L 1 KR 290/12 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 72 KR 900/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 290/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 5. Juli 2012 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die Kosten des gesamten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe:

Die gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Antragsgegners ist unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht auf den Antrag der Antragsteller vom 1. Juni 2012 die aufschiebende Wirkung der unter dem Aktenzeichen S 72 KR 900/12 beim S B erhobenen Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 7. Mai 2012 angeordnet (§ 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG).

Nach § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG entfällt diese Wirkung in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten ist und die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruchsbescheid entschieden hat, die sofortige Vollziehbarkeit mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehbarkeit anordnet.

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung setzt hiernach besondere, über das Erlassinteresse hinausgehende öffentliche Belange voraus, die es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Betroffenen gegen den angegriffenen Verwaltungsakt – ganz oder teilweise – einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im öffentlichen Interesse, entgegen der regelmäßigen gesetzlich vorgesehenen Folge der aufschiebenden Wirkung (§ 86a Abs. 1 Satz 1 SGG), rechtzeitig in die Wege leiten zu können. Wie gravierend die Folgen der aufschiebenden Wirkung für das besondere öffentliche Interesse sein müssen, ist abhängig von der Wahrscheinlichkeit des Hauptsacheerfolgs des Antragstellers. Bei geringer Erfolgswahrscheinlichkeit müssen die besonderen, über das Erlassinteresse hinausgehenden Folgen nicht so gravierend sein wie bei einer hohen Wahrscheinlichkeit des Hauptsacheerfolgs. Ist ein überwiegendes öffentliches Interesse danach nicht festzustellen (was auch bei einem Gleichgewicht der Interessen der Fall ist), ist die Vollziehbarkeitsanordnung rechtswidrig und aufzuheben (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage 2012, § 86a RdNr. 20 ff. und Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 3. Auflage 2012, RdNr. 215).

Diesen Anforderungen genügt die Vollziehbarkeitsanordnung des Antragsgegners nicht. Ein besonderes überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheides vom 7. Mai 2012 ist nicht gegeben.

Zunächst ist festzustellen, dass die Erfolgsaussichten des anhängigen Klageverfahrens offen sind. Ob die Auswahlentscheidung über die Schiedsperson rechtmäßig ist, muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Vor diesem Hintergrund sind an die gravierenden Folgen, die den öffentlichen Belangen für den Fall drohen, dass die Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners aufschiebende Wirkung hat, keine zu niedrigen Anforderungen zu stellen.

Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Antragsgegners genügt diesen Anforderungen nicht. Danach ist eine "hochwertige Versorgung nur dann zu erwarten ist, wenn den Leistungserbringern zu Gunsten der Versicherten eine angemessene Vergütung vertraglich zugeschrieben" werde. "Nur so (werde) die Leistung für die Hilfebedürftigen nachhaltig gesichert." Im Übrigen hat der Antragsgegner auf den Grundsatz der Beitragstabilität verwiesen und darauf, dass "die Finanzierbarkeit des Sozialversicherungssystems einen überragend wichtigen Gemeinwohlbelang" darstelle.

Diese Begründung erschöpft sich in allgemeinen Ausführungen. Sie lassen jeden Bezug zum konkreten Einzellfall vermissen. Würde diese textbausteinartige Begründung den Anforderungen an die Begründungspflicht des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG genügen, ließe sich damit eine Vielzahl von Sofortvollzugsanordnungen, unabhängig vom jeweiligen Einzellfall, begründen. Die Begründung enthält jedenfalls keine Abwägung des Vollzugsinteresses mit dem Interesse der Antragsteller am Bestand der aufschiebenden Wirkung der Klage bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, also dem gesetzlichen Regelfall. Die Ausführungen des Antragsgegners vermögen den Erlass des angefochtenen Verwaltungsaktes, der Bestimmung einer Schiedsperson, rechtfertigen, ein über dieses Erlassinteresse hinausgehendes besonderes öffentliches Interesse an dem Sofortvollzug begründen sie nicht.

Soweit der Antragsgegner im erstinstanzlichen Verfahren ergänzend vorgetragen hat, dass es "der Beigeladenen und ihren Versicherten aus Kostengesichtspunkten nicht zuzumuten sei, weiterhin die nach Dafürhalten der Beigeladenen übersetzten Entgelte zu zahlen," vermag auch dieser Vortrag der Beschwerde nicht zum Erfolg zu verhelfen. Denn ob die "Vergütungen für hausärztliche Krankenpflege im Land Berlin im Bundesvergleich einen Spitzenplatz einnehmen" (so die Beigeladene in Ihrem Schriftsatz vom 2. August 2012) ist im Kern zwischen den Leistungserbringern und der Beigeladenen im Streit. Aufgabe des gesetzlich vorgeschriebenen Schiedsverfahrens ist es hier für einen angemessenen Ausgleich der Interessen zu sorgen. Ein besonderes Vollzugsinteresse, das es rechtfertigen würde, vom gesetzlichen Regelfall abzuweichen, ergibt sich hieraus aber nicht.

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der Antragsgegner zunächst davon abgesehen hat, den Sofortvollzug seines Bescheides vom 7. Mai 2012 anzuordnen. Erst nachdem die von dem Antragsgegner benannte Schiedsperson telefonisch unter Hinweis auf ein "bekanntes Verfahren " angeregt hat, den Bescheid vom 7. Mai 2012 für sofort vollziehbar zu erklären und der zuständige Referatsleiter ausweislich des Telefonvermerks vom 11. Mai 2012 mit ihm übereingekommen ist, "dass es angesichts der Beteiligten und der zu erwartenden Widerstände im Hinblick auf eine gewisse Handlungssicherheit sinnvoll wäre, entsprechend zu verfahren", ist der Sofortvollzug angeordnet worden. Ob die Umstände des "bekannten Verfahren" auf diesen Einzelfall zu übertragen sind, vermag der Senat nicht zu beurteilen. Auch vermögen zu "erwartende Widerstände" oder eine "gewisse Handlungssicherheit" ein Interesse am Sofortvollzug im vorgenannten Sinne nicht zu begründen.

Der Antraggegner hat damit weder die Anordnung der sofortigen Vollziehung ausreichend begründet noch sind entsprechende Gründe nach Aktenlage ersichtlich.

Die Kostenentscheidung und die Streitwertfestsetzung folgen aus § 197a SGG in Verbindung mit §§ 154 Abs. 2 und 3, 162 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung und §§ 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 Nr. 4 Gerichtskostengesetz.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgerichtsgesetz angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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