L 13 SB 106/11

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 34 SB 168/09
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 106/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 12. April 2011 sowie der Bescheid des Beklagten vom 22. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juni 2009 abgeändert. Der Beklagte wird verpflichtet, das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" beim Kläger ab dem 2. November 2011 festzustellen. Der Beklagte hat zwei Drittel der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers des Berufungsverfahrens zu erstatten. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Mit seiner Berufung erstrebt der Kläger die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens "G" zuletzt ab dem 2. November 2011.

Der 1969 geborene Kläger erlitt im März 2007 im Rahmen eines Arbeitsunfalles ein komplexes Überrolltrauma des rechten Fußes. Am 1. Juli 2008 beantragte der Kläger beim Beklagten die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) sowie des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens "G". Nach Beiziehung ärztlicher Unterlagen, insbesondere von der Berufsgenossenschaft für stellte der Beklagte mit Bescheid vom 22. Oktober 2008 fest, dass der GdB beim Kläger 50 betrage. Dabei berücksichtigte der Beklagte folgende Funktionsbeeinträchtigungen:

Fußfehlbildung rechts (Einzel-GdB 40) Posttraumatische Belastungsstörung (Einzel-GdB 20) Schilddrüsenfunktionsstörung (Einzel-GdB 10)

Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches einer erheblichen Gehbehinderung (Merkzeichen "G") lägen nicht vor. Den gegen den Bescheid vom Kläger am 21. November 2008 eingelegten Widerspruch wies der Beklagte nach Einholung weiterer Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte mit Widerspruchsbescheid vom 19. Juni 2009 mit der Begründung zurück, nach Auswertung der weiteren beigezogenen medizinischen Unterlagen ergäbe sich keine Standpunktänderung.

Der Kläger hat am 17. Juli 2009 Klage vor dem Sozialgericht Potsdam erhoben, mit der er die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" ab Juli 2008 begehrte. Das Sozialgericht hat ein fachunfallchirurgisches Gutachten von Prof. Dr. E vom 6. April 2009, ein Fahrtauglichkeitsgutachten des TÜV Rheinland vom 26. Mai 2009, erstellt von der Ärztin Dr. Z, ein Rentengutachten von Prof. Dr. E vom 25. September 2009, ein psychologisches Zusatzgutachten der Diplompsychologin G-B vom 23. Oktober 2009 sowie ein neurologisch-psychiatrisches Fachgutachten von Dr. T vom 25. April 2010 und Befundberichte von Prof. Dr. E vom 8. Oktober 2009, der Diplompsychologin G-B vom 16. Oktober 2009 und des Orthopäden Dr. H vom 16. Oktober 2009 beigezogen.

Mit Urteil vom 12. April 2011 hat das Sozialgericht Potsdam die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht erheblich beeinträchtigt, insbesondere erreichten die Beeinträchtigungen der Funktionen der unteren Extremitäten nach den vorliegenden ärztlichen Unterlagen nach Überzeugung des Sozialgerichts nicht einen GdB von wenigstens 50.

Gegen das ihm am 20. Mai 2011 zugestellte Urteil hat der Kläger am 20. Juni 2011 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren zunächst in vollem Umfang weiter verfolgt hat. Der Senat hat den Allgemeinmediziner und Facharzt für physikalische und rehabilitative Medizin Dr. S mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. In seinem Gutachten vom 15. November 2011 gelangt der Sachverständige aufgrund der Untersuchung des Klägers am 2. November 2011 zu der Einschätzung, dass der Gesamtgrad der Behinderungen durchgehend seit Juli 2008 auf 50 einzuschätzen sei. Dem lägen folgende Funktionsbeeinträchtigungen zu Grunde:

Zustand nach komplexem Fußtrauma rechts mit Ausbildung eines chronifizierten Schmerzsyndroms im Stadium II nach Gerbershagen (Einzel-GdB 40) Depressive Störung, Zustand nach posttraumatischem Belastungssyndrom (Einzel-GdB 20) Operiertes Schilddrüsenleiden bei Autoimmunerkrankung mit vollständiger Entfernung der Schilddrüse (Einzel-GdB 10)

Des Weiteren führt der Sachverständige aus, der Kläger könne infolge einer Einschränkung des Gehvermögens jedenfalls zum Zeitpunkt der Begutachtungsuntersuchung nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten Wegstrecken im Ortsverkehr zurücklegen, die üblicher Weise noch zu Fuß zurückgelegt werden können; insofern sei seit November 2008 infolge der weitergehenden Belastung eine Verschlechterung eingetreten. Dabei handele es sich zwar nicht um eine Gesundheitsstörung der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule, die für sich einen Einzel-GdB von wenigstens 50 bedinge. Jedoch läge eine funktionelle Beeinträchtigung im Bereich der unteren Extremitäten vor, die mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten sei. Genau diese Behinderung wirke sich auf die Gehfähigkeit des Klägers besonders negativ aus. Es liege zwar keine Versteifung des Hüftgelenkes, des Kniegelenkes in ungünstiger Stellung oder eine arterielle Verschlusserkrankung vor; es bestünde aber ein ähnliches Leiden, das sich auf die Gehfähigkeit besonders negativ auswirke. Der Sachverständige beschreibt ein unter der Benutzung von zwei Unterarmgehstützen nach einer Gehstrecke von 200 Meter aufgrund der deutlichen Schmerzsymptomatik zunehmend pathologisches Gangbild des Klägers, bei dem ein vermehrtes Entlasten eintrete und die Geschwindigkeit deutlich sinke. Der Kläger sei keinesfalls in der Lage, eine Wegstrecke von 2 km innerhalb von 30 Minuten zurückzulegen.

Der Kläger beantragt nach Beschränkung der Berufung im Termin zur mündlichen Verhandlung am 6. September 2012 zuletzt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 12. April 2011 zu ändern und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 22. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juni 2009 zu verpflichten, bei dem Kläger ab dem 2. November 2011 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens "G" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angegriffene Entscheidung unter Bezugnahme auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme vom 3. Januar 2012 für zutreffend und hat in der mündlichen Verhandlung den Hilfsbeweisantrag zu Protokoll gestellt, ein medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen zu der Frage, welcher GdB bei den unteren Gliedmaßen des Klägers einschließlich der Ledenwirbelsäule besteht. Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 144 Absatz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), und im noch streitigen Umfang auch in der Sache begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Änderung des erstinstanzlichen Urteils sowie des angegriffenen Bescheides. Der Bescheid des Beklagten vom 22. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juni 2009 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, soweit darin festgestellt wird, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens "G" nicht seit dem 2. November 2011 vorliegen.

Gemäß § 145 Absatz 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Nach § 146 Absatz 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Über das Vorliegen dieser Voraussetzungen treffen nach § 69 Absatz 4 SGB IX die Versorgungsämter die erforderlichen Feststellungen.

Bei der Prüfung der Frage, ob die genannten Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 10. Dezember 1987 – 9a RVs 11/87, Rn. 8 ff. bei Juris). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Denn Nr. 30 Absatz 3 bis 5 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit 2005 und 2008 bzw. Teil D Nr. 1d der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) geben an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, um annehmen zu können, dass ein behinderter Mensch infolge einer Einschränkung des Gehvermögens in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass das Gehvermögen des Menschen von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird, zu denen neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also dem Körperbau und etwaigen Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, gehören. Von all diesen Faktoren filtern die Anhaltspunkte bzw. die Versorgungsmedizinverordnung diejenigen heraus, die außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des behinderten Menschen nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen. Die Anhaltspunkte bzw. die Versorgungsmedizinverordnung beschreiben dabei Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen sind, und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997 – 9 RVs 1/96, Rn. 19 bei Juris).

Die von Nr. 30 Absatz 3 Satz 2 der AHP bzw. in Teil D Nr. 1d Satz 2 der Anlage zu § 2 VersMedV genannten Voraussetzungen liegen hier vor. Beim Kläger ist eine Behinderung an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirkt. Zu dieser Überzeugung gelangt der Senat aufgrund der Feststellungen des Sachverständigen Dr. S. Dieser hat schlüssig dargelegt, dass der Kläger in Form des Fußtraumas rechts mit Ausbildung eines chronifizierten Schmerzsyndroms an einer komplexen funktionellen Beeinträchtigung leidet, die für sich gesehen mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten ist und erhebliche Auswirkungen auf die Gehfähigkeit des Klägers hat. Da auch der Beklagte in seinem Bescheid vom 22. Oktober 2008 für die Einschränkungen des Klägers an den unteren Gliedmaßen einen Einzel-GdB von 40 zugrunde gelegt hat, war der von dem Beklagten in der mündlichen Verhandlung aufgeworfenen Frage der Höhe des Einzel-GdB für die unteren Gliedmaßen einschließlich der Lendenwirbelsäule durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens nicht weiter nachzugehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Absatz 1 SGG und berücksichtigt den überwiegenden Erfolg des klägerischen Berufungsbegehrens.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe gemäß § 160 Absatz 2 SGG nicht gegeben sind.
Rechtskraft
Aus
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