzelrichter (§§ 124 Abs. 2, 155 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) mit Urteil entschieden werden. Die Beteiligten haben dem auf die Aufklärungs- und Anhörungsverfügung vom 21. August 2001 zugestimmt.

Die zulässige Berufung (§§ 143 ff, 151 SGG) ist unbegründet. Das SG hat die zulässige Klage (§§ 51, 54 Abs. 1, 57 Abs. 3, 87, 90 SGG) zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht rechtswidrig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Sie ist weder berufs- noch erwerbsunfähig (§§ 43, 44 SGB VI). Dies hat das SG mit zutreffenden Erwägungen verfahrensfehlerfrei, nämlich aus dem Ergebnis des Gesamtverfahrens (§ 128 Abs. 1 SGG) entschieden und dargelegt. Es hat dabei außerdem die herrschende Rechtsprechung des BSG zur zumutbaren Verweisung der Klägerin entsprechend dem Berufsgruppenschema, wie sie auch der Senat ständig anwendet, rechtsfehlerfrei zugrunde gelegt. Um Wiederholungen zu vermeiden, verweist der Senat auf die Entscheidungsgründe des sozialgerichtlichen Urteils, die er sich zu eigen macht. Er weist aus diesen die Berufung als unbegründet zurück (§ 153 Abs. 2 SGG).

Ergänzend bleibt anzumerken: Es kann offenbleiben, ob die etwas vereinfachende Auffassung der Beklagten zutreffend ist, psychosomatische Gutachten seien in der Rentenbegutachtung nicht hilfreich, da sie nur zu den subjektiv vorgetragenen Beschwerden Stellung nähmen und keine objektiven Befunde wiedergäben. Wenn dies in dieser Verallgemeinerung so zutreffend wäre, bedürfte es niemals der Einholung von Sachverständigengutachten auf diesem Sachgebiet. Die Psychosomatik ist kein ausgegrenztes Beweismittel; sie kann für den Erkenntnisgewinn durchaus hilfreich sein. Diese von der Klägerin angeregte Begutachtung war hier dennoch nicht erforderlich. Psychosomatik, Psychotherapie und auch Psychoanalyse sind keine scharf zu trennenden medizinischen Disziplinen; sie überlappen sich vielmehr. Der Psychotherapeut versteht es in aller Regel, auch psychosomatisch zu untersuchen und, darauf eingestellt, nach den Erkenntnismethoden eines Psychosomatikers Gutachten zu erstatten (vgl. Mester und Tölle in Deutsches Ärzteblatt 1978, 2839 ff). Wer berechtigt ist, die Zusatzbezeichnung "Psychotherapie" zu führen, hat nach den Weiterbildungsordnungen der Länder für Ärzte, die sich an der Muster-Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer nach den Beschlüssen des 95. Deutschen Ärztetages 1992 (Nr. 16 und 37) richten, zuvor an Kursen und Seminaren teilzunehmen, die auch den Lehrstoff der Psychosomatik enthalten müssen (vgl. statt vieler: Hessen, Weiterbildungsordnung für Ärztinnen und Ärzte der Landesärztekammer Hessen vom 1. Januar 1995 Nr. 16 und nach dem Stand vom 1. August 1999 Nr. 33). Dies trifft hier erkennbar auch auf den Sachverständigen Dr. OO. zu, der zur Führung der Zusatzbezeichnung Psychotherapie berechtigt ist und dazu auch analytische und tiefenpsychologische Verfahren betreibt. Sein Gutachten weist auch eine breite psychosomatische Befunderhebung und -beurteilung aus. Mit dem SG sieht der Senat aufgrund eigener Überprüfung und Meinungsbildung das von Dr. OO. erstattete Gutachten in sich als schlüssig an. Es bedurfte daher keiner weiteren Begutachtung. Der maßgebliche und entscheidungserhebliche Sachverhalt ist medizinisch vollkommen aufgeklärt. Hieran ändert auch nichts das Attest des Neurologen UU. vom 29. Juni 2000, in dem dieser die Schlußfolgerung des Sachverständigen Dr. OO., die Klägerin könne noch vollschichtig leichte Tätigkeiten ausführen, als nicht nachvollziehbar bezeichnet hat. Der Neurologe UU. hat die Feststellungen der Gesundheitsstörungen der Klägerin durch Dr. OO. als korrekt angesehen, jedoch seine abweichende Leistungsbeurteilung nicht näher begründet. Es ist nicht erkennbar, aus welchen überprüfbaren Gründen er eine andere Leistungsbeurteilung vornimmt. Dies wäre aber Voraussetzung für eine weitere Auseinandersetzung mit dem schlüssigen Gutachten des Sachverständigen Dr. OO ... Hierzu hat außerdem die Klägerin keinen weiteren sachdienlichen Vortrag gehalten, der den Senat hätte veranlassen müssen, eine weitere Sachverhaltsaufklärung zu betreiben. Ein förmlicher Beweisantrag, auch nach § 109 SGG, ist von der Klägerin nicht angebracht worden.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 160 Abs. 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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