L 12 AL 99/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 10 AL 2041/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AL 99/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 26. Oktober 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die teilweise Aufhebung der Bewilligung und Rückforderung von Arbeitslosengeld in Höhe von 3.627,36 Euro wegen Änderung der Lohnsteuerklasse des Klägers.

Der 1967 geborene Kläger, der nach seinen Angaben im Alter von 13 Jahren aus der Türkei in die Bundesrepublik Deutschland zugezogen ist, war bis 25. Februar 2009 als Monteur versicherungspflichtig beschäftigt. Er meldete sich am 23. Februar 2009 mit Wirkung zum 26. Februar 2009 arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld. Er gab dabei zutreffend an, verheiratet, in Lohnsteuerklasse Drei zu sein und Kinder zu haben. Er erhielt das Merkblatt 1 für Arbeitslose mit dem Stand März 2008. Mit seiner Unterschrift bestätigte er, dieses erhalten und zur Kenntnis genommen zu haben. Änderungen werde er unverzüglich anzeigen.

Die Beklagte stellte den Eintritt einer Sperrzeit in der Zeit vom 26. Februar bis 20. Mai 2009 fest und bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 23. März 2009 Arbeitslosengeld für die Zeit ab 21. Mai 2009 in Höhe von 43,17 Euro täglich. Der Bescheid enthielt den Hinweis: "Wichtig für Sie: Nehmen Sie bitte stets vor einem Steuerklassenwechsel mit Ihrer Agentur für Arbeit Kontakt auf, damit Ihnen keine finanziellen Nachteile entstehen. Wir beraten Sie gerne." Aufgrund Änderungen des Einkommensteuergesetzes erhöhte die Beklagte die Bewilligung mit Änderungsbescheid vom 30. Mai 2009 auf einen Leistungsbetrag von 43,52 Euro täglich. Aufgrund Erzielung eines Nebeneinkommens hob die Beklagte mit Bescheiden vom 9. Februar 2010 und 16. März 2010 die Bewilligung von Arbeitslosengeld für die Zeit vom 1. bis 31. Dezember 2009 und vom 1. bis 31. Januar 2010 in Höhe von jeweils 35,10 Euro teilweise auf und setzte den täglichen Leistungsbetrag für die beiden Monate jeweils auf 42,35 Euro herab.

Nach Ende des Arbeitslosengeldbezugs beantragte der Kläger Arbeitslosengeld II. Der Grundsicherungsträger wies die Beklagte am 2. März 2010 darauf hin, dass ausweislich der dort vorgelegten Unterlagen der Kläger Arbeitslosengeld nach der Lohnsteuerklasse Drei bezogen habe, obwohl in der Lohnsteuerkarte seiner Ehefrau ebenfalls die Lohnsteuerklasse Drei eingetragen sei. Mit Schreiben vom 2. März 2010 fragte die Beklagte beim Kläger nach, seit wann er die Steuerklasse Fünf habe und forderte ihn zur Vorlage der Lohnsteuerkarte 2009 bzw. einer Kopie deren Vorderseite auf. Mit Schreiben vom 16. März 2010 hörte die Beklagte den Kläger dazu an, dass er Arbeitslosengeld vom 1. Juli 2009 bis 19. Februar 2010 in Höhe von 3627,36 Euro zu Unrecht bezogen haben könnte. Er habe die Lohnsteuerklasse ändern lassen, wodurch sich ab dem Datum der Änderung ein niedrigerer Leistungsanspruch ergebe. Nach den vorliegenden Unterlagen habe er die Überzahlung verursacht, indem er den Wechsel trotz der Hinweise im erhaltenen Merkblatt nicht mitgeteilt habe. Daher sei beabsichtigt, die Leistungsbewilligung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X vom 1. Juli 2009 bis 19. Februar 2010 teilweise in Höhe von 15,84 Euro täglich aufzuheben. Der Kläger teilte hierzu mit, es sei ihm nicht bewusst gewesen, dass er die Änderung der Lohnsteuerklasse hätte mitteilen müssen. Da er nun Arbeitslosengeld II beziehe, könne er die Überzahlung nur in Raten zurück zahlen.

Mit Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 7. April 2010 hob die Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosengeld für die Zeit vom 1. Juli 2009 bis 19. Februar 2010 in Höhe von 3.627,36 Euro auf. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Zur Begründung verwies er auf verfassungsrechtliche Zweifel an der Regelung des § 137 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SGB III a.F. unter Bezugnahme auf das Urteil des BSG vom 1. April 2004 - B 7 AL 52/03 R -. Er bezweifle, dass die Beklagte ausreichende Maßnahmen im Verwaltungsvollzug getroffen habe, um die verfassungsrechtlichen Bedenken auszuräumen. Es handle sich um geradezu um eine juristische Falle, in die man ihn laufen lasse.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2010 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Gemäß § 133 Abs. 2 SGB III sei die Höhe der Leistung von der eingetragenen Lohnsteuerklasse abhängig. Dabei sei die Lohnsteuerklasse maßgeblich, die auf der Lohnsteuerkarte zu Beginn des Jahres eingetragen sei, in dem der Anspruch entstanden sei. Spätere Änderungen der Lohnsteuerklasse würden mit Wirkung des Tages berücksichtigt, an dem erstmals die Voraussetzungen für die Änderung vorliegen. Das Gleiche gelte, wenn auf der für spätere Kalenderjahre ausgestellte Lohnsteuerkarten eine andere Lohnsteuerklasse eingetragen werde. Hätten Ehegatten die Lohnsteuerklassen gewechselt, würden die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen von dem Tag an berücksichtigt, an dem sie wirksam würden, wenn die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen dem Verhältnis der monatlichen Arbeitsentgelte beider Ehegatten entsprächen oder sich aufgrund der neu eingetragenen Lohnsteuerklassen ein Arbeitslosengeld ergebe, das geringer sei, als das Arbeitslosengeld, das sich ohne den Wechsel der Lohnsteuerklassen ergebe. Der Leistungsanspruch sei am 21. Mai 2009 entstanden. Zu Beginn dieses Jahres sei auf der Lohnsteuerkarte des Klägers die Lohnsteuerklasse Drei eingetragen gewesen. Die Lohnsteuerklasse sei mit Wirkung vom 1. Juli 2009 geändert worden. Ab diesem Zeitpunkt habe der Kläger die Lohnsteuerklasse Fünf. Dies führe zu einer geringeren Leistung. Deshalb sei die Lohnsteuerklasse Fünf zugrunde zu legen. § 48 Abs. 2 SGB X bestimme, dass die Leistungsbewilligung ab Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden solle, wenn der Betroffene seiner Mitteilungspflicht nach § 60 Abs. 1 SGB I vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen sei oder bei Beachtung seiner Sorgfaltspflicht zumindest hätte wissen müssen, dass der Leistungsanspruch ganz oder teilweise weggefallen sei. Der Kläger hätte bei Beachtung seiner Sorgfaltspflicht zumindest wissen müssen, dass der Leistungsanspruch ganz oder teilweise weggefallen sei, § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X. In diesen Fällen müsse der Bewilligungsbescheid gemäß § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III ab Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden. Der Kläger habe eine Veränderung in seinen tatsächlichen Verhältnissen nicht mitgeteilt, er sei jedoch nach § 60 Abs. 1 SGB I zur unverzüglichen Mitteilung verpflichtet. Im Hinblick auf die Ausführungen im Merkblatt und den Hinweisen im Bewilligungsbescheid habe der Kläger wissen müssen oder hätte es zumindest leicht erkennen können, dass ihm Leistungen nicht der bisher zugrunde gelegten Lohnsteuerklasse nicht zugestanden hätten. Ferner enthielten sowohl das Merkblatt für Arbeitslose als auch der Bewilligungsbescheid Hinweise auf die Notwendigkeit einer vorherigen Beratung durch die Agentur für Arbeit. Es liege somit grobe Fahrlässigkeit vor, weil der Kläger die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt habe. Deshalb habe die Entscheidung vom 23. März 2009 über die Bewilligung von Arbeitslosengeld vom 1. Juli 2009 bis 19. Februar 2010 teilweise aufgehoben werden müssen. Nach §50 SGB X seien die bereits gezahlten Leistungen in Höhe von 3.627,36 Euro zu erstatten.

Am 21. Juni 2010 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben. Zur Begründung hat er sein Widerspruchsvorbringen in Bezug genommen und vertieft. Das Merkblatt für Arbeitslose sei eine 94seitige in Kleinschrift ausgeführte Broschüre. Sinnvoll direkte Vorbeugemaßnahmen für den Fall des Lohnsteuerklassenwechsels wie z.B. den Einzug der Lohnsteuerkarte während des Bezugs von Arbeitslosengelds seien nicht erfolgt.

Die Beklagte ist dem entgegen getreten. Der Verweis auf die Entscheidung des BSG vom 1. April 2004 führe zu keinem anderen Ergebnis. Zwar äußere das BSG darin verfassungsmäßige Zweifel an der Regelung des § 137 SGB III a.F ... Nach den Ausführungen des BSG könne sie diesen Zweifeln aber durch den Verwaltungsvollzug begegnen, indem Betroffene besonders auf die Gefahren eines Steuerklassenwechsels hingewiesen und vor einem solchen ohne vorherige Beratung durch die Beklagte gewarnt würden. Aus dem Merkblatt für Arbeitslose, dessen Erhalt und Kenntnisnahme der Kläger im Antrag mit seiner Unterschrift bestätigt habe, würden sich an mehreren Stellen eindeutige und unmissverständliche Hinweise zur Abhängigkeit der Leistungshöhe von der gewählten Steuerklasse und zur Gefahr, die ein Steuerklassenwechsel mit sich bringen könne, finden. Es werde zudem ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine Beratung vor dem Steuerklassenwechsel erforderlich sei. Damit sei die Beklagte ihren Hinweis- und Beratungspflichten vollständig nachgekommen. Hierzu hat die Beklagte Auszüge aus dem Merkblatt für Arbeitslose mit dem Stand März 2008 vorgelegt und auf Seiten 6, 32 und 33 verwiesen. Der Kläger habe dieses Beratungsangebot nicht wahrgenommen, was nach der genannten Entscheidung des BSG zu seinen Lasten gehe.

Mit Urteil vom 26. Oktober 2011, dem Kläger zugestellt am 8. Dezember 2010, hat das SG die Klage als unbegründet abgewiesen. Hierzu hat es auf die im angefochtenen Bescheid und Widerspruchsbescheid dargelegten Gründe Bezug genommen und ist diesen in vollem Umfang gefolgt. Ergänzend hat es unter teilweiser Wiedergabe der Entscheidung ausgeführt, der Hinweis des Klägers auf die Entscheidung des BSG vom 1. April 2004 - B 7 AL 52/03 R - führe zu keinem anderen Ergebnis. Die Merkblätter der Beklagten für die Jahre 2010 und später genügten nach Auffassung der Kammer der vom BSG aufgestellten Anforderungen. In dem Merkblatt mit Stand März 2010, das der Kläger bei seiner Antragstellung erhalten und im Klageverfahren vorgelegt habe, werde bereits auf Seite 7 und 8 unter den 11 wichtigsten Punkten, dort unter Ziffer 4 deutlich darauf hingewiesen, dass ein Lohnsteuerklassenwechsel finanzielle Auswirkungen haben kann und sich der Arbeitslose vorher bei der Beklagten beraten lassen solle. Auf Seiten 37 und 38 des Merkblatts werde dann nochmals farblich unterlegt und unterstrichen darauf hingewiesen, dass ein Lohnsteuerklassenwechsel zu einer niedrigeren Leistung führen und daher teuer werden könne. Es folge mehrfach der hervorgehobene Hinweis auf eine vorherige Beratung durch die Beklagte. Das Merkblatt enthalte somit eindeutige und unmissverständliche Hinweise zur Abhängigkeit der Leistungshöhe von der gewählten Steuerklasse und zur Gefahr, die ein Steuerklassenwechsel mit sich bringen könne. Es werde zudem ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine Beratung vor dem Steuerklassenwechsel erforderlich sei. Nach Auffassung der Kammer genüge die Beklagte damit der geforderten Hinweis- und Beratungspflicht hinsichtlich der finanziellen Auswirkungen eines Lohnsteuerklassenwechsels. Weitergehende Schutzmaßnahmen wie der Einzug der Lohnsteuerkarte oder ein separater Hinweis außerhalb des Merkblatts erschienen der Kammer unter Berücksichtigung des Umstands, dass es sich bei der Bewilligung von Arbeitslosengeld um Massenverwaltung handle, überzogen und realitätsfremd. Die Beklagte sei zu Aufhebung nach § 48 SGB X berechtigt, der Wechsel der Lohnsteuerklasse stelle eine wesentliche Änderung dar, der Kläger sei seiner Mitwirkungspflicht angesichts des Merkblatts zumindest grob fahrlässig nicht nachgekommen. Ermessen stehe der Beklagte insoweit nach § 330 SGB III nicht zu. Die Erstattungspflicht folge aus der Aufhebung der Bewilligung gemäß § 50 SGB X. Der Erstattungsbetrag sei auch richtig errechnet.

Hiergegen richtet sich die am Montag, den 9. Januar 2012 eingelegte Berufung des Klägers. Zur Begründung trägt der Kläger vor, das SG habe die von ihm und seinem Beistand schriftlich und mündlich vorgetragenen Gründe nicht richtig gewürdigt. Das erkenne man insbesondere daran, dass das SG die in den Urteilen des BSG vom 1. April 2004 (B 7 AL 52/03 R) und vom 29. August 2002 (B 11 AL 99/01 R) geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken nicht zitiere und berücksichtige.

Der Kläger beantragt teilweise sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 26. Oktober 2011 sowie den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid der Beklagten vom 7. April 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Mai 2010 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung hat keinen Erfolg.

Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung ist angesichts des über 750 Euro liegenden Beschwerdegegenstandes statthaft (§ 143 SGG) und insgesamt zulässig, jedoch unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 7. April 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Mai 2010 ist rechtlich nicht zu beanstanden, das SG hat die auf Aufhebung des Bescheides gerichtete Klage zu Recht abgewiesen.

1. Der Bescheid der Beklagten vom 7. April 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19. Mai 2010 ist formell rechtmäßig. Insbesondere erfolgte vor seinem Erlass eine Anhörung des Klägers zu den wesentlichen Tatsachen, auf die er sich stützt. Der Bescheid ist auch hinreichend bestimmt. Zwar nennt er nur einen Gesamtzeitraum und einen Gesamtbetrag der teilweisen Aufhebung und Erstattung, allerdings ist der Bescheid in der Zusammenschau mit den Anhörungsschreiben und dem Widerspruchsbescheid auszulegen. Daraus ergibt sich eindeutig, dass die Bewilligung vom 23. März 2009 für die Zeit vom 1. Juli 2009 bis 19. Februar 2010 in Höhe von täglich 15,84 Euro aufgehoben wird und sich hieraus eine Gesamtaufhebung und Erstattungsforderung in Höhe von 3.627,36 Euro ergibt.

2. Der Bescheid ist auch im Übrigen rechtlich nicht zu beanstanden.

a. Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld ist § 48 SGB X in Verbindung mit § 330 Abs. 3 SGB III. Vorliegend sind die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X in Verbindung mit § 330 Abs. 3 SGB III erfüllt, so dass die Bewilligung von Arbeitslosengeld ab dem 1. Juli 2009, dem Zeitpunkt der Änderung, teilweise aufzuheben war.

Gemäß § 48 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X in Verbindung mit § 330 Abs. 3 SGB III ist der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, soweit 1. die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt, 2. der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist, 3. nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder 4. der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist. Als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse gilt in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum auf Grund der besonderen Teile dieses Gesetzbuches anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraumes. Nach Abs. 4 der Regelung gelten § 44 Abs. 3 und 4, § 45 Abs. 3 Satz 3 bis 5 und Abs. 4 Satz 2 entsprechend. § 45 Abs. 4 Satz 2 gilt nicht im Fall des Absatzes 1 Satz 2 Nr. 1.

aa. Die Bewilligung von Arbeitslosengeld ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung.

bb. In den tatsächlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Bewilligungsbescheides vom 23. März 2009 und des Änderungsbescheides vom 30. Mai 2009 vorlagen, ist zum 1. Juli 2009 dadurch eine Änderung eingetreten, dass der Kläger seine Lohnsteuerklasse von der Klasse Drei in die Klasse Fünf gewechselt hat.

Diese Änderung war auch wesentlich im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X. Die Höhe des Arbeitslosengeldes ist nach der Regelung des § 133 SGB III von der Lohnsteuerklasse abhängig. Das Arbeitslosengeld beträgt nach § 129 Abs. 1 Nr. 1 SGB III in der hier maßgebenden Fassung vom 16. Februar 2001 für Arbeitslose, die - wie der Kläger - mindestens ein Kind im Sinne des § 32 Abs. 1, 3 bis 5 des Einkommensteuergesetzes haben, 67 Prozent (erhöhter Leistungssatz) des pauschalierten Nettoentgelts (Leistungsentgelt), das sich aus dem Bruttoentgelt ergibt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum erzielt hat (Bemessungsentgelt). Die Beklagte hat das Bemessungsentgelt des Klägers nach den Regelungen der §§ 130,131 SGB III zutreffend in Höhe von 89,17 Euro täglich ermittelt. Insoweit wird auf den Inhalt des Bewilligungsbescheids vom 23. März 2009 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 30. Mai 2009 Bezug genommen. Nach § 133 SGB Abs. 1 SGB III in der hier maßgebenden Fassung vom 19. Dezember 2008 ist Leistungsentgelt das um pauschalierte Abzüge verminderte Bemessungsentgelt. Abzüge sind 1. eine Sozialversicherungspauschale in Höhe von 21 Prozent des Bemessungsentgelts, 2. die Lohnsteuer, die sich nach dem vom Bundesministerium der Finanzen auf Grund des § 51 Abs. 4 Nr. 1a des Einkommensteuergesetzes bekannt gegebenen Programmablaufplan bei Berücksichtigung der Vorsorgepauschale nach § 10c Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes in dem Jahr, in dem der Anspruch entstanden ist, ergibt und 3. der Solidaritätszuschlag. Bei der Berechnung der Abzüge nach den Nummern 2 und 3 ist der Faktor nach § 39f des Einkommensteuergesetzes zu berücksichtigen; Freibeträge und Pauschalen, die nicht jedem Arbeitnehmer zustehen, sind nicht zu berücksichtigen. Die Feststellung der Lohnsteuer richtet sich gemäß Abs. 2 der Regelung nach der Lohnsteuerklasse, die zu Beginn des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist, auf der Lohnsteuerkarte des Arbeitslosen eingetragen war. Spätere Änderungen der eingetragenen Lohnsteuerklasse werden mit Wirkung des Tages berücksichtigt, an dem erstmals die Voraussetzungen für die Änderung vorlagen. Das Gleiche gilt, wenn auf der für spätere Kalenderjahre ausgestellten Lohnsteuerkarte eine andere Lohnsteuerklasse eingetragen wird. Haben Ehegatten die Lohnsteuerklassen gewechselt, so werden die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen nach Abs. 3 der Regelung von dem Tage an berücksichtigt, an dem sie wirksam werden, wenn 1. die neu eingetragenen Lohnsteuerklassen dem Verhältnis der monatlichen Arbeitsentgelte beider Ehegatten entsprechen oder 2. sich auf Grund der neu eingetragenen Lohnsteuerklassen ein Arbeitslosengeld ergibt, das geringer ist, als das Arbeitslosengeld, das sich ohne den Wechsel der Lohnsteuerklassen ergäbe. Ein Ausfall des Arbeitsentgelts, der den Anspruch auf eine lohnsteuerfreie Entgeltersatzleistung begründet, bleibt bei der Beurteilung des Verhältnisses der monatlichen Arbeitsentgelte außer Betracht. Absatz 2 Satz 3 gilt entsprechend.

Unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse Fünf errechnet sich ein um 15,48 Euro geringeres Arbeitslosengeld täglich als unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse Drei. Die Bewilligung von Arbeitslosengeld unter Zugrundelegung der Lohnsteuerklasse Drei wurde durch den Wechsel der Lohnsteuerklasse ab 1. Juli 2009 in diesem Umfang teilweise rechtswidrig.

cc. Es fehlt an einer wesentlichen Änderung durch den erfolgten Lohnsteuerklassenwechsel auch nicht im Hinblick auf verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Regelung des § 133 SGB III bzw. der Vorgängerregelung in § 137 SGB III a.F. und in diesem Zusammenhang im Hinblick auf einen möglichen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch des Klägers. Der Kläger kann nicht so gestellt werden, als hätte er den Lohnsteuerklassenwechsel unterlassen oder noch vor dessen Wirksamwerden wieder rückgängig gemacht. Zwar sind die Auswirkungen eines Lohnsteuerklassenwechsels von Ehegatten aus verfassungsrechtlichen Gründen nur dann hinnehmbar, wenn verheiratete Arbeitslose bereits bei Antragstellung oder anlässlich einer konkreten Nachfrage deutlich und gesondert vom Merkblatt auf die leistungsrechtlichen Gefahren eines Lohnsteuerklassenwechsels und die Notwendigkeit einer Beratung durch die Beklagte hingewiesen worden sind (vgl. BSG, Urteil vom 1. April 2004 - B 7 AL 52/03 R -, vom 29. August 2002 - B 11 AL 99/01 R - BSG und vom 31. Januar 2006 - B 11a AL 11/05 R - jeweils Juris). Aus einer Verletzung der besonderen Hinweis- und Beratungspflichten der Beklagten im Rahmen des Lohnsteuerklassenwechsels Verheirateter kann dem Arbeitslosen ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch erwachsen (BSG, Urteil vom 1. April 2004 - B 7 AL 36/03 R - Juris). Vorliegend hat die Beklagte aber ihre besonderen Hinweis- und Beratungspflichten nicht verletzt. Bereits der Bewilligungsbescheid vom 23. März 2009 enthält den Hinweis darauf, dass durch einen Lohnsteuerklassenwechsel finanzielle Nachteile entstehen können und eine vorherige Beratung durch die Beklagte ratsam sei. Außerdem enthält das Merkblatt Stand März 2008 - im Gegensatz zu den älteren Merkblättern, die in den Fällen ausgehändigt wurden, die den genannten Entscheidungen des BSG zugrundeliegen - deutliche Hinweise auf die Gefahren eines Lohnsteuerklassenwechsels und das Erfordernis einer vorherigen Beratung. Bereits eingangs heißt es auf Seite 6 unter der Rubrik "Das Wichtigste vorweg: 11 Punkte, die Sie sich merken sollten!", dass insbesondere ein Lohnsteuerklassenwechsel unverzüglich mitgeteilt werden muss. Außerdem wird auf Seiten 32/33 die Bedeutung der Lohnsteuerklasse dargestellt und durch Fettschrift und farbige Unterlegung besonders hervorgehoben, dass ein Steuerklassenwechsel zu einer niedrigeren Leistung führen kann. Damit hatte der Kläger aber konkrete Informationen über die Gefahren eines Lohnsteuerklassenwechsels erhalten. Die Beklagte hat die besonderen Anforderungen an die Hinweis- und Beratungspflicht bzw. das Beratungsangebot erfüllt.

dd. Auch die weiteren Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X für die teilweise Aufhebung der Bewilligung sind erfüllt. Der Kläger ist einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse nicht nachgekommen. Gemäß § 60 SGB I ist ein Leistungsempfänger verpflichtet, alle leistungsrelevanten Änderungen mitzuteilen, hierunter fällt auch der Wechsel der Lohnsteuerklasse. Dieser Mitteilungspflicht ist der Kläger unstreitig nicht nachgekommen.

ee. Die Verletzung der Mitteilungspflicht erfolgte auch zumindest grob fahrlässig. Grobe Fahrlässigkeit liegt nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Hierbei ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG ein subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff zugrunde zu legen (BSG SozR 3-1300 § 45 Nr. 45 und SozR 4-4300 § 122 Nr. 5 m.w.N.) Der Senat ist unter Berücksichtigung der individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Klägers, auch im Hinblick auf den von ihm im Rahmen der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck, der Überzeugung, dass der Kläger grob fahrlässig gehandelt hat. Es hätte sich ihm geradezu aufdrängen müssen, dass der Lohnsteuerklassenwechsel für die Leistungshöhe relevant ist und der Beklagten mitzuteilen ist. Der Kläger wurde nicht nur im Merkblatt, dessen Erhalt er auch einräumt, sondern auch im Bewilligungsbescheid vom 23. März 2009 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass durch den Wechsel der Lohnsteuerklasse finanzielle Nachteile entstehen können und eine vorherige Beratung durch die Beklagte erfolgen sollte. Diese Hinweise waren eindeutig und leicht verständlich. Der Kläger war zur Überzeugung des Senats nach seinen intellektuellen Fähigkeiten in der Lage, die Hinweise zu verstehen und auch danach zu handeln, er hat die Hinweise lediglich, wie er in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, nicht gelesen. Der Kläger hat bei seiner Arbeitslosmeldung nicht das vom SG in Bezug genommene Merkblatt mit dem Stand März 2010 erhalten, dies wäre bei einer Arbeitslosmeldung im Februar 2009 auch kaum möglich gewesen. Vielmehr hat er, wie er mit der Berufung zutreffend vorträgt, das Merkblatt mit dem Stand März 2008 erhalten. Damit ändert sich aber für die Beurteilung der groben Fahrlässigkeit nichts, denn auch dieses Merkblatt enthielt bereits die vom SG zitierten mehrfachen und drucktechnisch hervorgehobenen Hinweise. Darauf, dass er die Hinweise im Bewilligungsbescheid und Merkblatt nicht gekannt hat, kann der Kläger sich nicht berufen. Denn den Adressaten eines Bewilligungsbescheids trifft die Obliegenheit, diesen zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen (BSG, Urteil vom 8. Februar 2010 - B 11 AL 21/00 R - Juris). Sofern der Kläger vorträgt, er und seine Ehefrau seien aus der Türkei zugezogen und sich damit sinngemäß auf schlechte deutsche Sprachkenntnisse beruft, kann ihn auch dies nicht entlasten. Er hätte sich durch Hinzuziehung einer für die Übersetzung ausreichend sprachkundigen Person hinreichende Klarheit über den Inhalt des Bescheids verschaffen müssen (BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 - B 13 R 77/09 R - m.w.N., Juris). Dass der Kläger hierzu nicht in der Lage gewesen sei, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Auch kann sich der Kläger nicht darauf berufen, die Hinweise im Merkblatt seien aufgrund dessen Umfangs von 94 Seiten mit kleiner Schrift nicht hinreichend wahrnehmbar. Das Merkblatt 2008 umfasst 78 Seiten. Bereits auf Seite 6 ist unter der vorangestellten Rubrik "11 Punkte, die Sie sich merken sollten" der erste Hinweis darauf enthalten, dass die Änderung der Lohnsteuerklasse insbesondere unverzüglich mitgeteilt werden muss. Die Erläuterung zur Höhe der Leistung auf Seite 28 erklärt, dass die Lohnsteuerklasse für die Höhe des Arbeitslosengeldes von Bedeutung ist und im Abschnitt 4.2 sind die Bedeutung der Lohnsteuerklasse, die mit einem Wechsel verbundenen Gefahren und das Erfordernis einer vorherigen Beratung nochmals ausführlich aufgeführt. Aufgrund der mit verschiedenen Farben, Fettdruck und Unterstreichungen vorgenommenen Hervorhebungen kann auch nicht die Rede davon sein, dass diese Hinweise in vielen Seiten Kleingedrucktem untergehen würden.

ff. Die Beklagte hat die Aufhebungsfristen des § 45 Abs. 3 Sätze 3 bis 5 und Abs. 4 Satz 2 SGB X, die über § 48 Abs. 4 Satz 1 SGB X entsprechend anwendbar sind, eingehalten. Die Änderung ist am 1. Juli 2009 eingetreten, die Aufhebung erfolgte bereits im April 2010.

gg. Der Umfang der teilweisen Aufhebung wurde von der Beklagten für die Zeit vom 1. Juli 2009 bis 19. Februar 2010 mit insgesamt 3.627,36 Euro korrekt errechnet. Anhaltspunkte für Fehler in der Berechnung sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

b. Rechtsgrundlage für die Forderung der Erstattung des Betrags von 3.627,36 Euro ist § 50 Abs. 1 SGB X. Danach sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Diese Voraussetzungen sind angesichts der teilweisen Aufhebung der Bewilligung von Arbeitslosengeld in Höhe von 3.627,36 Euro erfüllt. Fehler der Berechnung des Erstattungsbetrags sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Der Betrag stimmt mit dem Umfang der teilweisen Aufhebung des Arbeitslosengeldes überein.

Damit hat die Berufung insgesamt keinen Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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