L 8 SB 5574/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 2 SB 6010/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 5574/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 10. August 2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Der Kläger begehrt die Neufeststellung seiner Behinderungen mit einem Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50.

Der 1951 geborene Kläger ist bosnischer Staatsangehöriger, wohnt in S. und ist zum dauerhaften Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland berechtigt. Der Beklagte stellte zuletzt mit (Teilabhilfe-) Bescheid vom 23.01.2006 einen GdB von 30 wegen folgender Behinderungen fest: Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden, Wirbelsäulenverformung, Nervenwurzelreizerscheinungen, Gebrauchseinschränkung des linken Beines, Gebrauchseinschränkung des linken Armes, Refluxkrankheit der Speiseröhre, Chronische Magenschleimhautentzündung, Chronische Bronchitis, Depressive Verstimmung, Kopfschmerzsyndrom.

Änderungsanträge vom 09.07.2007 und 05.09.2007 hatten keinen Erfolg (Bescheid vom 23.11.2007).

Am 02.04.2008 beantragte der Kläger erneut eine Änderung der bisherigen Entscheidung. Dazu gab er an, dass er Beschwerden in der Brustwirbelsäule (BWS) und am Hals habe. Er leide unter psychischen Beeinträchtigungen und unter Magenbeschwerden. Der Beklagte zog Unterlagen der behandelnden Ärzte bei. Die Orthopäden Dr. E. und K.-B. beschrieben in einem Arztbrief vom 29.11.2005 chronische Schmerzen in der Hals- (HWS) und Lendenwirbelsäule (LWS) seit Jahren, die in Arme und Beine ausstrahlten. Die Internistin und Rheumatologin Dr. R. stellte am 08.06.2007 (Arztbrief vom 05.07.2007) fest, dass eine rheumatologische Systemerkrankung nicht bestehe. Es sei allerdings ein chronisches Schmerzsyndrom vom Fibromyalgie-Typ zu diagnostizieren. Alle tender points seien positiv gewesen. Die Wirbelsäule sei endgradig bewegungseingeschränkt, die Schultern frei beweglich.

Der Internist Dr. K. erstattete am 14.04.2008 einen Befundbericht. Danach sei der Kläger bei ihm seit 2007 nur zur Einstellung einer Schilddrüsenunterfunktion und im Rahmen von akuten grippalen Infekten in Behandlung gewesen. Es bestehe ein Reizmagensyndrom, die gastroenterologische Abklärung habe insofern keinen pathologischen Befund ergeben. Die Depressionen und Magenbeschwerden müssten im Rahmen des diagnostizierten Fibromyalgiesyndroms gesehen werden. Eine Therapie der Depression sei seines Wissens nicht eingeleitet worden.

Mit Bescheid vom 19.05.2008 lehnte der Beklagte eine Änderung der bisherigen Entscheidung ab. Als zusätzliche Behinderung berücksichtigte er ein Fibromyalgiesyndrom. Dagegen erhob der Kläger am 29.05.2008 Widerspruch, zu dessen Begründung er seine zahlreichen Beschwerden schilderte und darüber hinaus geltend machte, unter ständigen Schmerzen in Schultern, Armen und im linken Bein zu leiden. Es bestünden Ohrgeräusche und Schmerzen am Ohr. Dazu legte er verschiedene ältere Arztunterlagen über seine Beschwerden im Rücken und im Magen vor.

Der Beklagte holte einen Befundbericht des Neurologen und Psychiaters Dr. L. vom 03.06.2008 ein. Er behandelte den Kläger wegen einer Depression. Der Kläger sei in Folge eines tödlichen Autounfalls eines Neffen im Jahr 2000 schwer depressiv geworden. Die Depression sei inzwischen chronifiziert. Er habe Angstattacken mit Herzrasen und Schwitzen, Zittern und innerlichem Beben, dem Gefühl der Mundtrockenheit und ein Engegefühl im Hals mit Luftnot. Er werde von Übelkeit und Schwindel überfallen, so dass er sich kaum auf den Beinen halten könne. Er habe Angst, die Kontrolle zu verlieren und verrückt zu werden oder zu sterben. Der Kläger erfülle insofern die Kriterien einer generalisierten Angststörung. Hinzu kämen Symptome einer Agoraphobie, er habe eine ihn plötzlich überfallende Angst in Fahrstühlen, geschlossenen Räumen und Tunneln. Größere Menschenansammlungen halte er nicht aus und müsse fliehen. Schon das Anstehen in einer Schlange an der Kasse sei eine nicht zu bewältigende Situation.

Mit Widerspruchsbescheid vom 01.09.2008 stellte der Beklagte einen GdB von 40 seit 02.04.2008 fest. Im Übrigen wies er den Widerspruch zurück. Die psychische Störung sei mit einem Teil-GdB von nunmehr 20 zu berücksichtigen, so dass eine Erhöhung des Gesamt-GdB auf 40 angemessen sei.

Dagegen erhob der Kläger am 05.09.2008 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG), zu deren Begründung er seinen Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren wiederholte. Er legte ein Attest der HNO-Ärztin Dr. S. vom 25.03.2009 vor, die eine Innenohrschwerhörigkeit beidseits mit einem Verlust von 40dB für reine Töne im Umgangssprachbereich festgestellt hatte. Die auditive Kommunikationsbehinderung könne durch eine Hörhilfe ausgeglichen werden.

Das SG befragte die behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen. Der Internist Dr. K. teilte (Aussage vom 02.10.2008) mit, der Kläger sei im Juli 2008 bei ihm zu einer allgemeinen Gesundheitsuntersuchung gewesen. Die Schilddrüsenwerte seien unter Medikation normal gewesen, trotz fettsenkender Therapie bestünden erhöhte Triglyceride, der Blutdruck habe bei 130/80 mmHg gelegen. Der Kläger habe erwähnt, dass er seit Mai 2008 vom Psychiater krankgeschrieben sei. Er habe weiterhin die seit Jahren unverändert bestehenden belastungsabhängigen Schmerzen im Bewegungsapparat.

Der Orthopäde Dr. A. gab an (Aussage vom 08.10.2008), der Kläger leide an Bandscheibenvorfällen und Protrusionen in HWS, BWS und LWS, einem chronischen Impingement beider Schultergelenke mit einer Bewegungseinschränkung auf 90° sowie einer Gonarthrose beidseits. Die Fibromyalgie mit Herzrasen und Durchblutungsstörungen bedinge einen GdB von 30, die Erkrankung der Kniegelenke einen solchen von 20, diejenige der Schultergelenke ebenfalls einen solchen von 20, so dass insgesamt ein GdB von 60 bestehe.

Die Internistin und Rheumatologin Dr. R. schrieb am 18.11.2008, sie habe den Kläger zuletzt am 08.06.2007 gesehen und könne deshalb keinen neuen Befunde mitteilen.

Der Psychiater Dr. L. berichtete unter dem 20.03.2009, der Kläger sei seit 06.11.2007 bei ihm in Behandlung. Es habe eine ausgeprägte depressive Symptomatik in Form einer anhaltenden depressiven Herabstimmung, Antriebsstörungen, Vitalsymptomen, neuropsychologischen Defiziten und einem fast vollständigen sozialen Rückzug bestanden. Hinzu sei eine schwere Angstsymptomatik gekommen, die den Kläger häufig in bedrängenden Situationen, teilweise auch ohne äußeren Anlass überfiele. Der Kläger sei nicht in der Lage, ein normales gesellschaftliches Leben zu führen. Er habe gerade so die Fähigkeit, seinen beruflichen Verpflichtungen und den wichtigsten Anforderungen des Alltags nachzukommen. An eine darüber hinausgehende Gestaltung des Privatlebens sei nicht zu denken. Der Kläger gehe zu keinen Veranstaltungen, meide Familienfeste und geselliges Beisammensein unter Freunden. Er habe oft versucht, ein normales Gesellschaftsleben zu führen, sich aber dann immer wieder zurückgezogen. Das wiederholte Dr. L. in einem Brief vom 12.05.2009.

Das SG zog weiterhin medizinische Unterlagen aus einem parallel geführten Rechtsstreit um die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung (Sozialgericht Stuttgart, S 13 R 1642/07) bei. Die 13. Kammer hatte ein Gutachten des Psychiaters und Neurologen Dr. F. vom 26.01.2009 eingeholt. Dort berichtete der Kläger, dass er mehrfach daran gedacht habe, seinem Leben ein Ende zu setzen. Er gehe nicht mehr in Gesellschaft, könne Menschen um sich herum nicht ertragen, gehe auch nicht in die Dunkelheit, weil er keine Finsternis ertrage und keinen Tunnel. Zum Schlafen benötige er Tabletten. Er habe Probleme mit der HWS, die auch der Grund für Kopfschmerzen sei. Hier verschaffe ihm Physiotherapie für ein, zwei Tage Linderung. Wegen der Kopfschmerzen wache er nachts drei- bis fünfmal auf. Er habe Rückenschmerzen, die von einem Bandscheibenvorfall in der BWS herrührten. Es bestehe eine Bronchitis, ein Schilddrüsenleiden und eine chronische Gastritis. Er sei vergesslich, was sich unter anderem daran zeige, dass er beim Verlassen der Wohnung mehrmals nachschauen müsse, ob der Herd aus sei. Ihm kämen manchmal ohne besonderen Grund die Tränen. Er habe keine bestimmten Interessen mehr, früher habe er Fußball gespielt, das könne er heute nicht mehr. Er gehe nach dem Morgenkaffee aus dem Haus und streife durch Felder und Wald. Mittags bereite er sich das Mittagessen zu, sitze dann ein bisschen herum, manchmal mache er abends noch einen Spaziergang. Er putze seine Wohnung selbst und wasche auch seine Wäsche, das Bügeln übernehme seine Schwester, die vor Ort sei. Mit dieser und einem Freund, der ihn auch zur Untersuchung gebracht habe, könne er sich auch über Privates unterhalten. Er sei einmal im Monat bei seinem Psychiater in Behandlung. Dr. F. stellte einen Blutdruck von 150/85 mmHg und ein Rasselgeräusch über den Lungen fest. Der Kläger könne die ca. 100 Schritte bis zum Untersuchungszimmer ohne erkennbaren Schwindel oder sonstige Probleme bewältigen, das An- und Ausziehen erfolge zügig im Stehen ohne fremde Hilfe. Die Beweglichkeit in den großen Gelenken sei frei, eine Absinktendenz beim Vorhalteversuch der Beine konnte Dr. F. nicht feststellen. Der Kläger gebe eine Minderung der Berührungsempfindlichkeit am rechten Bein und eine deutliche Minderung am linken Bein bis hin zur fehlenden Schmerzempfindung an. Eine Zuordnung zu einem Dermatom sei nur rechts möglich. Links habe der Befund offensichtlich aggravatorische Tendenz. Die Gang- und Standprüfungen waren weitgehend unauffällig, der Kläger gab Schwindel nach zehn Tritten im Rahmen eines Tretversuchs an. Der Wechsel von seiner Muttersprache mit der Dolmetscherin zu Deutsch mit dem Sachverständigen bereite dem Kläger keine Schwierigkeiten. Die Fragen habe er prompt und ohne unnötige Ausschmückungen beantwortet. Er habe nicht affektlabil reagiert. Während der gesamten fast zweistündigen Untersuchung habe der Kläger keinerlei Erschöpfungszeichen gezeigt, er habe auch eine gut erhaltene Erinnerung. Er leide bei der Untersuchung keineswegs unter der beschriebenen Depressivität schweren Ausmaßes, wie Dr. L. sie beschrieben habe. Unbestritten sei lediglich die beklagte Schlafstörung. Die Beschreibung des Tagesablaufs spreche nicht für ein Unvermögen, mit den Routine-Anforderungen des täglichen Lebens fertig zu werden. Es bestehe eine anhaltende affektive Störung, aber weder eine Zyklothymia noch eine Dysthymia. Es bestehe ein chronisch depressiver Verstimmungszustand.

Das SG holte ein Gutachten des Orthopäden Dr. D. vom 25.01.2010 ein. Er stellte einen Klopfschmerz im Bereich eines pflaumengroßen Lipoms an der oberen und im unteren BWS-Drittel fest. Weiterhin bestand ein Klopfschmerz an der unteren LWS. Er beschrieb einen Stauchungsschmerz über dem 7. Halswirbel und dem 5. Lendenwirbel. Die Beweglichkeit der HWS war beim Vorwärtsneigen frei, beim Rückwärtsneigen endgradig eingeschränkt. Die Seitdrehung war frei, die Seitneigung um ca. ein Viertel eingeschränkt. Die Beweglichkeit der BWS war im unteren Normbereich, diejenige der LWS ebenso. Die Entfaltbarkeit der Wirbelsäule war nur gering eingeschränkt (Ott 30/31,5, Schober 10/14,5, Finger-Boden-Abstand im Stehen 39 cm, im Sitzen 31 cm). Das linke Daumenendglied war infolge eines Unfalls im Jahr 1985 deformiert, die Narben reizlos. Die Beweglichkeit der Gelenke der oberen Extremitäten fand Dr. D. nicht eingeschränkt. Der Händedruck sei links diskret abgeschwächt. Der Kläger beuge die Hüftgelenke nicht ganz vollständig, weil er Schmerzen in der LWS habe. Die Beweglichkeit der Gelenke der unteren Extremitäten sei im Übrigen frei. Die verschiedenen Gang- und Standarten seien unauffällig, einbeinig hüpfen könne der Kläger wegen angegebener Schmerzen in der Wirbelsäule nicht. Der vollständige Hocksitz sei mit Gleichgewichtsstabilisierung durch den Sachverständigen möglich. In den bildgebenden Verfahren seien vermehrte Verschleißerscheinungen der LWS, vor allem im Segment L5/S1, diskret auch bei L4/L5 zu sehen. Auch in BWS und HWS bestünden Verschleißerscheinungen, die das altersentsprechende Maß leicht bis mittelgradig überschritten. Die Beschwerden in der Wirbelsäule bedingten einen GdB von 20, diejenigen im linken Daumengrundgelenk einen solchen von 10. Unter Berücksichtigung der übrigen Erkrankungen (Refluxkrankheit der Speiseröhre, chronische Magenschleimhautentzündung, Reizmagen, GdB 10, chronische Bronchitis GdB 10, depressive Verstimmung, Kopfschmerzsyndrom GdB 20, Fibromyalgie-Syndrom GdB 10) ergebe sich ein GesamtGdB von 30.

Schließlich befragte das SG die HNO-Ärztin Dr. S. schriftlich als sachverständige Zeugin. Sie sagte am 22.02.2010 aus, sie habe den Kläger dreimal im März 2009 behandelt. Es bestehe eine geringe Innenohrschwerhörigkeit beidseits. Es liege noch kein GdB vor. Dazu legte sie ein Tonaudiogramm vor, das einen prozentualen Hörverlust rechts von 46% und links von 56% auswies.

Das SG hörte den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 10.08.2010 persönlich zu seinen Schmerzen und Einschränkungen an. Dabei gab der Kläger an, dass er nunmehr keine Spaziergänge mehr mache. Früher sei er bei seiner Schwester mittags zum Essen gegangen, sie wohne aber seit anderthalb Jahren nicht mehr im Ort. Jetzt gehe er zu einem Bekannten. Er sitze eigentlich nur noch herum.

Mit Urteil vom 10.08.2010 wies das SG die Klage ab. Es bewertete die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit einem GdB von 20, die Beschwerden an den Schultern mit 10, die Folgen des Unfalls am linken Daumenendgelenk mit 10, die Beschwerden in den Kniegelenken und den Hüftgelenken mit einem GdB von weniger als 10, die psychischen Beschwerden mit 20, den Hörverlust mit 10 und die internistischen Erkrankungen im Bereich des Verdauungssystems, der Schilddrüsenunterfunktion und der Fettstoffwechselstörung mit ebenfalls 10. Daraus sei ein höherer Gesamt-GdB als 40 nicht abzuleiten.

Gegen das ihm am 02.12.2010 zugestellte Urteil legte der Kläger am 03.12.2010 Berufung ein, zu deren Begründung er seinen Vortrag aus dem Verfahren vor dem Sozialgericht und dem Widerspruchsverfahren wiederholt hat.

Er hat zur weiteren Begründung ein Attest von Dr. A. vom 26.01.2011 vorgelegt, der die Auffassung vertreten hat, dass dem Kläger wegen eines chronischen HWS-/BWS-/LWS-Schmerzsyndroms ein GdB von 30-40, wegen eines Impingementsyndroms beider Schultern ein solcher von 20, wegen einer initialen Coxarthrose beidseits mit aufgehobener Innenrotation weitere 20 und wegen einer Chrondromalazie Grad III-IV in den Knien noch einmal 20 zustünden, so dass insgesamt ein GdB von 70 zutreffend sei.

Der Kläger beantragt – sinngemäß gefasst -, den Bescheid vom 19.05.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.09.2008 abzuändern, das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 10. August 2010 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, einen GdB von mindestens 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung bezieht er sich auf im Laufe des Rechtsstreits vorgelegte Stellungnahmen von Dr. W. vom 05.06.2009 und 21.05.2010, Dr. G. vom 23.10.2009 und Dr. R. vom 19.10.2011.

Der Senat hat die Sitzungsniederschrift vom 26.11.2009 aus dem vor dem SG geführten Rentenverfahren (S 13 R 1643/07) in Kopie zur Senatsakte genommen. Die dort Beteiligten einigten sich am 26.11.2009 auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab 01.06.2006.

Der Senat hat zur Aufklärung des Sachverhalts Dr. A. nochmals befragt, er hat eine kernspintomographische Untersuchung der Kniegelenke des Klägers veranlasst. Die Radiologen Dr. S. und Dr. S. haben unter dem 23.05.2011 ihren Befund übersandt und festgestellt, dass am rechten Knie eine Chrondromalazie Grad II, links Grad I-II besteht.

Am 31.05.2011 ist beim Senat der korrigierte Befundbericht vom 23.05.2011 von Dr. S. eingegangen, in dem nunmehr von einer Chrondomalazie patellae rechts Grad III mit Chrondromalazie Grad II an der Femurrolle, links von einer Fissur des retropatellaren Gelenkknorpels an der medialen Facette mit Chrondomalazie patellae Grad III bei Chrondromalazie an der medialen Femurrolle Grad I-II die Rede ist. Die Befundkorrektur sei nach Rücksprache mit Dr. A. erfolgt.

Der Senat hat eine ergänzende Stellungnahme von Dr. D. vom 12.12.2011 eingeholt. Er hat ausgeführt, dass die Kernspintomographie-Befunde die Mitteilung von Dr. A. widerlegten, dass anhaltende Reizerscheinungen in den Knien vorlägen. Bezüglich der Knorpelschädigung in den Kniegelenken stelle er fest, dass er im rechten Kniegelenk lediglich im retropatellaren Gleitlager einen zweitgradigen Knorpelschaden erkenne. Im linken Kniegelenk bestünden erst- bis zweit- aber keine drittgradigen Knorpelschäden. Insofern bestehe mangels anhaltender Reizerscheinungen kein GdB. Die Beweglichkeit in den Kniegelenken sei bei der Untersuchung zu seinem Gutachten vom 25.01.2010 nicht eingeschränkt gewesen. Insofern ergebe sich ein GdB von 0 bis 10.

Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf einen Band Schwerbehindertenakten des Beklagten, die Akten des Sozialgerichts Stuttgart und die Akten des Senats hingewiesen, die Gegenstand des Berufungsverfahrens und der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe:

Gemäß § 153 Abs. 4 SGG kann der Senat – nach vorheriger Anhörung der Beteiligten – die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Im vorliegenden Fall sind die Berufsrichter des Senats einstimmig zu dem Ergebnis gekommen, dass die Berufung unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist. Die Beteiligten sind mit richterlicher Verfügung vom 12.07.2012 auf die in Betracht kommende Möglichkeit einer Entscheidung nach § 153 Abs. 4 SGG sowie deren Voraussetzungen hingewiesen worden und haben Gelegenheit erhalten, zur Sache und zum beabsichtigten Verfahren Stellung zu nehmen.

Der Senat hat den Berufungsantrag des Klägers nach seinem erkennbaren Begehren sachdienlich gefasst.

Die gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, aber nicht begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 19.05.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.09.2008 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50. Das angefochtene Urteil des SG ist nicht zu beanstanden.

Rechtsgrundlage für die vom Kläger begehrte Neufeststellung eines höheren GdB ist § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wesentlich ist eine Änderung dann, wenn sich der GdB um wenigstens 10 erhöht oder vermindert. Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt aufzuheben und durch eine zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG SozR 1300 § 48 SGB X Nr. 29 m.w.N.). Die den einzelnen Behinderungen – welche ihrerseits nicht zum so genannten Verfügungssatz des Bescheides gehören – zugrunde gelegten Teil-GdB-Sätze erwachsen nicht in Bindungswirkung (BSG, Urteil vom 10.09.1997 – 9 RVs 15/96BSGE 81, 50 bis 54). Hierbei handelt es sich nämlich nur um Bewertungsfaktoren, die wie der hierfür (ausdrücklich) angesetzte Teil-GdB nicht der Bindungswirkung des § 77 SGG unterliegen. Ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist, muss durch einen Vergleich des gegenwärtigen Zustands mit dem bindend festgestellten früheren Behinderungszustand ermittelt werden.

Maßgebliche Rechtsgrundlagen für die GdB Bewertung sind die Vorschriften des SGB IX. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach 10er Graden abgestuft festgestellt. Hierfür gelten gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und der aufgrund des § 30 Abs. 16 des BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. In diesem Zusammenhang waren bis zum 31.12.2008 die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) heranzuziehen (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 – 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 – B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3 3870 § 4 Nr. 1).

Seit 01.01.2009 ist an die Stelle im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewandten AHP die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 16 BVG zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB. In den VG ist ebenso wie in den AHP (BSG, Urteil vom 01.09.1999 – B 9 V 25/98 R - SozR 3-3100 § 30 Nr. 22) der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben. Dadurch wird eine für den behinderten Menschen nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht (ständige Rechtsprechung des Senats).

Nach diesen Kriterien sind die psychischen Beschwerden des Klägers ohne das Schmerzsyndrom mit einem GdB von 20, die Wirbelsäulenbeschwerden unter Einbeziehung des Schmerzsyndroms mit einem GdB von ebenfalls 20, die Beschwerden in den Schultern mit 10, das linke Daumenendglied mit 10, in den Hüften mit 0, in den Knien mit 0, der Hörverlust mit 10 und die internistischen Erkrankungen mit ebenfalls 10 zu bewerten. In Bezug auf die Bewertung der psychischen Beschwerden sowie die Funktionseinschränkungen in Wirbelsäule, Hüften, Schultern, durch das gequetschte Daumenendglied, den Hörverlust und die internistischen Erkrankungen wird von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abgesehen und auf die zutreffenden Ausführungen des SG im Urteil vom 10.08.2010 Bezug genommen, § 153 Abs. 2 SGG.

Aus den Ausführungen des Klägers im Berufungsverfahren und dem dazu vorlegten Attest von Dr. A. sowie dem Kernspintomographiebefund von Dr. S. ergibt sich kein höherer GdB. Wie Dr. D. gut nachvollziehbar dargelegt hat, ergeben sich aus den Aufnahmen im Rahmen der Kernspintomographie keine Hinweise auf einen anhaltenden Reizzustand der Kniegelenke, vielmehr ist diese Mitteilung von Dr. A. gerade durch diese Aufnahmen widerlegt. Bewegungseinschränkungen in den Kniegelenken hat Dr. A. – insofern in Übereinstimmung mit den schon im sozialgerichtlichen Verfahren erhobenen Befunden von Dr. D. – nicht mitgeteilt. Eine Bewertung der Kniegelenksbeschwerden mit einem GdB von mindestens 10 ist aufgrund dieser Befunde gemäß Nr. 18.14 Teil B VG nicht gerechtfertigt.

Besondere Behinderungen der unteren Atemwege hat der Kläger nicht behauptet und sind auch nicht ersichtlich, so dass ein höherer GdB als 10 für die chronische Bronchitis nicht zu berücksichtigen ist.

Die Behinderungen des Klägers bedingen insgesamt keinen höheren GdB als 40. Nach § 69 Abs. 3 SGB IX ist zu beachten, dass bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB zu bilden, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt-GdB ungeeignet. In der Regel ist von der Behinderung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Ein Einzel-GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Teil A Nr. 3 Seite 10 der VG). Der Gesamt-GdB ist unter Beachtung der VG in freier richterlicher Beweiswürdigung sowie aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten zu bilden (BSGE 62, 209, 213; BSG SozR 3870 § 3 Nr. 26 und SozR 3-3879 § 4 Nr. 5 zu den AHP).

Beim Kläger bestehen Einzel-GdB von 20, 20, 10, 10, 10, 10 und 10. Die GdB-Werte von 20 für die psychischen Beschwerden und 20 für die Beschwerden in der Wirbelsäule einschließlich des Schmerzsyndroms überlagern sich teilweise. Ein Gesamt-GdB von 50 auch unter Berücksichtigung der immerhin fünf Einzel-GdB-Werte von 10 kann daraus nicht abgeleitet werden. Eine besondere Beeinflussung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen zueinander besteht nicht.

Die Berufung war deshalb zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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