S 23 KR 266/12 ER

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
23
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 23 KR 266/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zur vorläufigen Verpflichtung der Krankenkasse, Leistungen der GKV zu gewähren, wenn im Eilverfahren nicht aufgeklärt werden kann, ob der Antragsteller in der Vergangenheit gesetzlich krankenversichert gewesen ist.
1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller bis zur bestandskräftigen Entscheidung über seinen Antrag auf Mitgliedschaft Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu gewähren.

2. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

Tatbestand:
Der Antrag, der darauf zielt, die Antragsgegnerin zur vorläufigen Gewährung von Krankenversicherungsschutz zu verpflichten, ist zulässig (1.) und begründet (2.).

1. Der Zulässigkeit des nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaften Antrags steht nicht die Bestandskraft des Bescheides vom 26.08.2011 entgegen. Die Antragsgegnerin hatte zwar eine weitere Bearbeitung des seinerzeitigen Antrags vom 01.08.2011 auf Pflichtmitgliedschaft nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) wegen unzureichender Mitwirkung abgelehnt und damit offenbar in der Sache Leistungen gem. § 66 Abs. 1 Satz 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch versagen wollen. Der Antragsteller hat aber bereits am 06.03.2012 einen weiteren "Antrag auf freiwillige Krankenversicherung" gestellt; dies auf Veranlassung des Sozialhilfeträgers nach Ende des vormals bestehenden Betreuungsverhältnisses nach § 264 Abs. 2 SGB V. Insoweit hat die Antragsgegnerin zum einen durch ihre Einlassungen im vorliegenden Verfahren erkennen lassen, diesen Antrag (auch) als solchen auf Pflichtmitgliedschaft nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V aufzufassen. Zum anderen hat sie den geltend gemachten Anspruch in der Sache bestritten, da der Antragsteller zu keiner Zeit bei ihr Mitglied gewesen sei. Vor diesem Hintergrund bedurfte es vor Durchführung des einstweiligen Anordnungsverfahrens weder eines weiteren förmlichen Antrags bei der Antragsgegnerin, noch musste eine Entscheidung der Antragsgegnerin abgewartet werden.

2. Der Antrag ist auch begründet.

Einstweilige Anordnungen sind zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Der durch den beantragten vorläufigen Rechtsschutz zu sichernde Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit seiner vorläufigen Sicherung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung).

Im Regelfall können die Gerichte, um effektiven Rechtschutz zu gewähren, ihre Entscheidung grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung wie auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache stützen. Allerdings folgt aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass insbesondere dann, wenn ohne den Erlass der begehrten Anordnung lebensbedrohende Umstände eintreten oder sich verwirklichen können oder es um existentiell bedeutsame Leistungen der Krankenversicherung geht, wegen des besonderen Schutzes des Grundrechts auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit eine rein summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache nicht zur Ablehnung des begehrten Anspruchs berechtigt. In diesen Fällen haben die Gerichte entweder eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage auch im Eilverfahren vorzunehmen oder aber, wenn ihnen dies nicht möglich ist, anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002, Az.: 1 BvR 1586/02; Beschluss vom 19.03.2004, Az.: 1 BvR 131/04; Beschluss vom 12.05.2005, Az.: 1 BvR 569/05; Beschluss vom 29.11.2007, Az.: 1 BvR 2496/07; sämtlich abzurufen bei juris). Dabei sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Hauptsache aber Erfolg hätte, gegen jene Folgen abzuwägen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung erginge, das Hauptsacheverfahren aber erfolglos bliebe (sog. Doppelhypothese).

Die Kammer stützt ihre Entscheidung, da eine abschließende Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache im Eilverfahren nicht möglich ist, auf eine Folgenabwägung, die vorliegend zu Gunsten des Antragstellers ausfällt.

Es lässt sich gegenwärtig nicht abschließend beurteilen, ob die Antragsgegnerin dem Antragsteller gegenüber zur Gewährung von Krankenversicherungsschutz verpflichtet ist. Allerdings spricht einiges dafür, dass der Antragsteller nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 Buchstabe a) SGB V krankenversicherungspflichtig ist. Da die Frage der in diesem Fall für ihn zuständigen Krankenkasse im Eilverfahren nicht aufgeklärt werden konnte, war die vom Antragsteller gewählte Antragsgegnerin bis zur endgültigen Klärung des Sachverhalts vorläufig zur Leistung zu verpflichten.

Entscheidungsgründe:

Nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V sind versicherungspflichtig Personen, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben und zuletzt gesetzlich krankenversichert waren (Buchstabe a) oder bisher nicht gesetzlich oder privat krankenversichert waren, es sei denn, dass sie zu den in Absatz 5 oder den in § 6 Abs. 1 oder 2 genannten Personen gehören oder bei Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit im Inland gehört hätten (Buchstabe b). Nichtversicherte Personen werden also der GKV zugeordnet, wenn sie entweder zuletzt in der GKV versichert waren oder aber zu keiner Zeit krankenversichert waren, aber dem Grunde nach der GKV zuzuordnen sind.

a.) Der Antragsteller, der ab 01.03.2011 Regelaltersrente bezieht (Bescheid der DRV Bund vom 23.09.2011) hat keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall. Mangels erforderlicher Vorversicherungszeiten kommt weder eine Mitgliedschaft in der KVdR nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V noch eine freiwillige Mitgliedschaft nach § 9 SGB V in Betracht. Leistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch sind mit Bescheid vom 19.12.2011 vom Bezirksamt Hamburg-Nord wegen übersteigenden Einkommens abgelehnt worden, so dass auch das Betreuungsverhältnis nach § 264 Abs. 2 SGB V endete.

b.) Nach den gegenwärtig vorhandenen Erkenntnissen kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass der Antragsteller zu einem beliebigen früheren Zeitpunkt (vgl. BSG, Urteil vom 12.01.2011, Az. B 12 KR 11/09 R, juris) gesetzlich krankenversichert war. Dies dürfte mindestens ebenso wahrscheinlich sein, wie die Möglichkeit, dass der letzte Krankenversicherungsschutz vor dem versicherungslosen Zustand durch eine private Krankenversicherung gewährt wurde.

Der Antragsteller erinnert sich nach eigenem Vortrag nicht, wann und wo er bei welcher Krankenkasse versichert gewesen sei. Die Antragsgegnerin hat erklärt, dass der Antragsteller bei ihr vom 01.04.1974 bis 31.12.1982 lediglich zur Zahlung der Renten- und Arbeitslosenversicherungsbeiträge gemeldet gewesen sei, nicht aber als Mitglied. Nach damaligem Recht seien bei freiwilligen Mitgliedern einer Ersatzkasse die Renten- und Arbeitslosenversicherungsbeiträge über die Antragsgegnerin als Einzugsstelle abgeführt worden.

Auch die Antragsgegnerin hält es demnach für denkbar, dass der Antragsteller während der Zeiten seiner abhängigen Beschäftigung – falls nicht privat versichert – bei einer Ersatzkasse versichert war. Ohne Bedeutung wäre insoweit, in welchen Zeiträumen die dem Versicherungsverlauf der Deutschen Rentenversicherung Bund (vom 23.09.2011) zu entnehmenden Arbeitsentgelte des Antragstellers die Versicherungspflichtgrenze in der Krankenversicherung überschritten haben, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Antragsteller in diesen Zeiten zumindest freiwilliges Mitglied einer anderen Krankenkasse gewesen ist. Dies würde genügen, da eine gesetzliche Versicherung sowohl die frühere pflichtige als auch die freiwillige Mitgliedschaft umfasst (Klose, in: Jahn, SGB V, Teil 1, § 5 Rn. 236j).

c.) Denkbar ist zwar auch, dass der Antragsteller in der Vergangenheit weder gesetzlich noch privat krankenversichert war, so dass sich die Voraussetzungen einer Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 Buchstabe b) SGB V richten würden. Buchstabe b) betrifft Personen, die bislang über gar keine Krankenversicherung verfügten. In diesem Fall dürfte der Antragsteller indes wegen seiner zuletzt hauptberuflich ausgeübten selbständigen Tätigkeit gem. § 5 Abs. 1 Nr. 13 Buchstabe b), Abs. 5 SGB V auf die Möglichkeit, einen Versicherungsvertrag mit einem privaten Versicherer zum Basistarif abzuschließen (§ 12 Abs. 1b Satz 1 Nr. 2 Versicherungsaufsichtsgesetz – VAG –, § 193 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 Versicherungsvertragsgesetz – VVG), zu verweisen sein. Die Kammer hält es aber im vorliegenden Fall für unzumutbar, den Antragsteller auf diese Möglichkeit zu verweisen. Es liegt nämlich nahe, dass sich das gewählte Versicherungsunternehmen auf die Versicherungspflicht des Antragstellers in der GKV berufen wird. § 12 Abs. 1b Satz 1 Nr. 2, § 193 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 VVG statuieren einen Kontrahierungszwang nur bezogen auf solche Personen, die nicht in der GKV versicherungspflichtig sind. Gerade diese Frage kann aber vorliegend noch nicht abschließend beantwortet werden, sondern muss dem Verwaltungsverfahren und ggf. dem sich anschließenden Klageverfahren überlassen bleiben.

d.) Hinsichtlich der Zuständigkeit der Antragsgegnerin stellt sich die Rechtslage wie folgt dar: Nach § 174 Abs. 5, Halbsatz 1 SGB V werden Versicherungspflichtige nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V abweichend von § 173 SGB V Mitglied der Krankenkasse oder dem Rechtsnachfolger der Krankenkasse, bei der sie zuletzt versichert waren, andernfalls werden sie Mitglied der von ihnen nach § 173 Abs. 1 SGB V gewählten Krankenkasse. Zugleich bestimmt Halbsatz 2 der Vorschrift, dass "§ 173 SGB V gilt". Da die Zuweisung zur früheren Krankenkasse zwingend ist, stehen die Wahlrechte aus § 173 SGB V grundsätzlich nur der Gruppe der Versicherungspflichtigen offen, bei denen ein Versicherungsverhältnis nie bestand (Just, in: Becker/Kingreen, SGB V, 2. Aufl. 2010, § 5 Rn. 6). Sofern der Antragsteller also zuletzt gesetzlich krankenversichert gewesen ist (s.o.), wäre er zunächst Mitglied der Krankenkasse oder des Rechtsnachfolgers geworden, bei der er zuletzt Mitglied war. Das allgemeine Kassenwahlrecht nach § 173 SGB V ist damit bei Beginn der Mitgliedschaft ausgeschlossen.

Wie bereits ausgeführt, konnte aber im Eilverfahren die letzte Krankenversicherung des Antragstellers nicht ermittelt werden. Wegen der Notwendigkeit, effektiven vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, hindern diese Unsicherheiten das Gericht aber nicht daran, die Antragsgegnerin einstweilen zur Leistung zu verpflichten. Denn angesichts der Behandlungsbedürftigkeit und damit der drohenden Verletzung des Grundrechts des Antragstellers auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) waren weitere Ermittlungen durch das Gericht nicht statthaft. Aus demselben Grunde kann vorliegend dahingestellt bleiben, ob § 174 Abs. 5 Satz 1, Halbsatz 2 SGB V nicht ohnehin analog auf jene Fälle anwendbar ist, in denen die frühere Krankenkasse nicht ermittelt werden kann (so SG Landshut, Beschluss vom 14.09.2009, Az. S 4 KR 129/09 ER, juris).

Die dem Antragsteller drohenden, genannten Nachteile im Falle der Versagung einstweiligen Rechtsschutzes überwiegen die rein finanziellen Folgen, denen sich nunmehr die Antragsgegnerin ausgesetzt sieht. Dabei ist zudem zu berücksichtigen, dass diese Folgen ggf. nur vorläufige sind, da der Antragsgegnerin ein Erstattungsanspruch nach § 105 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch zustehen dürfte, wenn sich nach weiteren Ermittlungen herausstellen sollte, dass eine andere Krankenkasse zur Durchführung der Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V zuständig ist.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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