L 5 VU 814/07

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Meiningen (FST)
Aktenzeichen
S 3 VU 1215/02
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 5 VU 814/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Meiningen vom 19. April 2007 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der am 08. August 1953 geborene Kläger verlangt eine höhere Beschädigtenversorgung insbesondere wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung nach in der ehemaligen DDR zu Unrecht verbüßten Freiheitsstrafen.

Durch Urteil des Kreisgerichts Suhl vom 07. November 1973, Az.: 1 S 290/73, wurde der Kläger wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts in Tateinheit mit versuchter unerlaubter Einreise in das Grenzsperrgebiet - begangen in der Gruppe, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt. In dem Urteil wurde zudem die Vollstreckung der durch Urteil des Kreisgerichts Suhl vom 15. Dezember 1972, Az.: 1 S 292/72, angedrohten Freiheitsstrafe von einem Jahr angeordnet. Die letztgenannte Verurteilung erfolgte wegen eines Eigentumsdelikts. Der Kläger befand sich aufgrund der Verurteilungen in der Zeit vom 30. August 1973 bis 29. Juni 1976 in Untersuchungs- und Strafhaft.

Durch Urteil des Bezirksgerichts Suhl in Meiningen vom 10. Januar 1978, Az.: 1 Bs 13/77, wurde er wegen mehrfacher staatsfeindlicher Hetze, begangen in Tatmehrheit mit Beleidigung wegen Zugehörigkeit zu einer anderen Nation oder Rasse zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Aufgrund dieser Verurteilung befand sich der Kläger ab 29. April 1978 in Untersuchungs- und anschließend in Strafhaft.

Durch Beschluss des Landgerichts Meiningen vom 28. November 1996, Az.: Reha 280/95, wurden das Urteil des Kreisgerichts Suhl insgesamt und das Urteil des Bezirksgerichts Suhl teilweise für rechtsstaatswidrig erklärt und aufgehoben. Es wurde festgestellt, dass der Kläger in der Zeit vom 30. August 1973 bis 29. Juni 1976 und vom 29. April 1978 bis zum 03. Oktober 1978 zu Unrecht Freiheitsentzug erlitten hat.

Am 09. Dezember 1996 beantragte der Kläger im Hinblick auf verschiedene Körperschäden (Wirbelsäulenbeschwerden, einen Leberschaden, Durchblutungsstörungen, eine chronische Kieferhöhlenvereiterung, Herzschmerzen, äußere Hautverletzungen sowie den Verlust von Zähnen) und psychische Leiden infolge der Inhaftierung Beschädigtenversorgung.

Der Beklagte holte daraufhin die Krankenunterlagen verschiedener Haftanstalten, in denen der Kläger inhaftiert war, ein und zog Unterlagen des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR ein. Darin enthalten war auch ein nervenärztliches Gerichtsgutachten von Dr. med. E. S. vom 14. Oktober 1977 (Bl. 86 d. VwA), das im Rahmen des Strafverfahrens vor dem Bezirksgericht Suhl eingeholt worden war.

Sodann beauftragte der Beklagte Prof. Dr. A. P. von der Freien Universität B. mit der Erstellung eines psychiatrischen Gutachtens.

Der Sachverständige führt in seinem Gutachten vom 25. Mai 1999 (Bl. 181 ff. d. VwA) u.a. aus, ein Wahnerleben sei nicht zu eruieren gewesen. In Bezug auf die Stasi- und frühere Hafterlebnisse zeige der Kläger ein fast paranoid anmutendes Erleben, welches (ebenfalls) zum Rückzug führe. Es bestehe eine stark ausgeprägte soziale Phobie mit Vermeidungsverhalten, die eine Konfrontation mit angstauslösenden Reizen weitgehend verhindere. Eine aktive Teilnahme am sozialen Leben der Gemeinschaft sei ihm dadurch nicht mehr möglich (Bl. 15/16 des Gutachtens). Aufgrund der beschriebenen Symptomatik liege beim Kläger eine posttraumatische Belastungsstörung vor sowie ein paranoides Erleben, das zur Zeit grenzwertig als Haftpsychose interpretiert werden könne. Die Symptomatik sei bereits nach der letzten Haftentlassung 1978 deutlich vorhanden gewesen, habe sich dann aber 1995 (mit der Rückkehr nach Deutschland) deutlich verschlechtert. Außerdem liege beim Kläger eine akzentuierte Persönlichkeit vor, die Züge einer histrionischen Persönlichkeitsstörung aufweise, ohne die Diagnose gänzlich zu erfüllen. Die posttraumatische Belastungsstörung wie auch die phobische Symptomatik (grenzwertige Haftpsychose) sei mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Haftzeit zurückzuführen. Dafür spreche die Tatsache, dass vor der Haftzeit lediglich eine akzentuierte Persönlichkeit ohne Krankheitswert vorgelegen habe; nach der Haftzeit sei eine völlig neue Symptomatik aufgetreten, die die Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung erfülle und im deutlichen Zusammenhang mit den Hafterlebnissen stehe. Ab 1995 sei es im Zusammenhang mit der erneuten Konfrontation mit den Hafterlebnissen zu einer deutlichen Verschlechterung gekommen. Insbesondere sei das paranoide Erleben des Klägers rein auf Hafterlebnisse und Haftumstände bezogen, es weise nicht wie bei endogenen Psychosen eine auch in andere Bereiche überspringende Symptomatik auf. Die akzentuierte Persönlichkeit des Klägers sei nicht haftbedingt. Die gesundheitlichen Folgen der Schädigung seien als Posttraumatische Belastungsstörung sowie als paranoides Erleben (grenzwertige Haftpsychose) zu diagnostizieren. Daneben bestehe eine nicht haftbedingte akzentuierte Persönlichkeit. Aufgrund der massiven Auswirkung auf das soziale Leben des Klägers, seine völlige Leistungsunfähigkeit sowie seinem völligen Rückzug, die ihn zu einem normalen Leben in der Gemeinschaft nicht mehr befähigten, betrage die schädigungsbedingte MdE 30.

Der Beklagte stellte mit Bescheid vom 23. Mai 2002 (Bl. 263 ff. d.A.) eine posttraumatische Belastungsstörung sowie den Verlust der Zähne 36 und 37 und eine MdE von 30 fest. Die darüber hinaus geltend gemachten Körperschäden seien nicht durch die Haft hervorgerufen bzw. vollständig ausgeheilt.

Den Widerspruch des Klägers vom 19. Juni 2002 (Bl. 268 d. VwA, Eingang beim Beklagten am 20. Juni 2002) wies der Beklagte nach Einholung einer versorgungsärztlichen Äußerung mit Widerspruchsbescheid vom 12. September 2002 (Bl. 277 d. VwA) zurück.

Gegen die Bescheide erhob der Kläger am 04. Oktober 2002 Klage zum Sozialgericht. Dieses holte Befundberichte der behandelnden Ärzte MR Dr. med. F. Sch. (Allgemeinmedizin) und Dr. med. S. R. (Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie) ein und beauftragte sodann Prof. Dr. med. U. Sch. vom H.-Klinikum E. mit der Erstellung eines internistischen Gutachtens. Dieser stellte in seinem Gutachten vom 10. Juni 2005 fest, die vom Kläger erlittene Hepatitis A und B sei folgenlos ausgeheilt, Schädigungsfolgen bestünden insoweit nicht. Zwischen der jetzt vorliegende Leberstörung und der erlittenen Haft bestehe kein Zusammenhang.

Sodann holte das Sozialgericht ein neuro-psychiatrisches Gutachten von Dr. med. G. K. ein. Ausweislich des Gutachtens vom 05. Oktober 2005 und der ergänzenden Stellungnahme vom 15. Juli 2006 bestehe eine schwere chronifizierte paranoide Haftpsychose, die auch körperliche Symptome ohne objektivierbare pathologische Organbefunde mit enthalte. Die Gesundheitsstörungen seien mit der zu fordernden Wahrscheinlichkeit auf die Inhaftierung zurückzuführen und durch diese allein verursacht. Ab Dezember 1996 bis 25. Mai 1999 betrage die schädigungsbedingte MdE 30. Unter Berücksichtigung einer mit Wahrscheinlichkeit fortschreitenden Verschlechterung der haftpsychotischen Symptomatik und Einbeziehung auch nicht organisch begründbarer körperlicher Leiden sei die MdE ab Juni 2002 (Zeitpunkt des Widerspruchs des Klägers) mit 50 zu bemessen. Vor dem Hintergrund einer offenbar prozesshaft weiterhin sich verschlechternden Haftpsychose sei die MdE ab dem Untersuchungstag 05. Oktober 2005 mit 100 zu bemessen.

Das Sozialgericht holte zudem eine Stellungnahme des Facharztes für Psychiatrie Dr. med. F. von Baumgarten und von R. E. (diese hatte den Kläger bereits im Rahmen der Begutachtung in der Freien Universität B. untersucht) ein. In der Stellungnahme vom 30. Dezember 2006 (Bl. 137 ff. d.A.) kommen beide weiterhin zu der Annahme einer posttraumatischen Belastungsstörung als Schädigungsfolge. Bis Anfang des Jahres 2003 habe nach Angaben der Nervenärztin Dr. R. keine Verschlechterung der Symptomatik bestanden, so dass bis zu diesem Zeitpunkt vermutlich keine Erhöhung der MdE anzunehmen wäre. Auch ausweislich des Gutachtens von Prof. Sch. habe der Kläger durchaus kooperativ und kommunikationsfähig gewirkt und kein ausgeprägtes psychotisches Erleben aufgewiesen. Die Begutachtung durch Prof. Sch. habe nur vier Monate vor der Begutachtung durch Dr. K. (diese war am 05. Oktober 2005) stattgefunden. Eine Erhöhung der MdE ab Juni 2002 auf 50 und auf 100 ab dem Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. K. sei nicht anzunehmen. Aufgrund der Begutachtung am 05. Oktober 2005 könne nicht eindeutig festgestellt werden, ob sich der Gesundheitszustand des Klägers nach der letzten Begutachtung (durch die FUB) verschlechtert habe. Die Begutachtung durch Frau Dr. K. habe zu einem massiven Ausnahmezustand geführt, es habe ein ausgeprägter Erregungszustand beim Kläger bestanden. Es könne hier auch nicht beurteilt werden, ob es sich dabei um eine Ausnahmesituation gehandelt habe oder inwieweit ansonsten in einer normalen Alltagssituation die Symptomatik in dem von Frau Dr. K. beschriebenen Ausmaß vorliege. Eine Verschlimmerung des Gesundheitszustandes nach der Begutachtung im Jahre 1999 sei insgesamt nicht auszuschließen, zur Festlegung der MdE müsse noch eindeutiger der soziale Rückzug bzw. die Einschränkung im Leben des Klägers festgehalten werden. Eine erneute Begutachtung sei erforderlich, um die genaue Symptomatik zu bestimmen, die Diagnose zu überprüfen und insbesondere die Höhe der MdE festzulegen. Die angegebene Verschlimmerung der paranoiden Inhalte, haftbezogen, sei entweder weiter im Rahmen einer Posttraumatischen Belastungsstörung zu werten oder sie bedürfe einer eigenen Diagnose wie beispielsweise die einer anhaltenden wahnhaften Störung. Die Bezeichnung der Diagnose sei ebenso wie die MdE durch eine erneute Begutachtung zu ermitteln.

Das Sozialgericht hat den Beklagten durch Urteil vom 19. April 2007 unter Klageabweisung im Übrigen verurteilt, dem Kläger ab 01. Dezember 1996 Beschädigtenrente nach einer MdE von 60 zu gewähren. Beim Kläger habe bereits vor der Inhaftierung ein auffälliger psychischer Befund vorgelegen. Die genaue Ursache dieser Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter lasse sich heute nicht mehr aufklären. Entgegen der Einschätzung der Sachverständigen Dr. K. habe dieser Vorschaden Beweis- und Krankheitswert. Er sei mit einer MdE von 30 bis 40 zu bewerten. Der Anteil des kausalen Haftschadens sei mit einer MdE von 60 zu bewerten.

Gegen das am 12. Juli 2007 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Klägers, die am 23. Juli 2007 beim Landessozialgericht eingegangen ist. Er beruft sich auf die Feststellungen der Sachverständigen Dr. K ...

Der Kläger, der in der mündlichen Verhandlung am 23. Februar 2012 nicht vertreten war, beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Meiningen vom 19. April 2007 und den Bescheid vom 23. Mai 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. September 2002 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, ihm Beschädigtenversorgung ab 05. Oktober 2005 nach einer MdE/einem GdS von 100 zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil.

Der Kläger hat eine weitere Untersuchung im Rahmen eines Sachverständigengutachtens abgelehnt. Daraufhin hat der Senat ein weiteres Gutachten nach Aktenlage eingeholt. Der psychiatrische Sachverständige Prof. Dr. H. P. V. hat in seinem Gutachten vom 18. März 2011 ausgeführt, die posttraumatische Belastungsstörung liege unzweifelhaft vor. Sodann scheine sich eine paranoide Entwicklung dargestellt zu haben, bei der eine Haftpsychose angenommen worden sei, die als direkte kausale Folge der Haft zu sehen sei. Diese Entwicklung habe sich bereits bei der ersten Begutachtung 1999 in Ansätzen abgezeichnet. Die Psychose scheine sich in ihrer Ausprägungsstärke weiter entwickelt zu haben, sie werde am deutlichsten geschildert durch die Sachverständige Dr. K ... Es bestünden aber Zweifel daran, ob an dem Konzept der Haftpsychose festgehalten werden könne. Bereits Prof. P. habe beim Kläger paranoide Züge festgestellt. Vor der Begutachtung habe der Kläger angeblich zehn Jahre lang alleine in einer Höhle gelebt, weil er sich dort vor Verfolgung sicher gefühlt habe. Auch in Briefen hätten sich paranoide Inhalte gezeigt. Im Rahmen einer Posttraumatischen Belastungsstörung sei, auch bei einer Reaktualisierung, ein so ausgeprägtes psychotisches Bild, auch gekennzeichnet durch formale Denkstörungen, mindestens sehr untypisch. Der Einschätzung einer Reihe von Kollegen, dass sich die paranoiden Denkinhalte nur auf die Haftzeit beziehen, könne nicht in der Ausschließlichkeit zugestimmt werden. Denn mittlerweile seien auch ein Teil der begutachtenden Ärzte sowie Gerichte in die Denkwelt des Klägers einbezogen, wohl im Sinne einer intendierten Beeinträchtigung seiner Person, eventuell sogar im Sinne einer Verfolgung. Zudem nehme die Symptomatik einer reinen Haftpsychose in der Regel mit zunehmendem zeitlichen Abstand von der Haft nicht etwa zu, sondern ab. Beim Kläger liege vielmehr eine in ihrer Symptomatik zunehmende anhaltende wahnhafte Störung vor (F22.0 ICD-10: Eine Störung charakterisiert durch die Entwicklung eines einzelnen Wahns oder mehrerer aufeinander bezogener Wahninhalte, die im allgemeinen lange, manchmal lebenslang, andauern. Der Inhalt des Wahns oder des Wahnsystems ist sehr unterschiedlich. Eindeutige und anhaltende akustische Halluzinationen (Stimmen), schizophrene Symptome wie Kontrollwahn oder Affektverflachung und eine eindeutige Gehirnerkrankung sind nicht mit der Diagnose vereinbar. Gelegentliche oder vorübergehende akustische Halluzinationen schließen besonders bei älteren Patienten die Diagnose jedoch nicht aus, solange diese Symptome nicht typisch schizophren erscheinen und nur einen kleinen Teil des klinischen Bildes ausmachen.). Diese Störung sei nach der ICD-10 charakterisiert durch die Entwicklung einer einzelnen Wahnidee oder mehrerer aufeinander bezogener Wahninhalte, die im allgemeinen lange andauerten und manchmal lebenslang bestünden. Die Wahninhalte seien variabel (Verfolgungswahn, hypochondrischer Wahn, Größenwahn, Querulantenahn oder Eifersuchtswahn). Ein wesentlicher Unterschied zwischen einer anhaltenden wahnhaften Störung und einer Haftpsychose sei der, dass die wahnhafte Störung zwar auf bestimmte Lebensereignisse bezogen sein könne. Diese Lebensereignisse seien aber allerdings eher im Sinne des Anlasses zu verstehen. Demgegenüber stelle bei einer Haftpsychose die Haft die Ursache der wahnhaften Störung dar, ohne die Haft wäre es nie zu der Wahnbildung gekommen. Bei der anhaltenden wahnhaften Störung gehe man von einem eher "endogenen" Geschehen aus (endogen, griechisch: im Inneren erzeugt, aus inneren Ursachen entstehend oder aus dem Inneren eines Systems heraus nach innen oder außen wirkend). Die Hauptargumente, die für das Bestehen einer anhaltenden wahnhaften Störung im Gegensatz zu einer Haftpsychose sprächen, sei die Zunahme der Symptomatik mit immer ausgeprägter werdendem zeitlichen Abstand zu der Haft, die zunehmende Dynamik innerhalb der wahnhaften Überzeugungen und auch die Ausweitung des Personenkreises, die wahnhaft erlebt werden. Zudem sei auch - wie die Vorgutachter schon angemerkt hätten - eine Haftpsychose nach der ICD-10 nicht als eigenständiges Konzept zu verstehen. Keinesfalls schließe die Annahme einer wahnhaften Störung das gleichzeitige Bestehen einer posttraumatischen Belastungsstörung aus, allerdings sei eine anhaltende wahnhafte Störung nicht kausal auf die Haft zurückführbar. Zudem sei zu fragen, inwiefern sich bereits vor der Haft so weitreichende Persönlichkeitsauffälligkeiten o.Ä. dargestellt hätten, dass davon auszugehen sei, dass bereits hierdurch das spätere Entstehen einer weiterreichenden psychiatrischen Symptomatik vorhersehbar gewesen sei. Die sich aus dem Gerichtsgutachten ergebenden akzentuierten Persönlichkeitszüge würden nicht nachweisbar zur Ausbildung einer Posttraumatischen Belastungsstörung, einer Haftpsychose oder einer anhaltenden wahnhaften Störung prädisponieren in dem Sinne, dass eindeutig überzufällig häufig solche Störungen aus dem Boden einer akzentuierten Persönlichkeit entstünden. Den 1977 erhobenen Befunden sollte auch große Skepsis entgegengebracht werden. Ob schon vor der Haft auffällige Persönlichkeitszüge bestanden haben, könne nicht mit der vorauszusetzenden Sicherheit angenommen werden. Die posttraumatische Belastungsstörung, die mit einem GdS von 60 zu bewerten sei (Nr. 3.7 der VG), sei auf die Haft zurückzuführen. Die Ursache der wahnhaften Störung sei nicht geklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte trotz Ausbleibens des Klägers in der mündlichen Verhandlung entscheiden, denn die Beteiligten sind mit der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden.

Die Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, soweit ein höherer GdS als 60 ab 5. Oktober 2005 (Tag der Begutachtung durch Dr. K.) erstrebt wird.

Nach §§ 3 Abs. 1 Satz 1, 21 Abs. 1 Satz 1 des 1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes (SED-UnBerG) vom 29.Oktober 1992, BGBl I 1992, 1814 in der Fassung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes (StrRehaG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 17. Dezember 1999 (BGBl. I S. 2664), zuletzt geändert durch Artikel 11 des Gesetzes vom 22. Juni 2011 (BGBl. I S. 1202) erhält ein Betroffener, der infolge einer Freiheitsentziehung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen dieser Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetztes (BVG). Demgemäß ist bei der Prüfung der Versorgungsansprüche von einer dreigliedrigen Kausalkette auszugehen. Das erste Glied ist der schädigende Vorgang (Freiheitsentziehung), das zweite bildet die durch den schädigenden Vorgang hervorgerufene gesundheitliche Schädigung (Primärschaden). Das dritte Glied stellt die Folge der gesundheitlichen Schädigung (Schädigungsfolge) dar, also das Leiden, dessen Feststellung ein Antragsteller durch die Versorgungsverwaltung begehrt (vgl. Fehl in Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl. 1992, BVG § 1 Rn. 61). Nach § 21 Abs. 5 Satz 1 StrRehaG genügt zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Die Wahrscheinlichkeit ist dann gegeben, wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht, wobei lediglich die Möglichkeit eines Zusammenhangs oder ein zeitlicher Zusammenhang nicht genügen. Nach der im Versorgungsrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung ist ferner zu beachten, dass nicht jeder Umstand, der irgendwie zum Erfolg beigetragen hat, rechtlich beachtlich ist, sondern beachtlich im vorgenannten Sinne sind nur die Bedingungen, die unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg diesen wesentlich herbeigeführt haben.

Für die Gewährung der Leistungen nach § 21 StrRehaG sind die Behörden zuständig, denen die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes obliegt, mithin der Beklagte. Soweit die Verwaltungsbehörden der Kriegsopferversorgung zuständig sind, richtet sich das Verfahren nach den für die Kriegsopferversorgung geltenden Vorschriften (§ 25 Abs. 4 StrRehaG).

Der Kläger gehört zu dem nach § 1 und 3 StrRehaG berechtigten Personenkreis. Denn die Verurteilungen des Klägers wurden durch rechtskräftige Beschlüsse des nach § 8 Abs. 1 StrRehaG zuständigen Landgerichts Meiningen (jedenfalls teilweise) aufgehoben, der Kläger wurde rehabilitiert. Das schädigende Ereignis, nämlich der Freiheitsentzug, ist zwischen den Beteiligten nicht streitig.

Streitig sind die Schädigungsfolgen und der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit/Grad der Schädigung (GdS).

Gemäß § 30 Abs. 1 BVG in der bis zum 21. Dezember 2007 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 22. Januar 1982 (BGBl. I Seite 21) war die Minderung der Erwerbsfähigkeit nach der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen, wobei seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen waren (Satz 1). Für die Beurteilung war maßgebend, um wie viel die Befähigung zur üblichen, auf Erwerb gerichteten Arbeit und deren Ausnutzung im wirtschaftlichen Leben durch die als Folgen einer Schädigung anerkannten Gesundheitsstörungen beeinträchtigt waren (Satz 2). Nach der Neufassung des § 30 Abs. 1 BVG ist der Grad der Schädigungsfolgen nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen, seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen (Satz 1). Der Grad der MdE/der GdS ist nach Zehnergraden – in Bezug auf den Grad der MdE als v. H. - von 10 bis 100 zu bemessen. Dabei erhalten Beschädigte nach § 31 Abs. 1 Satz 1 BVG eine monatliche Grundrente erst ab einem Grad der MdE/GdS von 30 (v. H.), wobei wegen § 31 Abs. 2 BVG in der bis zum 20. Dezember 2007 geltenden Fassung und wegen § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG in der ab dem 21. Dezember 2007 geltenden Fassung insoweit bereits der Grad der MdE/GdS von 25 (v. H.) ausreichend ist.

Bei der Beurteilung des Grades der MdE/des GdS sind bis zum 31. Dezember 2008 die Anhaltspunkte für die Ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) und ab dem 01. Januar 2009 die Anlage 2 - Versorgungsmedizinische Grundsätze (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV) vom 10. Dezember 2008, BGBl. I S. 2412, zuletzt geändert durch Artikel 1 der Verordnung vom 28. Oktober 2011, BGBl. I S. 2153) zu beachten.

Zur Kausalitätsbeurteilung fanden sich in den AHP zu Gefangenschafts-, Internierungs- und Haftschäden zuletzt folgende Ausführungen (Nr. 139, S. 251): "Kriegsgefangenschaft, Internierung oder rechtsstaatswidrige Haft in der DDR waren oftmals – vor allem in den ersten Jahren nach dem letzten Krieg und zum Teil viele Jahre lang – durch extreme Lebensverhältnisse geprägt, zu denen ebenso Unter- und Fehlernährung und Infektionskrankheiten (vor allem Darminfekte) wie schwere körperliche und psychische Belastungen bei mangelnder Erholungsmöglichkeit und ungünstige hygienische und klimatische Verhältnisse und auch Misshandlungen gehörten (Abs. 1). Nach Abs. 5 können sich als Folge des Summationstraumas – vor allem der psychischen Belastungen – auch chronifizierte Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen bzw. andauernde Persönlichkeitsveränderungen (früher erlebnisbedingter Persönlichkeitswandel) – nach extremen Lebensverhältnissen in früher Kindheit auch Neurosen – entwickeln. Hierzu wird auf die Nummern 70 und 71 verwiesen. Nach Nr. 71 Abs. 2 (S. 205) ist bei länger anhaltenden Störungen und chronisch verlaufenden (auch "neurotisch" genannten) Entwicklungen zu prüfen, ob die Schädigungsfaktoren fortwirken oder schädigungsunabhängige Faktoren für die Chronifizierung verantwortlich sind ("Verschiebung der Wesensgrundlage"). In diesem Zusammenhang ist auf den Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales zur posttraumatischen Belastungsstörung auf der Tagung vom 6./.7. November 2008 hinzuweisen, wonach bei Nachuntersuchung von Traumaopfern, bei denen eine posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolge anerkannt wurde, die noch bestehenden Symptome genau zu ermitteln sind, und bei längerem Fortbestehen von Symptomen, die zur Einschränkung der allgemeinen Reagibilität oder zu den Symptomen eines erhöhten Erregungsniveaus gehören, ist zu prüfen, ob diese unspezifischen Symptome noch kausal auf das traumatische Ereignis zurückzuführen oder durch psychische Belastungen anderer Art bedingt sind.

Hier ist zunächst mit dem Sozialgericht und in Übereinstimmung mit dem Sachverständigengutachten des Prof. Sch. davon auszugehen, dass die körperlichen Beschwerden des Klägers nicht auf die Haft zurückzuführen sind. Eine Ausnahme hierbei gilt für den Verlust von zwei Zähnen. Diese Schädigung ist allerdings sowohl nach den AHP, als auch nach den VG mit einer MdE/einem GdS von "0" zu bewerten (Nr. 26.7 AHP bzw. Nr. 7.4 VG). Danach ist ein umfassender Zahnverlust, der über ½ Jahr hinaus nur unzureichend zu versorgen ist, lediglich mit einer MdE/einem GdS von 10-20 zu bewerten. Bei dem Verlust von zwei Zähnen kann von einem umfassenden Zahnverlust nicht ausgegangen werden.

Die Bewertung der psychischen Haftfolgen beurteilt sich nach Nr. 3.7 VG (und nach den insoweit gleichlautenden AHP). Danach sind Folgen psychischer Traumen wie folgt zu bewerten: Für leichtere psychovegetative oder psychische Störungen beträgt der Grad der Schädigung (GdS) 0 bis 20. Stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) sind mit einem GdS von 30 bis 40 zu bewerten. Für schwere Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdS 50 bis 70, für solche mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten 80 bis 100.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ergibt sich vorliegend keine höhere MdE/kein höherer GdS als 60 wie vom Sozialgericht festgestellt. Beim Kläger ist auf der Grundlage der vorhandenen Befunde davon auszugehen, dass bei ihm eine schwere Störung mit mittelgradigen Anpassungsschwierigkeiten vorliegt, die im Rahmen des eröffneten MdE-/GdS-Bereichs ein Abweichen vom Mittelwert weder nach oben noch nach unten gebietet. Dabei kann dahinstehen, ob die Erkrankung allein als posttraumatische Belastungsstörung zu bezeichnen ist, wie es der Beklagte anerkannt hat, oder ob es daneben einer weiteren besonderen medizinischen Begrifflichkeit bedarf, wie paranoides Erleben, phobische Symptomatik, Haftpsychose oder wahnhafte Störung, selbst wenn diese keine ICD10-Entsprechung hat. Auch wenn insoweit davon auszugehen wäre, dass es sich bei diesen Erscheinungen mit Wahrscheinlichkeit um Schädigungsfolgen handelte, führte dies nicht im Sinne der AHP/VG zur Annahme einer schweren Störung mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Für eine derartige Schlussfolgerung bieten die vorliegenden medizinischen Erkenntnisquellen keine ausreichende Grundlage. Insoweit weisen Dr. von B./E. für den Senat überzeugend darauf hin, dass nach Angaben der Nervenärztin Dr. R.bis Anfang des Jahres 2003 keine Verschlechterung der Symptomatik bestanden habe. Auch nach dem Sachverständigengutachten des Dr. Sch. habe der Kläger durchaus kooperativ und kommunikationsfähig gewirkt und es habe sich kein ausgeprägtes psychotisches Erleben manifestiert. Zwar habe die Begutachtung durch Frau Dr. K. am 5. Oktober 2005 zu einem massiven Ausnahmezustand geführt und es habe beim Kläger ein massiver Erregungszustand bestanden (was der Senat angesichts der von der Sachverständigen gewählten Vorgehensweise für verständlich hält). Allerdings könne auf dieser Grundlage nicht beurteilt werden, ob es sich dabei um eine Ausnahmesituation gehandelt habe oder inwieweit ansonsten in einer normalen Alltagssituation die Symptomatik in dem von der Sachverständigen beschriebenen Ausmaß vorliege. Einer daher für erforderlich gehaltenen weiteren Untersuchung im Rahmen eines Sachverständigengutachtens zur Prüfung des sozialen Rückzugs bzw. der Einschränkungen im Leben wollte sich der Kläger jedoch nicht unterziehen, wie er dem Gericht mehrfach mitgeteilt hat. Das ist aus Sicht des Senats zwar nachvollziehbar, kann jedoch nicht dazu führen, zu seinen Gunsten davon auszugehen, dass die von Frau Dr. K. im Inbegriff der Exploration am Tag der Begutachtung festgestellte psychische Situation beim Kläger auf Dauer im Sinne einer schweren Störung mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten fortbesteht, und auszuschließen, dass es sich dabei nicht lediglich um eine vorübergehende, nach Kurzem in ihrem Ausmaß zurückgebildete Erscheinung handelte. Die Korrespondenz des Klägers im Gerichtsverfahren nach dem Oktober 2005 hat den Sachverständigen Prof. V. jedenfalls nicht zur Feststellung geführt, dass beim Kläger eine schwere Störung mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten vorliegt.

Unabhängig von diesen Überlegungen hält der Senat die Berufung auch deshalb für abweisungsreif, weil er - entsprechend dem Gutachten von Prof. V. - von einer schädigungsunabhängigen wahnhaften Störung des Klägers ausgeht, wobei der Sachverständige diese Diagnose schlüssig und nachvollziehbar damit begründet, dass bei der wahnhaften Störung die Dynamik zunehme, der wahnhaft erlebte Personenkreis werde (wie vorliegend) ausgeweitet. Die Zunahme der Symptomatik mit immer ausgeprägter werdendem zeitlichen Abstand zur Inhaftierung, die zunehmende Dynamik der wahnhaften Überzeugung und die Ausweitung des wahnhaften Personenkreises, die beim Kläger festzustellen sei, spreche gegen die Annahme einer "Haftpsychose". Die Ursache der wahnhaften Störung ist nach den Ausführungen von Prof. Dr. V. nicht geklärt, sodass die erforderliche Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs nicht bejaht werden und somit diese Störung nicht als Schädigungsfolge anerkannt werden kann. Der Umstand, dass die Ursache nicht geklärt ist, rechtfertigt nicht die Annahme, dass es sich um ein schädigungsbedingtes Leiden handelt. Prof. V. führt in der ergänzenden Stellungnahme vom 21. April 2011 (Bl. 325 d. A.) aus, er gehe von einer schweren Störung i.S.d. Nr. 3 VG aus. Allerdings muss bei der Bemessung des GdS die wahnhafte Störung als nicht schädigungsbedingtes Leiden unberücksichtigt bleiben, auch wenn sie den Kläger an der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft behindert. Für die schädigungsbedingte posttraumatische Belastungsstörung ist ein GdS von 60 anzunehmen, auch insoweit folgt der Senat den überzeugenden Ausführungen von Prof. V ...

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die hierfür nach § 160 SGG erforderlichen Voraussetzungen nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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