L 18 AS 1526/12 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
18
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 107 AS 5367/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 18 AS 1526/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juni 2012 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit ab Zustellung dieses Beschlusses bis zum 30. September 2012, längstens bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von monatlich 225,- EUR zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt ein Drittel der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im gesamten Verfahren. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Bevollmächtigten bewilligt.

Gründe:

Wegen der Dringlichkeit der Sache war in entsprechender Anwendung von § 155 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Vorsitzenden und Berichterstatter zu entscheiden.

Die Beschwerde des Antragstellers ist in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist das Rechtsmittel nicht begründet und war daher zurückzuweisen.

Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bedarf keiner abschließenden Klärung, ob der Antragsgegner örtlich zuständig iSv § 36 Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) ist. Denn der Antragsgegner ist als erstangegangener Träger nach § 43 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) jedenfalls vorläufig leistungspflichtig.

Soweit der Antragsteller mit seinem insoweit nicht näher konkretisierten Antrag auch Leistungen für Unterkunft und Heizung geltend machen sollte, fehlt es bereits an einem Anordnungsgrund. Er lebt nach eigenem Vortrag seit 17. Mai 2012 bei einem Bekannten, so dass eine Wohnungs- oder gar Obdachlosigkeit jedenfalls derzeit nicht zu besorgen ist. An einem unaufschiebbar eiligen Regelungsbedürfnis fehlt es darüber hinaus auch, soweit Leistungen für die Vergangenheit insgesamt in Rede stehen. Denn diesbezüglich kommt eine einstweilige Anordnung regelmäßig nicht in Betracht.

Im Übrigen ist die Beschwerde in dem im Tenor bezeichneten Umfang begründet. Für die Zeit ab Zustellung dieses Beschlusses bis längstens 30. September 2012 war der Antragsgegner gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zu monatlichen Leistungen in Höhe der Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zu verpflichten (vgl. § 3 Abs. 1 Satz 3 Nr 2, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AsylbLG). Der im Wege der einstweiligen Anordnung zu sichernde Anordnungsanspruch ergibt sich aufgrund einer verfassungsrechtlich gebotenen Folgenabwägung (siehe dazu BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – juris) im Hinblick auf die bislang höchstrichterlich nicht geklärte Tragweite des gesetzlichen Leistungsausschlusses in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für nichtdeutsche Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), deren Aufenthaltsrecht – wie bei dem die n Staatsangehörigkeit besitzenden Antragsteller – auf § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU beruht. Wegen der in Art. 39 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) verbürgten Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU stellt sich jedenfalls die Frage, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit Gemeinschaftsrecht in Einklang steht. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – EuGH – (Urteil vom 04. Juni 2009 – C - 22/08 - juris) kann sich nämlich ein Arbeitsuchender, der tatsächliche Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats hergestellt hat, auf Art. 39 Abs. 2 EGV berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll. Die Ausnahmevorschrift in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, die ggfs einem derartigen Leistungsanspruch entgegensteht, betrifft demgegenüber aber nur einen "Anspruch auf Sozialhilfe"; insoweit wird darauf hingewiesen, dass eine Leistungsvoraussetzung wie die der Erwerbsfähigkeit in § 8 SGB II ein Hinweis darauf sein könne, dass Leistungen der Grundsicherung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern sollten (vgl. EuGH aaO). Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 findet dann indes keine Anwendung.

Im Übrigen sind auch die sich aus der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ergebenden rechtlichen Folgen für die hier einschlägige Ausschlussnorm nicht abschließend geklärt, dürften bei summarischer Prüfung aber zumindest nicht ausschließen, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 verstößt. Es bedarf ggfs zudem weiterer Ermittlungen um Hauptsacheverfahren, ob der Antragsteller zwischenzeitlich einer Beschäftigung als Arbeitnehmer nachging bzw noch immer nachgeht und hieraus ggfs Einkommen erzielt. Auch ist bislang nicht geklärt, ob sich auf dem niederländischen Konto noch ein Guthaben befindet.

Angesichts des Existenz sichernden Charakters der beanspruchten Leistungen wiegen die dem Antragsteller drohenden Nachteile bei einer (vollen) Ablehnung des gestellten Rechtsschutzantrages und einem späteren Obsiegen im Hauptsacheverfahren jedenfalls ungleich schwerer als der dem Antragsgegner drohende Nachteil einer ggfs nicht zu realisierenden Rückforderung der zu Unrecht gezahlten Leistungsbeträge. Daher war der Antragsgegner entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Senats zu verpflichten, - nur - das absolute Existenzminimum des Antragstellers zu sichern. Die insoweit entsprechend heranzuziehenden Grundleistungen nach dem AsylbLG belaufen sich auf 360,- DM monatlich zzgl des Betrags nach § 3 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylbLG iHv 80,- DM, was einem Gesamtbetrag von – gerundet (vgl § 41 Abs. 2 SGB II) - monatlich 225,- EUR entspricht. Die Anordnung war – längstens – bis zum 30. September 2012 zu befristen, zumal der Antragsteller vorgetragen hat, eine Beschäftigung für den Fall, dass er krankenversichert sei, in Aussicht zu haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dem Antragsteller war im Hinblick auf die teilweise Erfolgsaussicht für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Bevollmächtigten zu bewilligen (vgl § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm §§ 114, 121 Abs. 2 Zivilprozessordnung).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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