S 21 AS 2/09

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
21
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 21 AS 2/09
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im Wege des Zugunsten-Verfahrens um die Bewilligung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Die am 00.00.1974 geborene Klägerin stand im Bezug laufender Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Am 29.09.2008 beantragte die Klägerin die Überprüfung sämtlicher in der Zeit vom 01.01.2005 bis zum 31.12.2007 erlassener Bewilligungsbescheide des Beklagten. Zur Begründung trug sie vor, der Beklagte habe ihre Regelleistungen rechtswidrig um Einnahmen gekürzt, die sie aus der Inanspruchnahme von Verpflegung in stationären Einrichtungen erzielt haben solle. Mit Überprüfungsbescheid vom 14.10.2008 lehnte der Beklagte die Bewilligung zusätzlicher Leistungen ab. Hiergegen legte die Klägerin am 20.10.2008 Widerspruch ein, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11.12.2008 zurückwies.

Mit ihrer am 07.01.2009 erhobenen Klage trägt die Klägerin vor, das Bundessozialgericht habe entschieden, dass keine Anrechnung von Verpflegung in stationären Einrichtungen in Form erzielten Einkommens auf ihre Regelleistungen nach § 11 Abs. 1 SGB II erfolgen dürfe. In dem streitigen Zeitraum habe sie sich wiederholt im Krankenhaus befunden. Der Beklagte habe ihr für Verpflegung Einkommen i.H.v. 792,94 EUR angerechnet und ihre Leistungen entsprechend gekürzt.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 14.10.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.12.2008 zu verpflichten, 792,94 EUR an sie auszuzahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er meint, mit dem Urteil des Bundessozialgerichts habe sowohl eine gefestigte Rechtsprechung, als auch eine bundeseinheitliche Verwaltungspraxis zur Anrechnung von Verpflegung in stationären Einrichtungen bestanden. Die Aufhebung der in der Zeit vom 01.01.2005 bis zum 31.12.2007 erlassenen Bewilligungsbescheide durch den angefochtenen Überprüfungsbescheid, komme daher nicht in Betracht. Das Bundessozialgericht habe am 18.06.2008 entschieden, dass keine Anrechnung der Verpflegung auf das Einkommen von Grundsicherungsempfängern erfolgen dürfe. Bereits am 17.07.2008 habe der Beklagte seine Weisungen in Absprache mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts angepasst. Dies sei auf Weisung der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit für das Land Nordrhein-Westfalen erfolgt. Bundesweit sei am 20.07.2008 eine entsprechende Durchführungsanweisung ergangen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den der Verwaltungsakten des Beklagten, die bei der Entscheidung vorgelegen haben, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall gegeben.

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin ist durch den Bescheid vom 14.10.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.12.2008 nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), denn dieser Bescheid ist rechtmäßig.

Die in der Zeit vom 01.01.2005 bis zum 31.12.2007 erlassenen Bescheide waren anfänglich, das heißt nach der im Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe gegebenen Sach- und Rechtslage (vgl. Bundessozialgericht (BSG) Urteil vom 01.12.1999 - B 5 RJ 20/98 R - BSGE 85, 151, 153 = SozR 3-2600 § 300 Nr. 15), rechtswidrig i.S. des § 44 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Zur Rücknahme anfänglich rechtswidriger Verwaltungsakte bestimmt § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X, dass ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind (zur uneingeschränkten Anwendbarkeit des § 44 SGB X auch im Bereich des SGB II vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 01.06.2010 - B 4 AS 78/09 R - SozR 4-4200 § 22 Nr. 36; vgl. aber nunmehr § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II i.d.F. des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch - RBEG - vom 24.03.2011 (BGBl I 453)). Der Beklagte ist mit seinen in der Zeit vom 01.01.2005 bis zum 31.12.2007 erlassenen Bewilligungsbescheiden davon ausgegangen, dass er die Regelleistung wegen der Verpflegung während der Krankenhausaufenthalte der Klägerin um 35 vom Hundert kürzen könne. Insofern hat das BSG jedoch mit Urteil vom 18.06.2008 entschieden, dass für die vorgenommene anteilige Kürzung der Regelleistung jedenfalls im hier streitigen Zeitraum keine Rechtsgrundlage existierte (B 14 AS 22/07 R - BSGE 101, 70 ff = SozR 4-4200 § 11 Nr. 11, RdNr. 14). Die im Krankenhaus bereitgestellte Verpflegung könne nicht als Einkommen nach § 11 SGB II berücksichtigt werden. Selbst wenn man davon ausginge, dass die Gewährung von Verpflegung eine Einnahme in Geldeswert gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II darstelle, sei aufgrund des Wortlauts und der Struktur des § 13 SGB II jedenfalls zu fordern, dass in der Arbeitslosengeld II-Verordnung (Alg II-V) selbst ausdrücklich geregelt werde, "wie das Einkommen im Einzelnen zu berechnen sei". Insofern habe die Alg II-V im streitigen Zeitraum jedoch keinerlei Rechtsgrundlage oder auch nur interpretatorischen Anhalt für den konkreten Rechenschritt enthalten, die Regelleistung um 35 vom Hundert zu kürzen (BSG a.a.O.). Auch sei nach dem Leistungssystem des SGB II und wegen des bedarfsdeckenden und pauschalierenden Charakters der Regelleistung eine individuelle Bedarfsermittlung bzw. abweichende Bestimmung der Höhe der Regelleistung weder zu Gunsten noch zu Lasten des Grundsicherungsempfängers vorgesehen (BSG Urteil vom 18.06.2008 - B 14 AS 22/07 R - BSGE 101, 70 ff = SozR 4-4200 § 11 Nr. 11, RdNr. 22).

In dem hier zu entscheidenden Fall durfte der Beklagte seine Bewilligungsbescheide nicht nach § 44 SGB X zurücknehmen, denn nach der Entscheidung des BSG zur Nicht-Anrechnung von Verpflegung als Einkommen lag eine ständige Rechtsprechung vor, durch welche die Rechtsfrage abschließend entschieden wurde, und im Zeitpunkt des Überprüfungsantrages bestand auch bereits eine bundeseinheitliche Verwaltungspraxis zu der Entscheidung des BSG. Insofern bestimmt § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II, dass die Vorschriften des Dritten Buches über die Aufhebung von Verwaltungsakten (§ 330 Abs. 1, 2, 3 Satz 1 und 4) entsprechend anwendbar sind. Nach § 330 Abs. 1 SGB III ist ein Verwaltungsakt, wenn er unanfechtbar geworden ist, nur mit Wirkung für die Zeit nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht (BVerfG) oder ab dem Bestehen der ständigen Rechtsprechung zurückzunehmen, wenn die in § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts vorliegen, weil er auf einer Rechtsnorm beruht, die nach Erlass des Verwaltungsaktes für nichtig oder für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt (erste Alternative) oder in ständiger Rechtsprechung anders als durch die Agentur für Arbeit ausgelegt worden ist (zweite Alternative). Wegen der nur "entsprechenden Anwendbarkeit" des Sozialgesetzbuches Drittes Buch (SGB III) dürfen die Vorschriften des SGB III nicht wörtlich genommen werden, sondern sind an die besonderen Verhältnisse im Bereich des SGB II anzupassen (siehe Eicher in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl. 2008, § 40 RdNr. 7). Trotz des Umstandes, dass § 330 Abs. 1 SGB III auf die Auslegung durch die "Agentur für Arbeit" Bezug nimmt, ist die Regelung daher auf alle Träger im Bereich des SGB II grundsätzlich anwendbar. Eine eingeschränkte, nur auf bestimmte Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende bezogene Anwendbarkeit des § 330 Abs. 1 SGB III lässt sich weder dem Wortlaut des § 40 SGB II noch den Gesetzesmaterialien (vgl. BT-Drucks 15/1516 S 63) entnehmen. Insofern haben die beiden für das Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen Senate des BSG bereits entschieden, dass § 330 Abs. 1 SGB II über § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II sowohl für die Bundesagentur für Arbeit (BA) als Trägerin der Leistungen nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II als auch für die kommunalen Träger für Leistungen nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II gilt (vgl. BSG Urteil vom 01.06.2010 - B 4 AS 78/09 R - BSGE 106, 155 = SozR 4-4200 § 22 Nr. 36 und BSG Urteil vom 15.12.2010 - B 14 AS 61/09 R). Die Rechtswidrigkeit der zwischen dem 01.01.2005 und dem 31.12.2007 erlassenen Bewilligungsbescheide beruht auf einer anderen "Auslegung einer Rechtsnorm" in ständiger Rechtsprechung durch das BSG i.S. des § 330 Abs. 1 SGB III. Eine "ständige Rechtsprechung" (vgl. hierzu auch Fichte, NZS 1998, 1 ff) kann bereits entstehen, wenn das BSG als Revisionsgericht in nur einer Entscheidung eine Rechtsfrage in einem bestimmten Sinne beantwortet hat und die Rechtsfrage damit "hinreichend geklärt" ist (BSG Urteil vom 23.03.1995 - 11 RAr 71/94 - SozR 3-4100 § 152 Nr. 5 RdNr. 22; BSG Urteil vom 29.06.2000 - B 11 AL 99/99 R - SozR 3-4100 § 152 Nr. 10 RdNr. 18 f). Dies ist hier der Fall. Mit dem Urteil des 14. Senats des BSG vom 18.06.2008 (B 14 AS 22/07 R, BSGE 101, 70 ff = SozR 4-4200 § 11 Nr. 11) ist eine abschließende Klärung der Problematik der Berücksichtigung kostenfreier Verpflegung im Krankenhaus bei der Höhe der Regelleistung für die im hier streitigen Zeitraum geltende Rechtslage eingetreten. Dies wird auch darin deutlich, dass die BA in ihrem Schreiben der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen vom 17.07.2008 und ihrer Geschäftsanweisung Nr. 28 vom 20.07.2008 "Anrechnung von Verpflegung während eines Krankenhausaufenthalts" zur Umsetzung dieser Entscheidung ausgeführt hat, dass Fälle aus der Zeit bis zum 31.12.2007, die noch im Widerspruchs- oder Klageverfahren seien, klaglos gestellt werden sollten. Es liegt eine andere "Auslegung einer Rechtsnorm" i.S. des § 40 Abs. 1 Satz 2 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 1 SGB II vor, weil sich der 14. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 18.06.2008 (B 14 AS 22/07 R - BSGE 101, 70 ff = SozR 4-4200 § 11 Nr. 11) nach Erörterungen zur nicht möglichen Berücksichtigung der "anderweit bereitgestellten Vollverpflegung" als Einkommen nach § 11 SGB II mit der im SGB II nicht zulässigen abweichenden Bestimmung der Regelleistungshöhe befasst. Dies beinhaltet eine - gegenüber der Interpretation des Beklagten - abweichende Auslegung der §§ 9, 20 SGB II (BSG a.a.O. RdNr. 22 ff). Auch wenn die - nachfolgende - ständige Rechtsprechung zu dem Ergebnis gelangt, dass keine der von dem Sozialleistungsträger herangezogenen Normen Grundlage für eine Kürzung der Regelleistung sein kann, beruht die angefochtene Verwaltungsentscheidung auf einer dieser Rechtsnormen i.S. des § 330 Abs. 1 SGB III (Zum Ganzen: BSG Urteil vom 21.06.2011, B 4 AS 118/10 R). Die Anwendbarkeit des § 330 Abs. 1 Satz 1 SGB III für eine zeitlich nur eingeschränkte Rücknahme scheitert auch nicht daran, dass eine bundeseinheitliche Verwaltungspraxis im Zeitpunkt des Überprüfungsantrages der Klägerin nicht bestand. Der Beklagte hat nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 18.06.2008 unverzüglich die Weisungen seiner zuständigen Regionaldirektion sowie die Geschäftsanweisung zur Anrechnung von Verpflegung im Krankenhaus am 17.08.2008 und 20.08.2008 an die für den hier streitigen Zeitraum geltende Rechtslage angepasst. Allerdings ist der Klägerin zuzugeben, dass es hier nicht allein darauf ankommt, ob der Beklagte seine Dienstanweisungen rechtzeitig geändert hat, denn die Jobcenter, welche die Bundesagentur für Arbeit gemeinsam mit den Landkreisen gegründet hat, sind nicht die einzigen Grundsicherungsträger, die ihre Verwaltungspraxis nach der Entscheidung des BSG ändern mussten. Insoweit musste das Gericht eine Überzeugung zu der Frage gewinnen, ob auch sämtliche Optionskommunen im Bundesgebiet die Entscheidung des Bundessozialgerichts zur Anrechnung der Verpflegung als endgültig bindend ansehen. Für die positive Feststellung einer bundeseinheitlichen Verwaltungspraxis ist es nicht notwendig, die in Betracht kommenden Optionskommunen im Einzelnen zu den von ihnen zur Anrechnung von Verpflegung nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts erlassenen Verwaltungsvorschriften anzuschreiben. Das Gericht hält es für ausreichend, wenn sich nach Durchsicht der einschlägigen Rechtsprechungsdatenbanken kein Hinweis dazu findet, dass Instanzgerichte über weitere Klagen zu derselben Rechtsfrage entscheiden mussten. So liegt es hier. Mit Ausnahme von Überprüfungsanträgen, denen dieselbe Fallkonstellation zu Grunde lagen wie in dem hier zu entscheidenden Rechtsstreit, finden sich nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts keine einschlägigen Urteile, welche diese Rechtsfrage erneut thematisieren. Das Gericht hält es daher für erwiesen, dass nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 18.06.2008 bezüglich der Anrechnung von Verpflegung im Krankenhaus als Einkommen im Sinne von § 11 SGB II zwischen dem 01.01.2005 und 31.12.2007 kein weiterer Klärungsbedarf und damit eine bundeseinheitliche Verwaltungspraxis bestand. Daher war die Rücknahme der an sich materiell rechtswidrigen Bewilligungsbescheide des Beklagten durch einen Überprüfungsbescheid nicht mehr möglich.

Der Klage musste somit der Erfolg versagt bleiben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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