S 13 KR 414/08

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 13 KR 414/08
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 154/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 12 KR 11/10 R
Datum
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 1. September 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Dezember 2008 wird aufgehoben und festgestellt, dass die Klägerin seit dem 9. Juli 2008 der Versicherungspflicht zur Kranken- und Pflegeversicherung unterliegt.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um eine Mitgliedschaft der Klägerin bei der Beklagten.

Die jetzt 61-jährige Klägerin war zuletzt in der Zeit vom 18. Oktober 1997 bis 2. Januar 1998 bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. In der Zeit von April 1999 bis April/Mai 2004 war sie bei der Firma W. geringfügig beschäftigt und nicht gesetzlich krankenversichert. Anschließend in der Zeit von 2004 bis zum 6. Januar 2008 war sie privat krankenversichert. In der Zeit vom 17. Januar 2008 bis 7. Juli 2008 arbeitete sie bei der Firma S., A-Stadt, geringfügig und war nicht gesetzlich krankenversichert. Ab dem 9. Juli 2008 begründete sie ein Arbeitsverhältnis mit der Firma G. D. GmbH in B-Stadt.

Am 2. Januar 2008 stellte die Beklagte eine Mitgliedsbescheinigung aus, wonach die Klägerin gemäß § 175 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) seit dem 7. Januar 2007 bei ihr Mitglied sei.

Mit Schreiben vom 26. August 2008 wandte sich die Beklagte an die Klägerin wegen deren Antrag auf Mitgliedschaft in der Kranken- und Pflegeversicherung. Sie wies auf die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft für Personen hin, die 55 Jahre und älter sind. Mit weiterem Schreiben vom 1. September 2008 wandte sich die Beklagte an die Arbeitgeberin der Klägerin und teilte dieser mit, dass die dortige Beschäftigung der Klägerin kranken- und pflegeversicherungsfrei sei.

Mit Bescheid vom 1. September 2008 stellte die Beklagte fest, dass bezüglich der Klägerin die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft bei ihr nicht vorlägen. Die seit dem 9. Juli 2008 ausgeübte Beschäftigung sei kranken- und pflegeversicherungsfrei. Sie wies in der Begründung darauf hin, dass für Personen, die 55 Jahre und älter seien, nur in Verbindung mit einer Vorversicherungszeit eine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung gegeben sei. Die Vorversicherungszeit sei erfüllt, wenn innerhalb der letzten fünf Jahre vor Aufnahme der jetzigen Beschäftigung eine Mitgliedschaft bei einer gesetzlichen Krankenkasse bestanden habe. Darüber hinaus gelte die Vorversicherungszeit als erfüllt, wenn in den letzten fünf Jahren weniger als 30 Monate eine versicherungsfreie Beschäftigung ausgeübt worden sei, eine Befreiung von der Versicherungspflicht erfolgt oder eine selbstständige Tätigkeit ausgeübt worden sei.

Gegen den Bescheid vom 1. September 2008 legte die Klägerin am 16. September 2008 Widerspruch ein. Sie trug vor, dass ihr die Mitgliedsbescheinigung ausgestellt worden sei, nachdem sie mit einer Sachbearbeiterin der Beklagten namens G. A. hierüber gesprochen habe. Erst nachdem sie die Mitgliedsbescheinigung mit Datum vom 2. Januar 2008 erhalten hätte, habe sie ihre private Krankenversicherung mit Schreiben vom 3. Januar 2008 gekündigt.

Nachdem die Beklagte die Klägerin nochmals mit Schreiben vom 30. September 2008 über die Rechtslage informiert hatte, wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 2. Dezember 2008 zurück. In der Begründung wies die Beklagte auf die Regelung des § 6 Abs. 3a SGB V hin, wonach Personen, die nach Vollendung des 55. Lebensjahres versicherungspflichtig werden, versicherungsfrei seien, wenn sie in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Versicherungspflicht nicht gesetzlich versichert gewesen seien. Weitere Voraussetzung sei, dass diese Person mindestens die Hälfte dieser Zeit versicherungsfrei, von der Versicherungspflicht befreit oder nach § 5 Abs. 5 SGB V nicht versicherungspflichtig gewesen sei. Die Klägerin sei in der maßgeblichen Rahmenfrist vom 10. Juli 2003 bis 9. Juli 2008 nicht gesetzlich krankenversichert gewesen. Es habe auch keine Familienversicherung bei einer gesetzlichen Krankenversicherung bestanden. Daher sei die ab 9. Juli 2008 ausgeübte Beschäftigung kranken- und pflegeversicherungsfrei. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der ihr zu einem früheren Zeitpunkt ausgestellten "Mitgliedsbescheinigung zur Vorlage an den Arbeitgeber". Zum einen diene eine solche Mitgliedsbescheinigung lediglich dem Zweck, dass der fragliche Arbeitgeber eine Meldung zur Sozialversicherung vornehmen könne. Jedoch sei weder eine Meldung erfolgt noch seien in Bezug auf das damalige Beschäftigungsverhältnis die Voraussetzungen einer Versicherungspflicht geprüft worden. Zum anderen sei für die Beurteilung des Versicherungsverhältnisses allein das betroffene Beschäftigungsverhältnis maßgebend. Dies sei vorliegend das Beschäftigungsverhältnis bei der G. D. GmbH.

Dagegen hat die Klägerin am 22. Dezember 2008 Klage bei dem Sozialgericht Darmstadt erhoben.

Sie verweist nochmals auf die ausgestellte Mitgliedsbescheinigung der Beklagten vom 2. Januar 2008. Von daher sei bei der Klägerin bereits von einem Vertrauenstatbestand auszugehen, da die Beklagte anlässlich dieses Schreibens genügend Gelegenheit gehabt habe, die Voraussetzungen bei der Klägerin zu prüfen.

Sie sei davon ausgegangen, dass mit dieser Erklärung die Mitgliedschaft bestätigt worden sei, sie zu diesem Zeitpunkt also Mitglied gewesen sei und diese Erklärung dem Arbeitgeber für die Entrichtung der Beiträge nur vorzuliegen habe. Sie habe erst auf Mitteilung der Beklagten, dass Beiträge von dem Arbeitgeber (gemeint ist die Firma S.) nicht gezahlt worden seien, den Arbeitgeber zum Juli 2008 gewechselt. Zudem hätte vor einer anderen Entscheidung eine Anhörung der Klägerin erfolgen müssen. Außerdem wäre eine Rücknahme nach § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) erforderlich gewesen. Sie sei auch nicht privat krankenversichert. Sie habe mit Schreiben vom 3. Januar 2008 das Versicherungsverhältnis bei der X. W-Stadt gekündigt. Mittlerweile sei bei ihr eine Krebserkrankung im Gewebe der Gebärmutter festgestellt worden.

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 1. September 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Dezember 2008 aufzuheben und festzustellen, dass die Klägerin seit dem 9. Juli 2008 der Versicherungspflicht zur Kranken- und Pflegeversicherung unterliegt.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, eine Mitgliedschaft der Klägerin ergebe sich weder aus dem Gesetz noch aus dem vorgetragenen Vertrauen in eine Mitgliedschaft.

Am 7. April 2009 hat die Klägerin bei dem Sozialgericht Darmstadt einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wegen der Kostenübernahme einer am 25. März 2009 begonnenen Krebstherapie gestellt (S 13 KR 89/09 ER), den sie im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 24. April 2009 zurückgenommen hat. Dort hat die Beklagte vorgetragen, das Ausstellen einer Mitgliedsbescheinigung nach § 175 SGB V sei kein ein Versicherungsverhältnis begründender Verwaltungsakt, sondern lediglich die (irrtümliche) Bestätigung einer vermeintlich kraft Gesetzes entstandenen Mitgliedschaft. Eine Mitgliedschaft werde hierdurch nicht begründet, weil eine solche nur kraft Gesetzes entstehe, wenn die dafür nominierten Voraussetzungen erfüllt seien. Die formularmäßige Bestätigung der Mitgliedschaft enthalte keinen oder allenfalls einen deklaratorischen Verwaltungsakt. Eine Bescheinigung über die Mitgliedschaft entfaltet keine Bindungswirkung, sie sei kein Verwaltungsakt, der nach § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindend werden könne.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen sowie wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten (S 13 KR 414/08 und S 13 KR 89/09 ER) sowie die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist auch begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 1. September 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Dezember 2008 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Antragsgemäß war festzustellen, dass die Klägerin seit dem 9. Juli 2008 der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung unterliegt.

Die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft der Klägerin in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung ergeben sich jedoch nicht aufgrund der Mitgliedsbescheinigung vom 2. Januar 2008. So ist schon umstritten, ob es sich bei einer derartigen Mitgliedsbescheinigung im Sinne des § 175 Abs. 2 SGB V um einen Verwaltungsakt handelt. Die überwiegende Literaturmeinung verneint insoweit Verwaltungsaktqualität (LPK-SGB V/Hänlein, § 175 Rdnr. 23; Peters, Krankenversicherung, § 175 Rdnr. 24, 25; Jahn/Klose, SGB V; § 175 Rdnr. 26, 27). Teilweise wird davon ausgegangen, dass es sich bei der Mitgliedsbescheinigung zwar um einen Verwaltungsakt handele, dieser sei allerdings nur feststellender und nicht konstitutiver Natur (Hauck, SGB V, § 175 Rdnr. 9; ähnlich Peters in: Kasseler Kommentar, § 175 Rdnr. 20, der eine Verwaltungsaktqualität mit dem Inhalt der Aussage zur Wählbarkeit der angegangenen Krankenkasse erörtert). Soweit von einem Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ausgegangen wird (juris-PK/Blocher, § 175 Rdnr. 27) wird ausgeführt, dass sich der Regelungsgehalt dieser Bescheinigung auf die Abgabe einer wirksamen Wahlrechts Erklärung durch den Wählenden bezieht. Damit steht fest, dass die ausgestellte Mitgliedsbescheinigung auf keinen Fall eine konstitutive Wirkung entfaltet.

Selbst wenn man ihr eine Verwaltungsaktsqualität zuerkennt, was vorliegend nicht zu entscheiden war, ergeben sich daraus keinerlei leistungsrechtliche Ansprüche gemäß den § 20 ff SGB V.

Die Mitgliedschaft der Klägerin zur gesetzlichen Krankenversicherung ergibt sich jedoch aus § 5 Abs. 1 Nr. 1 SGB V bzw. für die soziale Pflegeversicherung aus § 20 Abs. 1 Nr. 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI). Danach sind versicherungspflichtig Arbeiter und Angestellte und zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigte, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind. Es ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass die Klägerin derzeit im Rahmen ihrer Tätigkeit für die Firma G. D. GmbH werktäglich 5,5 Stunden beschäftigt ist. Ihre Aufgabe ist es, in einem Krankenhaus in A-Stadt die Operationssäle zu desinfizieren.

De Versicherungspflicht der Klägerin wird nicht durch die Regelung des § 6 Abs. 3a SGB V ausgeschlossen. Danach sind Personen, die nach Vollendung des 55. Lebensjahres versicherungspflichtig werden, versicherungsfrei, wenn sie in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Versicherungspflicht nicht gesetzlich versichert waren. Weitere Voraussetzung ist, dass diese Personen mindestens die Hälfte dieser Zeit versicherungsfrei, von der Versicherungspflicht befreit oder nach § 5 Abs. 5 SGB V nicht versicherungspflichtig waren.

Die Regelung dient einer klareren Abgrenzung zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung und soll die Solidargemeinschaft der gesetzlich Versicherten schützen. Versicherungsfreie Personen, die sich frühzeitig für eine Absicherung in der privaten Krankenversicherung entschieden haben, sollen diesem System auch im Alter angehören. Ohne die Regelung dieser Vorschrift könnten ältere Personen Pflichtmitglieder in der gesetzlichen Krankenversicherung werden, obwohl sie bislang zu keinem Zeitpunkt einen eigenen Beitrag zu den Solidarlasten geleistet haben (BT-Drs 14/1245, S. 19b, 20b; Peters in: Kasseler Kommentar, § 6 SGB V Rdnr. 56; juris-PK/Felix, § 6 SGB V Rdnr. 56). Die gesetzliche Regelung des § 6 Abs. 3a S. 2 SGB V hat zur Folge, dass solche Personen auch nach Vollendung des 55. Lebensjahres ohne Vorversicherung in den letzten fünf Jahren versicherungspflichtig werden, die als Langzeitarbeitslose nach dem Bezug von Sozialhilfe, nach längerem Auslandsaufenthalt oder als Ausländer versicherungspflichtig werden, insbesondere eine abhängige Beschäftigung aufnehmen (BT-Drs a.a.O.).

Aber auch bei Personen, die nicht erwerbstätig oder als Selbstständige nicht versicherungspflichtig waren, sind die Voraussetzungen des Abs. 3a ggfs. nicht erfüllt (Krauskopf/Baier, a.a.O. Rdnr. 56).

Zwar war die Klägerin in der hier maßgeblichen Vorfrist vom 9. Juli 2003 bis 8. Juli 2008 (zur Berechnung allgemein, vgl. Krauskopf/Baier, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, § 6 SGB V Rdnr. 53) nicht gesetzlich versichert. Dies ergibt sich aus dem eigenen Vortrag der Klägerin und ist zwischen den Beteiligten nicht streitig.

Weitere Voraussetzung des § 6 Abs. 3a Satz 2 SGB V ist jedoch, dass die Klägerin mindestens die Hälfte dieser Zeit versicherungsfrei, von der Versicherungspflicht befreit oder nach § 5 Abs. 5 SGB V nicht versicherungspflichtig gewesen ist. Insoweit ist maßgeblich ein Zeitraum von 910 Kalendertagen innerhalb der Rahmenfrist (vgl. zur Berechnung allgemein, Krauskopf/Baier, a.a.O., Rdnr. 55). Es ist nicht erkennbar, dass bei der Klägerin Versicherungsfreiheit in dem maßgeblichen Zeitraum nach § 6 Abs. 1 SGB V vorgelegen hat. Weiter war die Klägerin während dieses Zeitraums nicht hauptberuflich selbständig erwerbstätig. Sie war auch nicht gemäß § 8 SGB V von der Versicherungspflicht befreit. So hat sie im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 24. April 2009 glaubhaft mitgeteilt, dass sie nach Beendigung der geringfügigen Tätigkeit bei der Firma W. als Hausfrau zu Hause wirkte. Zwar bestand während eines Teils der Zeit Versicherungsfreiheit gemäß § 7 Abs. 1 SGB V. Allerdings wird die notwendige Zeit von 910 Kalendertagen hierdurch nicht erreicht. Insoweit können nur die Zeiten vom 9. Juli 2003 bis maximal 31. Mai 2004 (maximal 328 Tage) und die Zeit vom 17. Januar 2008 bis 7. Juli 2008 (173 Tage) berücksichtigt werden. Berücksichtigungsfähig sind mithin 501 Kalendertage. Selbst wenn das geringfügige Beschäftigungsverhältnis bei der Firma W. über den 31. Mai 2004 hinaus das ganze Jahr 2004 über bestanden hätte, wären die notwendigen 910 Kalendertage nicht erreicht.

Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 3a Satz 3 SGB V sind von der Kammer im Rahmen der Entscheidungsfindung nicht geprüft worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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