S 12 AS 7416/10

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Nordhausen (FST)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 12 AS 7416/10
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Nach § 120 SGG steht es im pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzenden, einem Rechtsanwalt die Akten zur Einsichtnahme in dessen Kanzlei zu übersenden. Ein Rechtsanspruch auf Übersendung der Akten ist nicht gegeben.

Wenn und soweit den Klägern, deren zehn anhängige Klageverfahren von wiederholten Stereotypen geprägt sind, bereits Akteneinsicht gewährt wurde, ist eine weitere Sachaufklärung durch eine wiederholte Übersendung der nämlichen Verwaltungsakten nicht zu gewärtigen.
Die Klage wird abgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Im Streit steht die Rechtmäßigkeit der Kostenentscheidung des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2010.

Die Klägerin bezieht Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit Änderungsbescheid vom 17. Mai 2010 gewährte ihr die Beklagte Grundsicherungsleistungen für den Zeitraum 1. Juni 2010 bis 31. Oktober 2010 in Höhe von monatlich ca. 528 Euro. Den hiergegen gerichteten Überprüfungsantrag nach näherer Maßgabe des § 44 Zehntes Buch So-zialgesetzbuch (SGB X) wies die Beklagte mit Bescheid vom 13. August 2010 zurück. Hier-gegen erhob die Klägerin unter dem 1. September 2010 Widerspruch und beantragte u.a. die Übersendung der Leistungsakten an die Kanzlei des Bevollmächtigten. Mit Widerspruchsbe-scheid vom 22. September 2010 wies die Beklagte den Widerspruch zurück; in den Gründen des Widerspruchsbescheides führte sie u.a. aus, daß eine -im Ermessen der Beklagten ste-hende- Übersendung der Akten in die Kanzlei des Bevollmächtigten abgelehnt werde, weil in Ansehung der Vielzahl von Verfahren "die Übersendung zahlreicher Akten zu einer Lähmung und damit (zu einem) Stillstand ... führen (würde). Arbeitsabläufe würden wegen fehlender Akten ins Stocken geraten und die Verfahrensdauer (würde) sich insgesamt noch weiter ver-längern ...". Die Beklagte verwies auf die bestehende Möglichkeit, während der Öffnungszei-ten Einsichtnahme in die Leistungsakten an Amtsstelle nehmen zu können.

Mit ihrer unter dem 20. Oktober 2010 beim Sozialgericht Nordhausen erhobenen Klage ver-folgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie ist der Rechtsansicht, daß die Akteneinsicht ver-weigert wurde, weil die Beklagte über den Widerspruch abschließend entschieden habe, ohne die Leistungsakten an die Kanzleianschrift zu übersenden. Zudem habe die Beklagte ihr Er-messen nicht ausgeübt, weil im Widerspruchsbescheid die wesentlichen Gründe der Ermes-sensentscheidung nicht erläutert worden seien. Bei einer ermessensfehlerfreien Prüfung hätte die Beklagte erkennen müssen, daß die Leistungsakten an den Bevollmächtigten zu übersen-den seien. Denn der Prozeßbevollmächtigte "pflegt aufgrund einer erheblichen Arbeitsbelas-tung in der Regel bis weit in die Nachtstunden zu arbeiten. Es ist nicht nachvollziehbar dass die Beklagte tatsächlich zur Akteneinsicht in den Nachtstunden Zutritt gewährt und einen abgetrennten Raum nebst technischer Einrichtung zum scannen und kostenfreien kopieren sowie hierfür geeignetes Personal zur Verfügung stellt."

Die Klägerin beantragt,

die Kostenentscheidung des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2010 dahin-gehend abzuändern, daß die Beklagte die im Widerspruchsverfahren entstandenen not-wendigen Aufwendungen der Klägerin vollumfänglich zu erstatten hat und die Zuzie-hung der Bevollmächtigten für notwendig erachtet wird.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte sowie den in den Akten befindlichen Schriftwechsel insgesamt verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Widerspruchsbescheid vom 22. September 2010 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

Denn die Beklagte hat eine Akteneinsicht im Widerspruchsverfahren nicht abgelehnt. Hierzu ist -anknüpfend an den, die nämliche Rechtsfrage betreffenden, Kammerbeschluß vom 14. Juni 2011, Az. S 12 AS 4647/09- wie folgt auszuführen:

Bei dem Recht auf Akteneinsicht respektive bei der Aktenübersendung handelt es sich um eine Ausgestaltung des Grundrechts auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz in Verbindung mit § 62 Sozialgerichtsgesetz -SGG- (vgl. ausführlich PAWLITA, Die Wahrneh-mung des Akteneinsichtsrechts im gerichtlichen und behördlichen Verfahren durch Überlas-sung der Akten in die Rechtsanwaltskanzlei, AnwBl. 1986, 1 ff., 7).

Im sozialgerichtlichen Verfahren haben die Beteiligten ein Recht auf Einsicht in die Akten nach näherer Maßgabe des § 120 SGG. Hiernach steht es im pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzenden, einem Rechtsanwalt die Akten zur Einsichtnahme in dessen Kanzlei zu über-senden. Ein Rechtsanspruch auf Übersendung der Akten ist nicht gegeben (KELLER in MEYER/LADEWIG/KELLER/LEITHERER, SGG, 9. Aufl., § 120 Rn. 4).

Gleiches gilt für die Akteneinsicht im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren. Gegenteili-ges folgt auch nicht aus der Bestimmung des § 84a SGG, weil nach der einschlägigen Geset-zesbegründung das Akteneinsichtsrecht durch die Bestimmung des § 84a SGG lediglich "ver-bessert und künftig wie im Gerichtsverfahren gewährt (Möglichkeit der Aktenübersendung)" werden soll (BT-Drucks. 11/7817, 143). Das Recht auf Akteneinsicht konkretisiert sich im Recht auf eine fehlerfreie Ermessensausübung der Behörde. Bei der Entscheidung über eine Aktenversendung kann die Behörde die begründeten eigenen Belange ausreichend berück-sichtigen. Daher können entstehende Verfahrensverzögerungen ebenso in die Ermessensent-scheidung einfließen wie der Umstand, daß die Akten laufend benötigt werden (vgl. PAWLITA, AnwBl. 1986, 1 ff., 7).

Der Behörde ist es aber verwehrt, eine Akteneinsicht pauschal abzulehnen. Das Gericht erach-tet es -in Ausgestaltung der Grundsätze eines fairen Verfahrens- auch nicht für zulässig, die Akteneinsicht an Amtsstelle in schikanöser Weise auszugestalten. Daher wäre eine Beschrän-kung der Akteneinsicht auf einzelne Stunden oder Wochentage unzulässig; die Akteneinsicht wird vielmehr regelmäßig während der allgemeinen Öffnungszeiten zu erfolgen haben.

Nach Maßgabe dieser Grundsätze kann das Gericht weder einen Ermessensnichtgebrauch, noch eine Ermessensfehlentscheidung der Beklagten hinsichtlich der hier geforderten Über-sendung der Leistungsakten erkennen.

Denn die Beklagte hat in den Gründen des Widerspruchsbescheides vom 22. September 2010 zunächst dargelegt, daß es sich bei der Entscheidung hinsichtlich der Übersendung der Akten um eine Ermessensentscheidung handelt. Sie hat sodann herausgestellt, daß die Gewährung von Akteneinsicht im Interesse eines geordneten Verwaltungsablaufs auf eine Einsichtnahme an Amtsstelle während der allgemeinen Öffnungszeiten zu beschränken ist, weil in Ansehung der Vielzahl von Streitverfahren eine kontinuierliche Sachbearbeitung nur durch einen unein-geschränkten Zugriff auf die Leistungsakten sichergestellt werden kann. Dieser Ermessensakt, der im Rahmen des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG nur dahin überprüft werden kann, ob die Verwal-tungsbehörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Denn die von der Beklagten herausgestellte "überwältigende Vielzahl von Verfahren" ist gerichtsbekannt (vgl. die tageszeitung - taz - vom 19. Juni 2010: " ... Das zuständige Sozialgericht im 50 Kilometer entfernten Nordhausen ist ... zum Deut-schen Meister in der Disziplin der Hartz-IV-Verfahren aufgestiegen ...", Neue Nordhäuser Zeitung - nnz-online - vom 2. Februar 2011: " ... Dies steht zu einem wesentlichen Teil mit dem Auftreten eines Rechtsanwaltes aus Mühlhauen im Zusammenhang, eines ehemaligen Mitarbeiters des Jobcenters U.-H.-K., der 2010 mehr als 90 Prozent der Verfahren gegen die vorgenannte Behörde betrieben hat ...").

Darüber hinaus verweist das Gericht auf Folgendes: Ausweislich der gerichtlichen Verfah-rensdatei hat die Klägerin -neben dem hier streitgegenständlichen Klageverfahren- zehn weitere gerichtliche Streitverfahren (S 12 AS 4202/11, S 12 AS 4201/11, S 12 AS 134/11, S 12 AS 8401/10, S 12 AS 8400/10, S 12 AS 8399/10, S 12 AS 8398/10, S 12 AS 7520/10, S 12 AS 7417/10 und 7415/10) anhängig gemacht. Bereits bei einer kursorischen Sichtung der vorgenannten Streitverfahren kann nicht verkannt werden, daß die Klageschriften von wie-derholten Stereotypen geprägt sind: Auch in den Streitverfahren S 12 AS 8398/10, S 12 AS 134/11, S 12 AS 8399/10, S 12 AS 8400/10 und S 12 AS 8401/10 wurde um Akteneinsicht nachgesucht. Das Gericht beschränkt sich insoweit auf die Feststellung, daß bereits im Juli 2011 dem Prozeßbevollmächtigten in dem Verfahren S 12 AS 8398/10 die Leistungsakten zum Zwecke der Akteneinsicht zur Verfügung gestellt wurden. Eine weitere Sachaufklärung durch eine wiederholte Übersendung der nämlichen Verwaltungsakten aber ist nicht zu ge-wärtigen.

Nur bei Gelegenheit dieser Entscheidung ist darauf zu verweisen, daß der Beklagten weder die Pflicht obliegt, dem Prozeßbevollmächtigten den Zutritt zur Amtsstelle während der Nachtzeiten zu ermöglich, noch gehalten ist, im Rahmen der Akteneinsicht an Amtsstelle technische Einrichtungen zur (kostenfreien) Vervielfältigung zur Verfügung zu stellen oder eigenes Personal hierfür frei zu stellen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

Gründe für die Zulassung der Berufung lagen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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