L 6 U 49/06

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 3 U 152/03
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 6 U 49/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob eine Schwerhörigkeit beim Kläger als Lärmschwerhörigkeit festzustellen ist und die Gewährung einer Stützrente rechtfertigt.

Die Rechtsvorgängerin der Beigeladenen (im Folgenden Beigeladene) erreichte im Dezember 2002 eine ärztliche Berufkrankheitenanzeige des Facharztes für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde W ... Darin äußerte dieser den Verdacht, eine Tätigkeit des Klägers als Elektriker bis zum 30. September 2002 habe zu einer Lärmschwerhörigkeit geführt. Beigefügt waren ein Tonschwellenaudiogramm und ein Sprachaudiogramm mit der Aufzeichnung der Verständlichkeit von Einsilbern vom 14. Oktober 2002. Der Kläger selbst machte in einem am 13. Januar 2003 ausgefüllten Fragebogen vor allem Lärmeinwirkungen während einer Tätigkeit für den VEB V. H. in N. bis zum 30. Juni 1990 für die Lärmeinwirkung verantwortlich und verneinte eine Lärmgefährdung für die Tätigkeit zwischen dem 12. Juni 1991 und dem 30. September 2002. Er habe erstmals vor etwa 15 Jahren bei Gesprächen mit mehreren Personen eine Hörbeeinträchtigung bemerkt und sei bei dem Vater seines HNO-Arztes deshalb in Behandlung gewesen. Seitdem beständen die Hörbeschwerden auch in dem jetzigen Maße. Ihm sei nur nicht bekannt gewesen, dass es sich um eine Lärmschwerhörigkeit handele. Zwischen September 2002 und Dezember 2002 sei er dreimal an einer Mittelohrentzündung erkrankt.

Die Beigeladene zog einen Behandlungsbericht der Klinik für HNO-Heilkunde des St. Salvator-Krankenhauses in H. vom 3. Februar 2003 mit einem Tonschwellenaudiogramm vom 17. Dezember 2002 bei. Die Beigeladene zog weiterhin Unterlagen bei, aus denen sich ergab, dass der Kläger wegen eines Arbeitsunfalls eine Dauerrente wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v. H. bezieht.

Aus einer Auskunft der Arbeitgeberin im Zeitraum vom 12. Juni 1991 bis 30. September 2002 geht hervor, der Kläger sei allenfalls in manchen Abteilungen, in denen er Reparaturen durchführte, sehr kurzfristig Lärm in Höhe von 80 dB(A) ausgesetzt gewesen. Während einer betrieblichen Umgestaltung sei er für ca. 6 Monate Lärmeinwirkungen ausgesetzt gewesen.

Die Präventionsabteilung der Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Folgenden Beklagte) ermittelte für die Zeit vom 1. März 1967 bis zum 30. Juni 1990 einen Beurteilungspegel von mehr als 85 dB(A).

Daraufhin gab die Beigeladene den Fall an die Beklagte ab, deren beratende Ärztin Dr. B. die Ablehnung einer Berufskrankheit nach Nr. 50 der Berufskrankheitenliste der DDR empfahl, weil die Schwerhörigkeit keine soziale Bedeutung im Sinne des Rechts der DDR, nämlich keinen Körperschaden von 20%, bedingt habe.

Mit Bescheid vom 26. Juni 2003 lehnte die Beklagte nach Prüfung, "ob es sich bei Ihrer Hörstörung um eine Berufskrankheit handelt", einen Anspruch auf Entschädigung des Klägers wegen einer Lärmschwerhörigkeit als Berufskrankheit nach Nr. 50 der Berufskrankheitenverordnung der DDR ab. Dazu führte sie aus, sie habe die Bearbeitung von der Beigeladenen zuständigkeitshalber übernommen, weil der Kläger letztmalig am 30. Juni 1990 in ihrem Mitgliedsunternehmen einer Lärmeinwirkung ausgesetzt gewesen sei, die grundsätzlich zu einer Gehörschädigung geeignet gewesen sei. Da der Kläger die lärmgefährdende Tätigkeit vor 1991 aufgegeben habe, habe die Beurteilung nach Nr. 50 der BKVO (der DDR) zu erfolgen. Nach dem Recht der DDR erfordere die Anerkennung einer Lärmschwerhörigkeit ein Ausmaß von sozialer Bedeutung. Eine solche sei bei Auswertung der Ton- und Sprachaudiogramme nicht nachweisbar gewesen.

Gegen den Bescheid erhob der Kläger am 11. Juli 2003 Widerspruch und führte aus, er habe im Hinblick auf die Dauer der vorherigen Lärmeinwirkung dem Zeitraum nach Juli 1990 keine Bedeutung beigemessen. Er sei aber noch bis März 1991 dem Produktionslärm von Holzbearbeitungsmaschinen ausgesetzt gewesen. Zwischen Juni 1990 und März 1991 sei die Produktion zwar eingeschränkt, aber nicht eingestellt worden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Juli 2003 wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch zurück und verwies auf ein Hinweisschreiben vom 14. Juli 2003, in dem die Beklagte im Wesentlichen dargelegt hatte, die Fortdauer der Lärmeinwirkung bis zum März 1991 ändere das erforderliche Ausmaß der Schwerhörigkeit nicht.

Mit der am 25. August 2003 beim Sozialgericht Magdeburg eingegangenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt und unter anderem vorgetragen, seine Schwerhörigkeit sei zu "DDR-Zeiten" nicht als Lärmschwerhörigkeit erkannt worden.

Mit Urteil vom 28. Februar 2006 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, die Prüfung einer Lärmberufskrankheit richte sich hier nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung, da hier nur ein Versicherungsfall vor dem 1. Januar 1997 in Frage käme. Denn der Kläger sei nur bis zum März 1991 beruflich Lärm ausgesetzt gewesen. Nach § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO sei zu prüfen, ob beim Kläger eine Berufskrankheit nach der Liste der Berufskrankheiten der DDR vorliege. Nach deren Nr. 50 sei dort eine Berufskrankheit durch Lärm, der Schwerhörigkeit mit sozialer Bedeutung verursache, geschützt gewesen. Soziale Bedeutung in diesem Sinne habe vorgelegen, wenn die Schwerhörigkeit einen Grad des Körperschadens von wenigstens 20 v. H. bedingt habe. Der Körperschaden entspreche insoweit der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Beim Kläger hätten bei Beendigung der beruflichen Lärmeinwirkungen im März 1991 keine lärmbedingten Hörverluste vorgelegen, die eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um wenigstens 20 v. H. erreicht hätten. Das Fehlen hinreichender Hörverluste lasse sich schon zuverlässig aus den Audiogrammen vom 14. Oktober und 17. Dezember 2002 herleiten, wobei das Sprachaudiogramm vom 14. Oktober 2002 nicht verwertbar sei, da es keine Werte für Zahlen enthalte. Aus der Knochenleitungskurve des Tonaudiogramms vom 17. Dezember 2002 errechneten sich Hörverluste von 10 v. H. rechts und 20 v. H. links. Nach der Tabelle von Feldmann sei die Minderung der Erwerbsfähigkeit mit weniger als 10 v. H. zu ermitteln. Zudem spreche die beim Kläger gefundene chronische Mittelohrentzündung gegen eine wesentliche Verursachung der Schwerhörigkeit durch Lärm. Soweit Prof. B ... L. im Bericht vom 3. Februar 2003 eine deutliche Schallempfindungsschwerhörigkeit beschrieben, komme es allein auf die objektiven Messergebnisse an, nach der die Lärmschwerhörigkeit kein hinreichendes Ausmaß erreiche. Selbst bei einem Lärmende nach dem 31. Dezember 1991 ergäbe sich kein Rentenanspruch, weil die Minderung der Erwerbsfähigkeit das Mindestmaß für eine Stützrente von 10 v. H. nicht erreiche.

Gegen das ihm am 10. März 2006 zugestellte Urteil hat der Kläger am 4. April 2006 Berufung eingelegt. Er hat geltend gemacht, er habe auch in der Zeit vom 12. Januar 1991 bis 30. September 2002 unter erhöhter Lärmeinwirkung gearbeitet. Während eines halben Jahres habe er aufgrund einer betrieblichen Umgestaltung nahezu vollschichtig in unmittelbarer Nähe der Horizontalbandsäge gearbeitet. Er könne nicht verstehen, weshalb sich die Beklagte und Beigeladene gegen die Zahlung selbst einer Stützrente sperrten, zumal er doch erst spät einen Antrag gestellt habe und nicht schon seit 1989/90 Zahlungen geltend mache. Wegen seiner Angaben zur Lärmeinwirkung im Zeitraum zwischen Juni 1991 und Oktober 2002 wird auf die Sitzungsniederschrift vom 9. Dezember 2009, Bl. 150 d. A., verwiesen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Vernehmung des Zeugen A., wegen dessen Angaben im Einzelnen auf die Sitzungsniederschrift vom 9. Dezember 2009, Bl. 150 f. d. A. verwiesen wird. Im Wesentlichen hat der Zeuge bestätigt, dass der Kläger ungefähr ein halbes Jahr lang im Zeitraum 2001/02 während eines Umbaus in etwa 5 m Abstand zu verschiedenen lärmintensiven Maschinen gearbeitet habe. Dazu hat die Präventionsabteilung der Beigeladenen ermittelt, der Kläger sei im fraglichen Zeitraum einer Lärmeinwirkung von 88-91 dB(A) ausgesetzt gewesen. Dazu ist erläutert, von einer Gefährdung sei auszugehen, wenn ein personenbezogener Lärmexpositionspegel von 85 dB(A) erreicht oder überschritten werde. Als Lärmexpositionspegel sei der auf 8 Stunden bezogene Tages-Lärmexpositionspegel maßgeblich. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 162-168 d. A. verwiesen.

Der Senat hat ein Tonschwellen- und Sprachaudiogramm vom 23. Mai 2003, Bl. 177 d. A., beigezogen. Weiterhin hat es einen Befundbericht des HNO-Arztes Weiher vom 14. Juni 2011, Bl. 208 f. d. A., eingeholt.

Das Gericht hat sodann ein Gutachten von Prof. Dr. F., vormals Chefarzt an der Universitätsklinik M. für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, vom 14. November 2011 eingeholt, wegen dessen Inhalt im Einzelnen auf Bl. 229-247 d. A. verwiesen wird. Der Sachverständige ist im Wesentlichen zum Ergebnis gelangt, die bestehende Innenohrschwerhörigkeit beidseits sei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine Folge der berufsbedingten Lärmeinwirkungen, dafür sprächen der Hörschwellenkurvenverlauf mit Betonung der hohen Frequenzen, das nachgewiesene positive Rekruitment sowie die berufliche Lärmbelastung. Die 2002 durchgemachte Mittelohrentzündung sei als ausgeheilt zu betrachten. Als Restzustände seien lediglich noch Trommelfellnarben auf der linken Seite nachweisbar. Eine Schallleitungsschwerhörigkeit und somit eine zusätzliche Funktionseinbuße sei durch diese Entzündung nicht eingetreten. Es sei nicht auszuschließen, dass die sechsmonatige Lärmeinwirkung in den Jahren 2001/2002 zu einer gewissen Verschlechterung des Hörvermögens geführt habe. Bei einer lärmbedingten Haarzellschädigung komme es zu einer anfänglichen Erschöpfung des Energiestoffwechsels der Zelle, die reversibel sei. Bei länger bestehender Schadeinwirkung könne es jedoch zu einer Funktionsstörung und zu Schäden direkt am Sinnesorgan kommen. Insofern müsse man jede länger bestehende Schalleinwirkung als mögliche Schädigungsursache für einen Hörverlust im Innenohrbereich ansehen. Die vorübergehend bestehende Mittelohrschwerhörigkeit, die von Dr. W. und im Krankenhaus H. behandelt worden sei, sei ausgeheilt. Auch gegenüber einer Gefäßerkrankung, die zu einer Verschlechterung der Innenohrleistung über das normale Maß der Altersschwerhörigkeit hinaus führen könne, sei die berufsbedingte Lärmeinwirkung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als wesentliche Ursache für die Innenohrschwerhörigkeit zu identifizieren. Aus dem Sprachaudiogramm der von ihm durchgeführten Untersuchung vom 22. September 2011 ergebe sich im gewichteten Gesamtwortverstehen ein Hörverlust von beidseits 20 Prozent. Danach sei eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 10 v. H. zu errechnen. Aus dem Tonschwellenaudiogramm sei eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 - 15 v. H. abzuleiten. Da es hier auf das Sprachaudiogramm ankomme, empfehle er, die Minderung der Erwerbsfähigkeit mit 10 v. H. festzulegen. Das Audiogramm vom 14. Oktober 2002 weise Merkmale von Sprechstundenroutine auf. Eine bestimmte Streuung der Messwerte spreche gegen eine sorgfältige audiologische Untersuchung. Auf dieser Grundlage könne er keine Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit vornehmen. Sehr genau sei das Tonschwellenaudiogramm vom 17. Dezember 2002. Die dort erkennbare Schallleitungskomponente sei durch die Ausheilung verschwunden. Die Innenohrkurven seien praktisch deckungsgleich mit den von ihm erhobenen Audiogrammen. Im späteren Audiogramm vom 23. Mai 2003 sei die Schallleitungskomponente noch auf der linken Seite nachweisbar. Die damals durchgeführte sprachaudiometrische Untersuchung begründe eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 0 - 10%. Er selbst schlage insgesamt eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 10 v. H. vor.

Der Kläger sieht sein Anliegen durch das Gutachten von Prof. Dr. F. bestätigt. Er weist darauf hin, eine langsame Verschlechterung nach 2002 habe er aber dem Sachverständigen gegenüber nicht angegeben. Insoweit bleibe es bei seiner Angabe im Erörterungstermin vom 9. Dezember 2009, wonach sich sein Gehör seit 2002 nicht mehr verschlechtert habe.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 26. Juni 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 2003 aufzuheben, festzustellen, dass bei ihm seit 1. Juni 2002 eine Lärmschwerhörigkeit vorliegt und

die Beigeladene zu verurteilen, ihm von diesem Zeitpunkt an Verletztenrente zu zahlen.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verweist darauf, Versicherungsfälle vor dem 31. Dezember 1991, die nach dem Recht des Beitrittsgebietes nicht zu entschädigen gewesen seien, könnten auch nach diesem Zeitpunkt nicht entschädigt werden, wenn sie – wie im Falle des Klägers – nach unmittelbarem Bundesrecht entschädigungspflichtig wären.

Die Beigeladene ist der Auffassung, in ihrem Mitgliedsbetrieb habe lediglich eine Lärmexposition von einem halben Jahr bestanden. Eine Lärmexposition von einem halben Jahr könne eine Lärmschwerhörigkeit nicht verursachen. Unter Vorlage einer beratungsärztlichen Stellungnahme des Hals-Nasen-Ohrenarztes Dr. E. führt sie weiter aus, eine Lärmschwerhörigkeit sei auch deshalb nicht festzustellen, weil die nachweisbare Lärmeinwirkung für die Dauer von höchstens 10 Monaten im Zeitraum 2001/02 das Risikomaß nach von Lüpke für die Entstehung einer Lärmschwerhörigkeit nicht weiter erhöhe. Von dem Messergebnis des Tonschwellenaudiogramms vom 17. Dezember 2002 müssten methodisch bedingt Abzüge vorgenommen werden, weil das zu Grunde zu legende Sprachaudiogramm zumeist erheblich geringere Hörverluste ergebe. Das Gutachten berücksichtige insgesamt nicht den Hörverlust zum Lärmende im Jahre 1990. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit sei nicht zutreffend beurteilt worden.

In der mündlichen Verhandlung und bei der Beratung hat die Akte der Beklagten – Az. – vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Die gem. § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Berufung hat keinen Erfolg.

Der Bescheid der Beklagten vom 26. Juni 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 2003 beschwert den Kläger nicht im Sinne von §§ 157, 54 Abs. 2 S. 1 SGG, weil die Beklagte darin zu Recht eine Anerkennung der Lärmschwerhörigkeit des Klägers als Berufskrankheit abgelehnt hat. Auf die entsprechende Feststellung dieser Berufskrankheit im Sinne von § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG hat der Kläger keinen Anspruch.

Mit diesem Anliegen ist der Kläger gegen den Bescheid der Beklagten im Sinne von § 54 Abs. 1 S. 2 SGG auch insoweit klagebefugt, als es die Prüfung seiner Ansprüche auf Feststellung einer Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Anl. 1 BKV betrifft, weil die Beklagte von einem objektiven Empfängerhorizont aus auch darüber ablehnend entschieden hat. Denn die Beklagte hat in der Sache ausweislich des Einleitungssatzes ihres Bescheides generell geprüft, ob es sich bei der Hörstörung des Klägers um eine Berufskrankheit handelt. Dazu lässt sich im Umkehrschluss dem Bescheid entnehmen, eine Lärmschwerhörigkeit nach dem unmittelbar bundesrechtlichen Berufskrankheitenrecht könne nicht vorliegen, weil der Kläger seine lärmgefährdende Tätigkeit bereits vor 1991 aufgegeben habe. Dieser Umkehrschluss ergibt sich aus der Aussage der Beklagten, die Beurteilung habe wegen dieses Umstandes nach der Nr. 50 der BKVO (der DDR) zu erfolgen. Denn dieser Satz enthält selbst bereits zwei Prämissen, wonach es nämlich erstens noch andere Rechtsnormen gibt, nach denen eine Lärmschwerhörigkeit als Berufskrankheit zu prüfen ist, und die anzuwendende Norm zweitens davon abhängt, ob die lärmgefährdende Tätigkeit vor 1991 oder später aufgegeben worden ist. Für den Kläger ergibt sich aus dem mit dem Satz mitgeteilten Ergebnis zugleich die Feststellung, dass er nach anderem Recht keinen Anspruch auf Anerkennung einer Lärmschwerhörigkeit hat, weil in seinem Fall nach einem bestimmten Zeitpunkt ab 1991 keine lärmgefährdende Tätigkeit mehr ausgeübt worden ist. Diesen Zeitpunkt präzisiert die Beklagte in ihrem Widerspruchsbescheid auf den Ablauf des Jahres 1991.

Dieser Inhalt des Bescheides ergibt sich für den objektiven Beobachter auch aus dem Gang des Verwaltungsverfahrens. Denn danach haben weder der Arzt, der die Berufskrankheitenanzeige erstattet hat, noch der Kläger den Prüfungsumfang des Verwaltungsverfahrens beschränkt. Eine solche Beschränkung wäre etwa dadurch denkbar, dass der Fall von vornherein dem (nur) für die Berufskrankheit der DDR zuständigen Träger – hier die Beklagte – unterbreitet würde und übereinstimmend vorgetragene und feststellbare Tatsachen keinen Raum für eine spätere Lärmeinwirkung mehr ließen. Dafür reicht allerdings nicht die subjektive Meinung des Versicherten selbst aus, er sei in einem bestimmten Beschäftigungsabschnitt nicht lärmgefährdet gewesen, soweit sie nicht auch durch eindeutige Erkenntnisse über diese Beschäftigung unterlegt ist. Solche Erkenntnisse lagen der Beigeladenen (und damit später der Beklagten) zu keinem Zeitpunkt vor, zumal der Kläger in dem Fragebogen, in dem er sich beim letzten Arbeitgeber als nicht lärmgefährdet bezeichnete, gerade keine Angaben zu der dort ausgeübten konkreten Tätigkeit gemacht hatte. Umgekehrt ließ die in der Berufskrankheitenanzeige für diesen Zeitraum genannte Berufsbezeichnung eines Betriebselektrikers nicht ohne Kenntnis der konkreten Tätigkeitsumstände die Schlussfolgerung auf fehlende Lärmgefährdung zu.

Der Kläger erfüllt nicht die Voraussetzungen einer – nach § 1150 Abs. 2 S. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO – hier in der Fassung durch G. v. 25.7.1991, BGBl. I S. 1606) in das Bundesrecht überführten – Berufskrankheit nach Nr. 50 der Liste der Berufskrankheiten (v. 21.4.1981, GBl. der DDR I S. 139). Denn danach bestand Schutz gegen eine Krankheit durch Lärm, der Schwerhörigkeit von sozialer Bedeutung verursacht. Dieses Ausmaß lag beim Kläger bis zum Außerkrafttreten der Vorschrift nach Anl. II Kap. VIII Sachg. I Abschn. III Nr. 5 zum Einigungsvertrag mit dem 31. Dezember 1991 nicht vor. Dafür spricht bereits die Angabe des Klägers, die damals behandelte Schwerhörigkeit sei nicht als solche "erkannt" worden; wahrscheinlicher ist es, dass sie wegen des zu geringen Ausmaßes nicht als Berufskrankheit behandelt worden ist. Dass es sich sicher nicht um eine Lärmschwerhörigkeit im Sinne der DDR gehandelt hat, folgt aber daraus, dass sie heute noch keine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v. H. erreicht. Dies folgt schlüssig und nachvollziehbar aus dem Gutachten von Prof. Dr. F., soweit er eine Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht in dieser Höhe, sondern darunter vorschlägt. Eine Besserung der eigentlichen Lärmschwerhörigkeit gegenüber einem früheren Zustand ist nach dem vom Sachverständigen geschilderten Vorgang des Absterbens von Haarzellen nicht möglich (so auch Merkblatt zur Lärmschwerhörigkeit, bekanntgemacht vom BMAS am 1.7.2008, GMBl. 2008, 798).

Anders als der Kläger meint, lässt sich nicht unmittelbar die Voraussetzung einer sozialen Bedeutung nach der Liste der Berufskrankheiten prüfen, wonach die Hörschädigung zu Verständigungsschwierigkeiten mit anderen Personen geführt haben muss. Vielmehr wurde dieses Merkmal dadurch ausgefüllt, dass der Körperschaden durch die Schwerhörigkeit 20 % erreichte oder die Voraussetzungen einer Meldepflicht nach § 7 Abs. 2 der 5. Durchführungsbestimmung zur BKVO (5. DB v. 13. 10. 1988, GBl. 1989 I S. 20) vorlagen (Richtlinie zur Begutachtung von arbeitsbedingten Hörschäden – BK 50, dort Abschnitt V, veröffentlicht in Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen 1989 S. 57, hier zitiert nach Berufskrankheiten im Gebiet der neuen Bundesländer – 1945 bis 1990 –, herausgegeben von der Bundesanstalt für Arbeitsmedizin, B. 1994). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Die Meldepflicht für eine Lärmschwerhörigkeit nach § 7 Abs. 2 5. DB. setzte unter anderem voraus, dass ein Fortschreiten des Hörverlustes auch durch Tragen von Gehörschutzmitteln nicht vermieden werden konnte. Diese Voraussetzung war im Falle des Klägers aber nicht zu belegen, da ihm nach seiner Darstellung im Widerspruchsschriftsatz vom 9. Juli 2003 zu "DDR-Zeiten" erst in den letzten Jahren Gehörschutzmuscheln als "Kopfhörer" gestellt wurden. Danach war eine Stagnation der eingetretenen Schwerhörigkeit zumindest nicht auszuschließen, weil die Entwicklung der Schwerhörigkeit, die etwa um diese Zeit herum auftrat, zumindest im Wesentlichen noch ohne solchen Gehörschutz vonstatten gegangen war. Umgekehrt gibt es jedenfalls keine Beweismittel mehr, mit denen sich zu Gunsten des Klägers feststellen ließe, dass die Voraussetzung einer meldepflichtigen Berufskrankheit durch eine mangelnde Beeinflussbarkeit durch Gehörschutzmittel erfüllt war, zumal die genauen Umstände der Lärmeinwirkung nicht mehr feststellbar sind.

Ein Körperschaden von 20 % wurde durch die schon damals aufgetretene Schwerhörigkeit nicht bedingt. Dies schätzt zunächst die Beratungsärztin der Beklagten Dr. B. ausdrücklich so ein. Es begegnet auch keinen Bedenken, wenn sie für diese Prüfung die Minderung der Erwerbsfähigkeit im Sinne des Bundesrechts mit dem Grad des Körperschadens gleichsetzt. Eine völlige Nachholung der Bewertung nach den in der DDR anerkannten medizinischen Grundlagen ist auch heute nicht mehr möglich, weil die Prüfung besondere Elemente enthielt, die sich in der Bundesrepublik nicht mehr nachstellen lassen. So erfolgte die Erstellung des Sprachaudiogramms unter Einspielung von Störschall von bestimmten Schallplatten, deren Verwendung im halsnasenohrenärztlichen Bereich der Gegenwart nicht mehr sichergestellt werden kann (vgl. Empfehlung der Gesellschaft für Oto-Rhino-Laryngologie und zervikofaziale Chirurgie der DDR für die Begutachtung von Hörschäden – speziell der BK 50, Unterabschnitt 5 mit Fußnote, zitiert nach Berufskrankheiten im Gebiet der neuen Bundesländer, a.a.O.). Rechtliche Gesichtspunkte sprechen gegen eine Gleichsetzung des Körperschadens und der Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht, zumal der Bundesgesetzgeber in § 1154 Abs. 1 S. 1 RVO (in der Fassung durch G. v. 25. 7. 1991, BGBl. I S. 1606) typisierend von einer solchen Gleichstellung ausgegangen ist (BSG, Urt. v. 4.12.2001 – B 2 U 35/00 R – zitiert nach Juris-Rechtsprechung, Rdnr. 19).

Der Kläger erfüllt nicht die Voraussetzungen einer Lärmschwerhörigkeit nach Nr. 2301 der Anl. 1 der BKV (und ihrer bundesrechtlichen Vorgängervorschriften). Die Lärmschwerhörigkeit ist nicht als solche nach diesem Recht entstanden, da sie schon vor dessen Inkrafttreten im Bundesland Sachsen-Anhalt bestand. Gemäß Anl. I Kap. VIII Sachg. I Abschnitt III Nr. 1 Buchst. f, Nr. 4 zum Einigungsvertrag (G. v. 23. 9. 1990, BGBl. II S. 885 ff.) ist das bei dessen Inkrafttreten schon geltende Berufskrankheitenrecht der Bundesrepublik Deutschland zum 1. Januar 1992 u. a. im Bundesland Sachsen-Anhalt in Kraft getreten. Zu diesem Zeitpunkt bestand die Lärmschwerhörigkeit bereits, ohne dass die genannten Einführungsvorschriften Rückwirkungstatbestände enthielten. Vielmehr konnte eine für das neue Recht maßgebliche Berufskrankheit nach § 555 Abs. 3 S. 2 der Reichsversicherungsordnung in der durch den Einigungsvertrag in Kraft gesetzten Fassung erst nach dem 1. Januar 1992 entstehen. Denn erst ab diesem Zeitpunkt bestimmte die Vorschrift, Beginn der Berufskrankheit sei der Krankheitsbeginn, der im Falle des Klägers aber nicht mehr eintreten konnte. Durch die Einführung von § 9 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 212 des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII) ist insoweit keine Änderung eingetreten; danach müsste der Kläger erst nach dem Inkrafttreten des Gesetzes mit dem 1. Januar 1997 die maßgebliche Krankheit erlitten haben. Auch die ausweislich ihres § 8 Abs. 1 am 1. Dezember 1997 in Kraft getretene Neufassung der BKV enthält keine Rückwirkungsregelung zu Gunsten des Klägers.

Der Senat ist auf Grund der Angaben des Klägers in dem am 13. Januar 2003 ausgefüllten Fragebogen, er sei vor etwa 15 Jahren bereits wegen Hörbeschwerden beim Vater seines aktuell behandelnden HNO-Arztes in Behandlung gewesen, davon überzeugt, dass der Kläger jedenfalls bereits vor dem 1. Januar 1992 unter der Schwerhörigkeit litt. Weiterhin hat der Kläger dazu ausgeführt, seine Schwerhörigkeit sei damals – laut Schriftsatz vom 20. Oktober 2003 "zu DDR-Zeiten" – lediglich nicht als Lärmschwerhörigkeit erkannt worden. Diese substantiierten und zeitnäheren Angaben hält der Senat für glaubhafter als den pauschalen Widerruf des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 23. Mai 2012, nach dem der Kläger zwar nicht mehr vor 2002 unter einer Schwerhörigkeit gelitten haben will, für seine früheren Angaben aber keine Erklärung hat geben können. Das Ausweichen auf die Erklärung, schließlich habe er ja damals keine Anerkennung einer Schwerhörigkeit beantragt, verdeutlicht, dass es dem Kläger bei dieser neuen Behauptung nicht mehr um die Klärung von Tatsachen, sondern um deren Verquickung mit rechtlichen Gegebenheiten geht, aus denen der Kläger glaubt, Ansprüche ableiten zu können. Beweismittel für den Beginn seiner Schwerhörigkeit, die seine ursprünglichen Angaben widerlegen könnten, hat der Kläger im Übrigen nicht benannt.

Bei den vor dem 1. Januar 1992 aufgetretenen Schwerhörigkeitssymptomen hat es sich um Lärmschwerhörigkeit gehandelt. Dies ergibt sich aus dem Gutachten von Prof. Dr. F., der auch noch die gesamte heute bestehende Schwerhörigkeit überzeugend als Lärmschwerhörigkeit eingeordnet hat. Soweit zwischenzeitlich durch einen Schallleitungsanteil auch eine Mittelohrschwerhörigkeit erkennbar war, handelt es sich um einen Zustand, der erst in Verbindung mit einer Mittelohrentzündung 2002/03 aufgetreten ist. Dies ergibt sich aus der Einschätzung Prof. Dr. F.s, wonach sowohl die Entzündung als auch der Schallleitungsanteil der Schwerhörigkeit unter der Behandlung des Facharztes Weiher und des Kreiskrankenhauses H. ausgeheilt sind; die genannten Behandlungen in diesem Zusammenhang sind ausweislich der erstellten Befundberichte in diesem Zeitraum erfolgt.

Eine abgrenzbare Verschlimmerung des rechtlich nicht berücksichtigungsfähigen Vorschadens nach dem 1. Januar 1992 als Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Anl. 1 zur BKV durch die berufliche Lärmeinwirkung in den Jahren 2001/02 ist nach den vollständig beigezogenen Befunden nicht zu belegen. Insbesondere hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 23. Mai 2012 bestätigt, dass vor 2002 und insbesondere in der Behandlung durch den Ohrenarzt W. senior keine Audiogramme gefertigt worden sind.

Eine im Sinne auch nur gesteigerter Behandlungsbedürftigkeit eingetretene Verschlimmerung ist sogar unwahrscheinlich. Alle eingeschalteten Ärzte sind sich darüber einig, dass eine Verschlechterung des Hörvermögens des Klägers durch die Lärmeinwirkung 2001/02 allenfalls möglich ist. Der Sachverständige Prof. Dr. F. hat diese Einschätzung so abgegeben, während er die an ihn gerichtete Frage (auch) nach der Wahrscheinlichkeit eines Einflusses der neuerlichen beruflichen Lärmeinwirkung auf die Schwerhörigkeit nicht bejaht hat. Insoweit hat er einen wahrscheinlichen Einfluss nur für die Gesamtdauer der Lärmeinwirkung von mehr als 23 Jahren angenommen. Zudem hat er darauf hingewiesen, dass auch gefäßbedingte Risikofaktoren beim Kläger vorliegen, die insbesondere im Rahmen der Altersentwicklung Einfluss auf die weitere Entwicklung der Schwerhörigkeit genommen haben können. Auch Dr. B. hat einen Einfluss der sechsmonatigen Lärmeinwirkung 2001/02 auf die Lärmschwerhörigkeit lediglich nicht ausschließen wollen, ohne sie im Sinne des Klägers für wahrscheinlich zu erachten.

Ein Anspruch auf Verletztenrente, der gem. § 214 Abs. 3, § 56 Abs. 1 S. 1 - 3 SGB VII an einen Versicherungsfall geknüpft ist, kann danach nicht bestehen, weil die geltend gemachte Berufskrankheit als hier zu prüfender Versicherungsfall im Sinne von § 7 Abs. 1 SGB VII – wie dargelegt – nicht vorliegt.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG und richtet sich nach dem Unterliegen des Klägers.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1, 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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