L 19 AS 870/11

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 8 (12) AS 111/08
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 870/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 01.04.2011 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der Bewilligung und das Verlangen nach Erstattung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) wegen einer nicht angezeigten Inhaftierung. Mit Bescheid vom 26.06.2007 bewilligte die Rechtsvorgängerin des Beklagten (im Folgenden einheitlich: Beklagter) dem Kläger Leistungen nach dem SGB II u.a. für die Zeit vom 01.07.2007 bis 30.11.2007 in Höhe von monatlich 825,97 EUR (Regelleistung 347,00 EUR und Kosten für Unterkunft und Heizung 478,97 EUR entsprechend den tatsächlichen Aufwendungen des Klägers hierfür).

Durch Urteil des Amtsgerichts T vom 04.05.2005 wurde der Kläger wegen vorsätzlicher Straßenverkehrsgefährdung infolge Wendens auf einer Kraftfahrstraße in Tateinheit mit einer Nötigung zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 65,00 EUR verurteilt. Berufung und Revision blieben erfolglos (5 Ns 29 Js 1041/04 Landgericht Münster und 4 Ss 171/06 Oberlandesgericht Hamm).

Nachdem der Kläger seine Strafe nicht gezahlt hatte, wurde er mit Stellungsaufforderung vom 26.02.2007 zum Antritt einer Ersatzfreiheitsstrafe geladen, folgte dieser aber nicht. Am 19.06.2007 wurde gegen ihn Haftbefehl erlassen und eine erneute Stellungsaufforderung vom 19.07.2007 an den Kläger versandt. Nachdem er auch dieser Stellungsaufforderung nicht nachgekommen war, wurde der Kläger am 27.07.2007 inhaftiert. Er hielt sich bis zum 01.08.2007 in der JVA C auf und wurde am 01.08.2007 der Außenstelle C zugeführt. Dort verblieb der Kläger bis zur vollständigen Verbüßung der gegen ihn erkannten Ersatzfreiheitsstrafe von 60 Tagen am 24.09.2007.

Am 13.08.2007 teilte der Kläger dem Beklagten die Verbüßung der Haftstrafe seit dem 27.07.2007 mit.

Mit Bescheid vom 22.01.2008 hob der Beklagte - nach vorheriger Anhörung des Klägers durch Schreiben vom 13.08.2007 - die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die Zeit vom 28.07.2007 bis 31.08.2007 i.H.v. 381,70 EUR (Regelleistung) und i.H.v. 526,87 EUR (Kosten der Unterkunft und Heizung) nach § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) auf und forderte vom Kläger die Erstattung von 908,57 EUR gemäß § 50 SGB X.

Den nicht begründeten Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 07.07.2008 zurück.

Am 11.08.2008 hat der Kläger Klage erhoben. Ihm sei es vor der Mitteilung am 13.08.2007 nicht möglich gewesen, den Beklagten von seiner Inhaftierung in Kenntnis zu setzen. Erst ab dem 09.08.2007 habe er wieder Geld und die Möglichkeit gehabt, Anrufe zu tätigen. Eine Sachbearbeiterin des Beklagten habe er jedoch erst am Montag, dem 13.08.2007 erreicht. Durch eine Mitteilung nach dem 30.07.2007 hätte die Auszahlung der Leistungen nach dem SGB II an ihn nicht mehr verhindert werden können. Eine vorsätzliche oder grob fahrlässige Verletzung seiner Anzeigepflicht könne ihm vor diesem Hintergrund nicht vorgeworfen werden.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 22.01.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2008 aufzuheben.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Mit Urteil vom 01.04.2011 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der angefochtene Bescheid vom 22.01.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2008 sei nicht zu beanstanden. Zu Recht habe der Beklagte die Leistungsbewilligung für die Zeit vom 28.07.2007 bis 31.08.2007 aufgehoben und die Erstattung eines Betrages von 908,57 EUR gefordert. Dabei könne offenbleiben, ob dem Kläger eine vorsätzliche oder grob fahrlässige Verletzung seiner Anzeige- und Mitteilungspflichten vorgeworfen werden könne. Denn der angefochtene Bescheid lasse sich in eine Aufhebungsentscheidung nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) umdeuten, da der Kläger jedenfalls gewusst habe oder nur grob fahrlässig habe verkennen können, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist. Auf die weitere Begründung des Urteils wird Bezug genommen.

Gegen das am 16.04.2011 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Klägers vom 16.05.2011, die er schriftlich nicht begründet hat.

Der Senat hat von der Leitung der JVA C eine Stellungnahme eingeholt zu der Behauptung des Klägers, er sei an einer zeitnahen Information des Beklagten zum Umstand seiner Inhaftierung gehindert gewesen. Laut Antwortschreiben vom 31.01.2012 sind sowohl im Hafthaus C als auch in der Außenstelle C Münztelefone verfügbar, aufgrund dringender Anlässe zudem ein Diensttelefon. Die Unterrichtung naher Angehöriger sowie die Unterrichtung von Trägern der Grundsicherung seien als Fälle anzusehen, in denen Gefangenen regelmäßig die Nutzung einer dienstlichen Fernsprecheinrichtung ermöglicht werde. Der Kläger hätte sich auch schriftlich an den zuständigen Träger der Grundsicherung wenden können. Die erforderliche Frankierung eines solchen Schreibens aus Haushaltsmitteln wäre unproblematisch möglich gewesen. Auf den weiteren Inhalt des Schreibens wird Bezug genommen.

In der mündlichen Verhandlung am 09.07.2012 beantragt der Kläger,

das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 01.04.2011 zu ändern und den Bescheid des Beklagten vom 22.01.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2008 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Prozessakten, der Verwaltungsakten des Beklagten und der beigezogenen Akten Bezug genommen, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Im Ergebnis zutreffend hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen.

Die Annahme allerdings, die auf § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB X gestützte Aufhebungsentscheidung des Beklagten lasse sich in eine Aufhebung nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB X umdeuten, deren Voraussetzungen vorlägen, trägt nicht die Begründung, der Bescheid vom 22.01.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2008 sei insgesamt rechtmäßig. Denn der Beklagte hat die Leistungsbewilligung vom 28.07.2007 bis zum 31.08.2007 insgesamt aufgehoben und sowohl die für diesen Zeitraum erbrachten Leistungen nach § 20 SGB II als auch nach § 22 SGB II insgesamt zur Erstattung angefordert. Diese Rechtsfolge tritt im Leistungsrecht des SGB II nach § 48 SGB X alleine dann ein, wenn der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (§ 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB X). Denn nur bei Vorliegen dieser Voraussetzungen ist auch die Rückforderung der für Unterkunft und Heizung erbrachten Leistungen nach § 22 SGB II in voller Höhe möglich, in den anderen Fällen nur in Höhe von 44 v.H. der berücksichtigten Kosten für Unterkunft mit Ausnahme der Ausnahme der Kosten für Heizungs- und Warmwasserversorgung (§ 40 Abs. 2 S. 1, 2 SGB II).

Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Leistungsbewilligung durch Bescheid des Beklagten vom 22.01.2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.07.2008 haben vorgelegen und das Erstattungsverlangen ist dem Grunde und der Höhe nach rechtmäßig.

Nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB X soll ein Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist. Mit Bescheid vom 26.06.2007 sind dem Kläger Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.07.2007 bis zum 31.08.2007 in gesetzlich zustehender Höhe, insbesondere in voller Höhe des Aufwandes für Unterkunft und Heizung i.S.v. § 22 SGB II bewilligt, und - in der Verwaltungsakte des Beklagten dokumentiert - auch für diesen Zeitraum ausgezahlt worden.

In den für den Erlass dieses Dauerverwaltungsaktes maßgeblichen Verhältnissen ist infolge der Inhaftierung des Klägers am 27.07.2007 eine wesentliche Veränderung insofern eingetreten, als sein Leistungsanspruch wegen der Inhaftierung entfallen ist. Nach § 7 Abs. 4 S. 1 u. 2 SGB II in der ab dem 01.08.2006 geltenden Fassung des Gesetzes vom 20.07.2006, BGBl. I, 1706) erhält Leistungen nach diesem Buch nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Diese Vorschrift gilt nach höchstrichterlicher Rechtsprechung auch bei Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe (Urteil BSG vom 24.02.2011 - B 14 AS 81/09 R und vom 21.06.2011 - B 4 AS 128/10 R).

Die rechtlich relevante Veränderung am 27.07.2007 hat der Kläger erst am 13.08.2007 entgegen einer bestehenden gesetzlichen Verpflichtung zumindest grob fahrlässig verspätet mitgeteilt.

Nach § 60 Abs. 1 Nr. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch - Allgemeine Vorschriften (SGB I) sind Leistungsempfänger verpflichtet, alle Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind, unverzüglich mitzuteilen. Ob dies dem Kläger schon aufgrund seiner juristischen Ausbildung bekannt war, kann dahinstehen. Jedenfalls ist er durch Hinweise des Beklagten, zuletzt am 26.06.2007, darüber unterrichtet worden, dass leistungsrechtlich relevante Änderungen mitzuteilen sind. Der Kläger ist seiner Mitteilungspflicht schließlich auch am 13.08.2007 nachgekommen, nicht aber seiner Verpflichtung zu einer zeitnahen Mitteilung. Die Verletzung der Mitteilungspflicht geschah zur Überzeugung des Senats zumindest grob fahrlässig. Die Behauptung des Klägers, er sei zu einer telefonischen Benachrichtigung des Beklagten vor dem 13.08.2007 außer Stande gewesen, trifft bereits deshalb nicht zu, weil er nach dem Inhalt der Vollstreckungsakte zu der Ermittlungsakte XXX StA N bereits am 30.07.2007 bei der Staatsanwaltschaft angerufen hat und von dort aus am 01.08.2007 zurückgerufen wurde. Bereits hiernach steht fest, dass der Kläger mindestens ab dem 30.07.2007 zur Aufnahme von telefonischen Außenkontakten tatsächlich in der Lage war.

Vollends widerlegt ist seine Behauptung durch die Auskunft der JVA C im Schreiben vom 31.01.2012, wonach der Kläger sowohl in der Zeit seines Aufenthaltes im Zugangsbereich des Hafthauses C vom 27.07. bis zum 01.08.2007 als auch im anschließenden offenen Vollzug in der Außenstelle C ab dem 01.08.2007 die Möglichkeit einer telefonischen oder brieflichen Kontaktaufnahme mit dem Beklagten gehabt hätte. Der Senat sieht keine Veranlassung, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln.

Die Aufhebungsentscheidung nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB X ergeht nach §§ 40 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB II, 330 Abs. 3 S. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung (SGB III) als gebundene Entscheidung. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 4 S. 2, § 45 Abs. 3 S. 3 - 5 sind gegeben.

Der wiederholte Hinweis des Klägers, eine Mitteilung von der Inhaftierung ab dem 30.07.2007 hätte eine Überweisung der Leistungen für den Rückforderungszeitraum nicht abwenden können, ist für die Aufhebungs- und Rückforderungsentscheidung rechtlich nicht relevant. Unabhängig davon hat nach Vorstehendem eine Verletzung der Mitteilungspflicht bereits ab dem 27.07.2007 vorgelegen und ist eine Kausalität zwischen Pflichtverletzung und eingetretenem Schaden nicht Tatbestandsmerkmal.

Das Rückforderungsverlangen hat seine Rechtsgrundlage in § 50 SGB X und ist auch der Höhe nach nicht zu beanstanden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz SGG.

Ein Anlass zur Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG besteht nicht.
Rechtskraft
Aus
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