S 19 KA 23/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Köln (NRW)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
19
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 19 KA 23/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 (10) KA 14/07
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die außergerichtlichen Kosten des Beklagten werden den Klägern auferlegt; sonst sind Kosten nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung der Hyperbaren Sauerstofftherapie (X- hyperbare Oxygenation – hyberbaric osygene). Diese Behandlung besteht darin, dass der Patient in einer Kammer reinen Sauerstoff einatmet und einem Überdruck von 1,5 bis 3 bar ausgesetzt wird. Der Behandlungszeitraum pro Therapieeinheit beträgt je nach Indikation 45 Minuten bis zu über 6 Stunden. Diese Therapie wird vor allem bei der arteriellen Gasembolie eingesetzt sowie der Dekompressionskrankheit, aber auch auf dem Gebiet der Wundheilung und einigen das Innenohr betreffenden Indikationen.

Die X wurde bereits im November 1994 von dem Rechtsvorgänger des Beklagten, dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen, in die Anlage II der Richtlinien über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB-Ri) unter Ziffer 16 eingeordnet. In dieser Anlage waren die Methoden aufgelistet, die vom Bundesausschuss unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse nicht für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der gesetzlich Krankenversicherten anerkannt waren. Gleichwohl sahen sich die gesetzlichen Krankenkassen einer Vielzahl von Leistungsanträgen ausgesetzt, zumal sich eine Reihe von Leistungserbringern etabliert hatte. Sie hielten den Ausschluss der X nicht mehr für sachgerecht. Wegen der Diskussion um die Methode beantragte die Kassenärztliche Bundesvereinigung im April 1998, sich mit der X erneut zu befassen. Schon zu Beginn des Vorjahres war beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung die Projektgruppe P 17 "Hyperbare Sauerstofftherapie" eingerichtet. Sie erstattete im April 1999 ein Gutachten, in dem die Wirksamkeit der X u. a. bei akuter Hörminderung mit oder ohne Tinnitus sowie bei Knalltrauma nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin erörtert wurde. Zuvor waren ausgesuchte Indikationen, darunter diese eben genannten, in einen Monographie von Welslau u. a. unter dem Titel "Hyperbare Sauerstofftherapie" wissenschaftlich bewertet worden (1. Auflage, Göttingen, 1998).

Im April 2000 kam der Bundesausschuss erneut zu dem Ergebnis, die X nicht in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufzunehmen. Zwischenzeitlich hatte er die Richtlinien als solche über die Bewertung ärztlicher Untersuchungs- und Behandlungsmethoden gemäß § 135 Abs. 1 SGB V (BUB-Richtlinien) neu bearbeitet. Dort ist die X unter der Anlage B Ziffer 16 aufgeführt "Methoden, die nicht als vertragsärztliche Leistungen zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden dürfen". Dagegen richtet sich die Klage vom 15.08.2000.

Mit Beschluss vom 23.03.2004 hat die Kammer den Rechtsstreit im Hinblick auf die ver-schiedenen Indikationsgebiete getrennt; der vorliegende Rechtsstreit betrifft seitdem nur noch die Indikationsgebiete "akutes Knalltrauma, akuter Hörsturz mit/ohne Tinnitus".

Zwischenzeitlich ist durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG) vom 14.11.2003 mit Wirkung vom 01.01.2004 der Gemeinsame Bundesausschuss eingerichtet. Er hat die Rechtsnachfolge des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen angetreten. Mit Beschluss vom 17.01.2006 hat er die BUB-Richtlinien in die Richtlinie zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung (Richtlinie "Methoden vertragsärztliche Versorgung") überführt. Die Anlage B der (früheren) BUB-Richtlinien wurde zur Anlage II der Richtlinie "Methoden vertragsärztliche Versorgung".

Die Kläger sehen sich einerseits in ihren durch Artikel 12 und 14 des Grundgesetzes (GG) geschützten Rechten beeinträchtigt und tragen vor, der Beklagte habe im Zusammenhang mit der Bewertung der X nicht entsprechend der gesetzlichen Vorgaben nach § 135 Abs. 1 i. V. m. § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 Buch V des Sozialgesetzbuches (SGB V) gehandelt; so habe er nicht berücksichtigt, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse "in der jeweiligen Therapierichtung" heranzuziehen seien; des Weiteren sei nicht erkennbar, auf welche Indikationen sich der Ausschluss beziehe; er müsse vollständig aufgehoben werden, soweit Teile desselben rechtswidrig seien; darüber hinaus seien die Anforderungen zu eng, die an den Nutzennachweis gestellt würden, der Beklagte lege seiner Beurteilung ein falsches Verständnis der evidenzbasierten Medizin zugrunde; so sei fraglich, ob eine verblindete radomisierte Studie überhaupt möglich sei; jedenfalls würden die vorhandenen Erhebungen, die von namenhaften Wissenschaftlern durchgeführt seien, die Wirksamkeit der X gerade auch beim Knalltrauma und beim Hörsturz mit/ohne Tinnitus belegen.

Im Hinblick auf dieses Vorbringen hat die Kammer mit Beschluss vom 24.05.2005 den Direktor der Klinik für Anästhesiologie des Universitätsklinikums – Medizinische Fakultät der X – zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt. In seinem Gutachten vom 31.10.2005 kommt er zu dem Ergebnis, bei dem Knalltrauma sei die X erforderlich, weil nach Ausschöpfen der Alternativen ein erheblicher Prozentsatz an Patienten ungeheilt oder mit Restsymptomen bleibe; nach den vorliegenden prospektiven randomisierten Untersuchungen und retrospektiven Fallauswertungen seien die Behandlungsergebnisse unter Einschluss der X deutlich besser; auch dürfte die Therapie bei dem erfolglos vorbehandelten Hörsturz mit oder ohne Tinnitus nicht aus der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeklammert werden; auch in diesem Indikationsbereich sei sie effektiv, zweckmäßig und wirtschaftlich.

Dem hat der Beklagte entgegengehalten, der Sachverständige habe in erheblichem Um-fang vorliegendes Material schlicht kopiert und die Ergebnisse weiterer, neuerer Studien unkritisch übernommen; deshalb bezweifelt der Beklagte, ob der Gutachter sich ein eigenes Bild von den Wirksamkeitsbelegen zur X gemacht habe.

Im Hinblick auf dieses Vorbringen hat die Kammer den leitenden Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde des Klinikums der Universität Köln, Prof. Dr. Dr. med. X zum weiteren Sachverständigen ernannt und ihn in der mündlichen Verhandlung vom 18.10.2006 zur Anerkennung der X bei akutem Knalltrauma sowie Gehörsturz mit/ohne Tinnitus gehört. Er kommt zu dem Ergebnis, dass beide Er-krankungen wesentlich mit den gleichen Methoden als Standard behandelt werden; Nachweise der Wirksamkeit nach den strengen evidenzbasierten Kriterien gebe es weder bei der etablierten Therapie mit durchblutungssteigernden Tabletten oder Kortison, teilweise auch der Infusionstherapie, noch bezüglich der X; die erstgenannten Behand-lungen würden deshalb angewandt, weil sie aufgrund ihrer langen Anwendung als eingeführt gelten würden, für die X gelte das aber gerade nicht.

Die Kläger machen sich das Gutachten des Prof. Dr. X zu eigen und beantragen, den Beklagten zu verurteilen, die Hyperbare Sauerstofftherapie zur Aufnahme in die Anlage I der "Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zu Untersuchungs- und Behandlungsmethoden der vertragsärztlichen Versorgung (Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung)" bzgl. der Indikation Akutes Knalltrauma und Hörsturz mit/ohne Tinnitus erneut zu beraten und zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Er stützt sich auf das Gutachten des Prof. Dr. Dr. X.

Die übrigen Beteiligten haben sich nicht geäußert. Auch im Termin zur mündlichen Ver-handlung, zu dem sie unter Hinweis darauf geladen waren, dass auch im Falle des Aus-bleibens eines Bevollmächtigten oder Vertreters Beweis erhoben, verhandelt und ent-schieden werden könne, ist für sie niemand aufgetreten.

Entscheidungsgründe:

Obgleich im Termin zur mündlichen Verhandlung für die Beigeladenen niemand aufgetreten war, konnte die Kammer den Sachverständigen hören, verhandeln und entscheiden. Alle Beteiligten waren in der Ladung über diese Möglichkeit unterrichtet. Sie ergibt sich aus der in den §§ 124 Abs. 1, 126, 127 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) getroffenen Regelung.

Die Klage ist zulässig.

Zwar wenden sich die Kläger gegen den Beklagten als normsetzendes Organ (vgl. dazu Engelmann, Die Kontrolle medizinischer Standards durch die Sozialgerichtsbarkeit, in: MedR 2006, 245, 248). Auch wenn dem SGG ein gesondertes Normenkontrollverfahren fremd ist, gebietet es doch der durch Artikel 19 GG geschützte Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, gegen untergesetzliche Rechtsnormen vorgehen zu können, wenn ein Rechtsträger von der untergesetzlichen Rechtsnorm gegenwärtig und unmittelbar in seinem Recht betroffen ist (vgl. BSG, Urteil vom 28.04.1999 – B 6 KA 52/98 R – in: USK 99 114). Diese Voraussetzung ist erfüllt, weil die oben geschilderte Einordnung der X in die BUB-Richtlinien durch den Rechtsvorgänger des Beklagten und deren Verbleib in der Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung den Klägern verwehrt, jene von ihnen angebotenen Leistungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu erbringen. Allerdings geht es den Klägern nicht darum, eine allgemeine Anerkennung der X zu erreichen, sondern vielmehr darum, für bestimmte Indikationsgebiete eine Ei-nordnung in die Anlage I "Anerkannte Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden" zu erreichen. Für diesen Fall hat die Kammer (Urteil vom 06.10.1997 – S 19 Kr 138/85) die Normenerlassklage als zulässig angesehen. Mit ihrem Antrag verfolgen die Kläger dieses Ziel mit einem milderen Mittel, indem sie den Beklagten zu einer neuen Entscheidung veranlasst sehen wollen.

Die Klage ist jedoch nicht begründet. Die Kläger können keine neue Entscheidung des Beklagten verlangen. Seine bisherige Einordnung der X unter jene Methoden, die nicht als vertragsärztliche Leistungen zu Lasten der Krankenkasse erbracht werden dürfen, ist nicht zu beanstanden.

Zunächst ist zu berücksichtigen, dass das Gesetz dem Beklagten eine ihm eigene recht-ersetzende Aufgabe zuweist. Der staatlich-demokratische Gesetzgeber hat durch ein Netz gesetzlicher Bestimmungen zwar die wesentlichen Entscheidungen dazu getroffen, welche Leistungen in der GKV nach welchen Maßstäben bei Eintritt des Versicherungsfalles zu erbringen sind. § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V beauftragt den Beklagten, über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zu beschließen. Es dürfen nach § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V nur solche Methoden in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden, die der Beklagte positiv bewertet hat. Diese Bewertung bezieht sich auf die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit – auch im Vergleich zu bereits zu Lasten der Krankenkasse erbrachten Methoden – nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse der jeweiligen Therapierichtung. Die Versorgungsbedürfnisse innerhalb des umfassenden gesetzlichen Kranken-versicherungsschutzes ändern sich nämlich mit der Weiterentwicklung medizinischer Behandlungsmethoden und Erkenntnisse. Dies erfordert eine flexible Rechtskonkretisierung, die der gemeinsamen Selbstverwaltung übertragen ist. Zur sachgerechten Lösung dieser Aufgabe nutzt das Gesetz die körperschaftlich aggregierten Interessen mit den jeweils spezifischen Verantwortungszusammenhängen und dem besonderen Sachverstand der an der Krankenversicherung Beteiligten. Alle daraus resultierenden Kräfte spannt das Gesetz im Beklagten ein und optimiert es, indem es ihn dem jeweiligen Bewertungsgegenstand entsprechend unterschiedlich zusammensetzt (vgl. Hase "Verfassungsrechtliche Bewertung der Normsetzung durch den GBA" in: MedR 2005, 391, 393).

Bei der gerichtlichen Prüfung, ob das Verwaltungshandeln des Beklagten rechtmäßig ist, hat die Kammer zu berücksichtigen, dass dem Beklagten die Bewertung eines Leistungsgeschehens übertragen ist. Zwar bestimmt § 135 Abs. 1 SGB V, das der Beklagte "Empfehlungen" abzugeben hat, die nach dem "jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse" ausgerichtet sein muss. Aus dem Gesamtzusammenhang ergibt sich aber, dass die Entscheidung des Beklagten auf seinen Wertungen beruht. Von solchen Werten ist nach Auffassung der Kammer bereits die Feststellung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse abhängig (anders Hase, a.a.O. Seite 396 m.w.N.). Denn ob ein therapeutisches Regime im Sinne allgemeiner Anerkennung bereits medizinischer Standard ist, kann im Grenzbereich mit gleich gewichtigen Gründen bejaht oder abgelehnt werden. Darüber hinaus aber beschreibt der Gesetzgeber selbst in der Überschrift des § 135 SGB V die Tätigkeit des Klägers als "Bewertung" von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Dies drückt aus, dass die Überprüfung einer Methode im Hinblick auf ihre Erforderlichkeit ein von wissenschaftlichen Wertungen bestimmter Vorgang ist, der eine eigenständige Wirksamkeitsbeurteilung voraussetzt. Damit korrespondiert, dass mit der gesetzlichen Ermächtigung zur Normsetzung ein Gestaltungs- und Beurteilungsraum zugewiesen ist. Der Beklagte hat also einen eigenen, gerichtlich nur eingeschränkt kontrollierbaren Wertungs- und Entscheidungsbereich (BSG, Urteil vom 16.09.1987 – 1 RK 32/95 – in: USK 97 108). Auch die Kammer sieht sich nur berechtigt zu prüfen, ob der Beklagte den Sachverhalt zutreffend und vollständig ermittelt, die Grenzen seiner Beurteilungsermächtigung eingehalten und keine falschen Wertmaßstäbe zugrundegelegt hat (vgl. dazu schon OVG Berlin, Beschluss vom 28.01.1987 – OVG 5 S 1.87 – in: VUR 1987, 333 ff). Vergleichbare Grundsätze hat auch das Bundessozialgericht für das Überprüfen einer Bewertung aufgestellt mit den Fragen, ob der Ausschluss alle verfügbaren Beurteilungsgrundlagen ausgeschöpft hat, keine Differenzierungen eingeführt hat, die auf eine Korrektur der gesetzgeberischen Entscheidungen hinauslaufen und keine sachfremden Erwägungen in seine abwägende Entscheidung eingeflossen sind. Zusätzlich fordert diese Rechtsprechung, dass die Entscheidung in einem rechtsstaatlichen Verfahren formal und ordnungsgemäß zustande gekommen ist (BSG, Urteil von 16.09.1997 – 1 RK 32/95 – in: USK 97 108). Unter Berücksichtigung dieser Kontrollmaßstäbe ist es nicht defizitär, wenn der Beklagte an seiner früheren Einordnung der X festhält.

Allerdings ist der Beklagte nicht aus formalen Gründen gehindert, sich mit der X (erneut) zu befassen. Für die Bewertung von neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ergibt sich aus der schon erwähnten Vorschrift des § 135 SGB V, welche Pflichten das Gesetz dem Beklagten auferlegt. Danach dürfen solche Methoden zu Lasten der Kran-kenkasse nur erbracht werden, wenn der gemeinsame Bundesausschuss auf Antrag einer kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer kassenärztlichen Vereinigung oder eines Spitzenverbandes der Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SGB V Empfehlungen abgegeben hat, u. a. über die Anerkennung des therapeutischen Nutzens der neuen Methode. Der Beklagte muss also tätig werden, wenn eine dazu berechtigte Körperschaft oder ein berechtigter Verband dies beantragt. Dass ein solcher Antrag vorliegt, ist allerdings weder von den Beigeladenen noch den Klägern behauptet worden. Nach Auffassung der Kammer erschöpft sich mit diesem Initiativrecht jedoch die Pflicht des Beklagten zur Beratung nicht. Im Hinblick darauf, dass die Leistungskonkretisierung der Ansprüche gesetzlich Krankenversicherter der gemeinsamen Selbstverwaltung übertragen ist (vgl. dazu oben), in deren Rahmen der Beklagte tätig wird, hat er auch dafür zu sorgen, dass es nicht zu einem Systemversagen kommt und ausnahmsweise ein Kostenerstattungsanspruch des Versicherten nach § 13 Abs. 3 SGB V ausgelöst wird (vgl. dazu BSG Urteil vom 16.09.1997 – 1 RK 28/95 – in: USK 97 106). Dieser Ausnahmeanspruch setzt voraus, dass der Bundesausschuss über die Anerkennung einer neuen Methode "ohne sachlichen Grund" nicht oder nicht zeitgerecht entschieden hat. Daran hat die Rechtsprechung bis in die jüngste Zeit festgehalten (vgl. BSG, Urteil vom 09.11.2006 – B 10 KR 3/06 B -). Daraus leitet die Kammer eine Pflicht des Beklagten zur Prüfung nach § 135 SGB V schon dann ab, wenn er sich aufgrund neuerer Erkenntnisse zu einer Überprüfung seiner früheren, negativen Entscheidung gedrängt fühlen muss. Einen solchen Grund konnte die Kammer nicht erkennen.

Zunächst können die Kläger nicht mit ihrem Einwand durchdringen, der Beklagte habe die X nach der Binnenanerkennung einer besonderen Therapierichtung ausrichten müssen. Zwar sind diese besonderen Therapierichtungen in § 2 Abs. 1 Satz 3 und § 135 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V erwähnt, jedoch (nur) als Oberbegriff, ihr näherer Inhalt ist dort nicht beschrieben. In § 34 Abs. 2 Satz 3 SGB V führt jedoch der Gesetzgeber auf, welche The-rapierichtungen er meint, nämlich Homöopathie, Phytotherapie und Anthroposophie. Dieser (beispielhaften) Aufzählung im Zusammenhang mit dem Begriff Therapierichtungen entnimmt die Kammer, dass damit nur Therapiegesamtkonzepte gemeint sein können, die sich von der auf naturwissenschaftlichen Grundlagen beruhenden Schulmedizin dadurch abgrenzen, dass sie sich aus einem weltanschaulichen Denkansatz ableiten (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 30.08.2006 – L 5 KR 25/06 -). Einzelne Methoden innerhalb des jeweiligen Konzeptes können nicht gemeint sein. So liegt dem Konzept der medizinischen Anthroposophie eine Ätiologie mit einem abgeschlossenen Weltbild zugrunde, das sich der Ganzheitsmedizin annähert. Die hydrotherapeutische Medizin setzt dagegen auf pflanzliche Heilkräfte, die unmittelbar auf die Krankheitserreger wirken. Die Homöopathie schließlich beruht auf den Einsatz von Substanzen, die bei dem Gesunden Symptome hervorrufen, die denen der Krankheit ähneln. Durch entsprechende Verdünnung dieses Wirkstoffs soll der natürliche Abwehrmechanismus angeregt werden, um so die zu heilende Krankheit zu bekämpfen. Innerhalb dieser sehr unterschiedlichen Konzepte können – wie bei der Misteltherapie – dieselben Wirkstoffe eingesetzt werden, wenn auch in unterschiedlichen Zubereitungen. Dass aber die X auf einem ganzheitlichen Konzept beruht ist weder von den Klägern vorgetragen noch sonst erkennbar. Eine auf bestimmte Krankheiten bezogene Behandlungsform aber kann sich jedenfalls dann nicht berühmen, eine Therapierichtung zu sein, wenn sie sich von der schulmedizinischen Therapie nur durch einen (behaupteten) indikationsbezogenen besseren Heilerfolg unterscheidet, ohne sich in einen Gegensatz zu den wesentlichen Grundaussagen der Schulmedizin zu setzen (vgl. BSG, Urteil vom 04.04.2006 – B 1 KR 12/05 R – in: USK 2006 – 18, Seite 100).

Ebenso wenig ist zu beanstanden, dass der Beklagte die früheren Beratungen bezüglich der X bei den Indikationen Hörsturz mit/ohne Tinnitus und akutes Knalltrauma nicht wieder aufnimmt. Dieses leitet die Kammer aus der Beweisaufnahme ab.

Bezüglich des Indikationsgebietes "akutes Knalltrauma" kommt Prof. X zwar zu dem Er-gebnis, die X sei erforderlich, weil nach Ausschöpfen der zuvor aufgeführten alternativen Infusionsbehandlung ein erheblicher Prozentsatz an Patienten ungeheilt oder mit Rest-symptomen bleibe und nach prospektiven randomisierten Untersuchungen und retrospektiven Fallauswertungen die Behandlungsergebnisse unter Einfluss der X deutlich besser seien. Für diese Beurteilung hat er sich auf Studien gestützt, die in den Jahren 1084 bis 1995 entstanden sind. Zum einen waren sie aber dem Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen für seine Beratungen bekannt; er hatte die Literatur bis einschließlich 1999 ausgewertet. Insofern sah die Kammer keinen Anlass für den Beklagten, erneut in die Bewertung dieser Studien einzutreten. Zum anderen hat Prof. X die Studien nicht im Hinblick auf ihre Aussagekraft nachvollziehbar bewertet. Dazu wiederum bekundete Prof. Dr. med. X, das die Übersichtsarbeit von Prof. Lamm aus dem Jahre 1995 eine Arbeit ist, die allein schon wegen der fehlenden Diagnosen nicht weiter bewertet werden sollte. Wenn darüber hinaus Prof. Dr. X in seinem mündlichen Gutachten bezüglich der verbleibenden 6 Studien ausführt, dass die methodisch unzureichend sind, so bestätigt er die Bewertung des Rechtsvorgängers des Beklagten, dass sie keine hinreichende Grundlage für eine positive Bewertung der X in dem Indikationsgebiet akutes Knalltrauma sein können. Schließlich aber sind die Darlegungen des Prof. Dr. X weitgehend unbrauchbar, weil sein Gutachten eine eigene Evidenzbewertung kaum erkennen lässt. So hat er wahrscheinlich ganze Datensätze aus der Bewertung der hyperbaren Sauerstofftherapie von Welslau u. a. gescannt. Anders ist nicht zu erklären, dass sich Druckfehler aus dem Buch in dem Gutachten wiederfinden ("Pathomechnanismen" von Seite 124 der Vorlage auf Seite 175 des Gutachtens; "Überdruckmedizin" von Seite 137 Ziffer 14 der Vorlage auf Seite 182 Ziffer 41 des Gutachtens). Auch stimmt der letzte Absatz des Gutachtens von Seite 171 bis zum Ende des dritten Absatzes der folgenden Seite wörtlich einschließlich der Druckweise mit Seite 121, 122 der Arbeit von Welslau überein; das Gleiche gilt für den letzten Absatz der Seite 173 bis Ende des ersten Absatzes auf Seite 176 f. des Gutachtens Prof. Dr. X mit Blatt 126 f. der Welslau-Ausgabe. Die Tabelle schließlich, mit der Prof. X eine Besserung des Tinnitus und der X nach Knalltrauma aufzeigt, ist sowohl nach Form als auch nach Inhalt von Seite 133 des genannten Werkes übernommen. Darüber hinaus hat auch der Beklagte nachgewiesen, dass in dem Gutachten vom 31.10.2005 hinsichtlich der Studi-enbewertung auf die Bewertung aus dem Buch von Welslau u. a. zurückgegriffen wurde, und hat die Übernahme ganzer Datensätze der Seiten 129 bis 131 nachgewiesen (ent-sprechende Gutachtenseiten 183 bis 191). Insofern sieht die Kammer keine Anlass an der Bewertung des Prof. Dr. X zu zweifeln, dass es für die Wirksamkeit der X bei der Indikation Knalltrauma keine soliden Daten gibt. Daraus folgt, dass die Bewertung des Beklagten nicht zu beanstanden ist, soweit er die X für dieses Indikationsgebiet in Anlage II der genannten Richtlinie lässt, ohne die Therapie neu zu beraten.

Bezüglich der Indikation "Hörsturz mit/ohne Tinnitus" hat Prof. Dr. X zwar ebenfalls die Anwendung der X bei erfolgloser Vorbehandlung als effektiv, zweckmäßig und wirt-schaftlich beschrieben und daraus geschlossen, dass sie nicht aus der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeklammert werden dürfe. Auch dieser Beurteilung vermochte die Kammer nicht zu folgen. Zum Einen weist Prof. Dr. X bereits darauf hin, dass die Ausführungen des Vorgutachters insoweit nicht zutreffen, als beim Knalltrauma wie auch beim akuten Hörsturz ähnliche pathophysiologische Veränderungen in der Hörschnecke im Innenohr gesehen werden können. Wenn Prof. X ausdrücklich bekundet, dass derar-tige Erkenntnisse nicht vorliegen, so hat die Kammer ihm im Hinblick auf seine Speziali-sierung als Facharzt für Hals-, Nasen-, Ohrenkrankheiten eine nährere Sachkunde zugebilligt. Darüber hinaus hat Prof. Dr. X darlegen können, dass die Abschlussbewer-tung von Prof. Dr. X nicht haltbar ist. Zwar ist dieser Teil des Gutachtens nicht so engma-schig plagiiert wie die Bearbeitung des Indikationsgebietes Knalltrauma. Auch hat Prof. Dr. X eine maßgebliche Studie erwähnt, die nach 1999 herausgegeben wurde. Es ist dies die Studie "Hyperbaric oxygene für idiopathic sudden sendorial neuronal hearing loss and tinnitus". Sie ist ein Review von Benneth u. a. der Cochrane Collaboration aus Australien. Nach Angaben des Prof. X arbeitet dieses Institut streng nach evidenzbasierten Richtlinien. So haben Benneth und seine Mitautoren bis auf 5 Studien alle bis 2005 veröffentlichten Studien für eine metaanalytische Betrachtung im Hinblick auf deren methodische Mängel abgelehnt. Wie von Prof. Dr. X ausgeführt, haben von diesen verbleibenden Studien die genannten Autoren lediglich jene von Cavalazzi und Fattori bezüglich des Hörerfolges ausgewertet. Bei Cavalazzi aber wurde weder eine Randomisierung noch eine Verblindung durchgeführt. Schließlich – und dies war für den Sachverständigen der wesentliche Grund, sie nicht als aussagekräftig anzusehen – waren die Einschlusskriterien und die sogenannten "Drop outs" nicht beschrieben. Es ist schlüssig, dass – so Prof. Dr. X – die Aussagekraft nicht bewertet werden kann, wenn nicht festgelegt ist, nach welchen Kriterien die Probanden ausgewählt sind und aus welchen Gründen und wie viele der Probanden vor Abschluss der Studie ausgefallen sind. Bezüglich der Studie von Fattori bemängelten Benneth u. a., das nicht dokumentiert ist, wo die Hörschwelle vor und nach der Behandlung lag. Insofern vermochte auch Prof. Dr. X den funktionellen Hörgewinn nicht zu ermitteln. Auf all diese Probleme jedoch ist Prof. Dr. X nicht eingegangen. Deshalb ist seine positive Bewertung nicht nachvollziehbar. Bei so bewandten Umständen sieht auch für dieses Indikationsgebiet die Kammer keinen Anlass für den Beklagten, die Einordnung des X in dem Indikationsgebiet Hörsturz neu zu er-örtern.

Richtig allerdings ist der Hinweis der Kläger, dass die allgemein anerkannten Therapien, nämlich die orale Medikation mit Kortikosteroiden, die Gabe durchblutungsfördernder Medikamente sowie die Infusionstherapie mit einem Hämodilutionsmedikament bezüglich ihres Heilerfolges ebenfalls nicht evidenzbasiert sind. Selbst wenn diese Methoden sich bezüglich des Heilerfolgs nicht zuverlässig bewährt haben, sondern vielfach nur eingesetzt werden, damit überhaupt etwas geschieht, so ist dieses kein Grund, die neue Methode der X ihnen hin zuzustellen. Prof. Dr. X hat dargelegt, dass alle Behandlungen sowohl des Knalltraumas als auch des Hörsturzes zwischenzeitlich ambulant durchgeführt werden. Demgegenüber ist die Sauerstofftherapie in einer Überdruckkabine bei weitem teurer. Zwar hat Prof. Dr. X sie als gegenüber der herkömmlichen Therapie für wirtschaftlicher gehalten. Allerdings ging er von der früher üblichen stationären Aufnahme der Patienten aus, die mit einer Infusionstherapie behandelt wurden. Dies ist aber nach den Bekundungen des Prof. Dr. X überholt; die oben genannten Therapien der Medikation und Infusion werden heute ambulant erbracht.

Unter welchen Bedingungen aber insbesondere die Infusionstherapie durchgeführt werden muss, kann wiederum Prof. Dr. X aufgrund seiner näheren Fachkunde besser beurteilen. Muss sich aber die aufwändige X mit den schulmedizinischen ambulanten Methoden vergleichen lassen, liegt es auf der flachen Hand, dass der Beklagte nicht einmal beraten muss, ob preiswerteren ambulanten Methoden mit ungewisser Heilkraft eine Teurere hinzuzufügen ist, die jedenfalls bezüglich ihrer Effektivität nicht gesicherter ist.

Widerspricht aber die nähere Ausgestaltung des Leistungsrechts in der GKV – eben auch durch den Beklagten – nicht der Verfassung (BSG, Urteil vom 16.09.1997 – 1 RK 3/95 – in: SozR 3-2500 § 135 Nr. 5; vgl. auch BverfG, Urteile vom 17.12.2002, u. a. 1 BvL 22/95 in: SozR 3-2500 § 35 Nr. 2), und hat der Beklagte die ihm gesetzlich auferlegten Pflichten ohne Gesetzesverstoß erfüllt, können die Kläger nicht in ihren Rechten verletzt sein, wie sie durch die Artikel 12, 14 GG geschützt sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 a. F. SGG.
Rechtskraft
Aus
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