L 3 AS 640/10 NZB

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 27 AS 494/09
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AS 640/10 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Es gab und es gibt im SGB II keine Regelung, auf Grund derer in Fällen, in denen die Zumutbarkeit eines Umzuges streitig ist, die Unterkunftskosten bis zum Abschluss der Sachverhaltsermittlung in vollem Umfang zu übernehmen wären. Auch aus der Erklärung einer Behörde, die Zumutbarkeit eines Umzuges prüfen zu
wollen, kann grundsätzlich ein solcher Anspruch auf Kostenübernahme für eine Übergangszeit nicht hergeleitet werden.

2. Das Tatbestandsmerkmal der Unzumutbarkeit der Kostensenkung in § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II (in der vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2008 geltenden Fassung) ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der der vollen Prüfung durch die Sozialgerichte unterliegt.

3. Eine unzureichende oder gänzlich unterbliebene Sachverhaltsermittlung durch eine Behörde begründet keinen Anspruch nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II (in der vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2008 geltenden Fassung) auf Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten.
I. Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 25. August 2010 wird zurückgewiesen.

II. Die außergerichtlichen Kosten der Kläger sind auch im Beschwerdeverfahren erstattungsfähig.

Gründe:

I.

Der Beklagte wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 25. August 2010, in dem das Sozialgericht seinen Vorgänger, die ARGE SGB II C (im Folgenden: ARGE), verurteilt hat, den Klägern die tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung zu bewilligen.

Die 1953 geborene Klägerin zu 1 und ihr Ehemann, der 1949 geborene Kläger zu 2, be-zogen seit 1. Februar 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II). Sie bewohnten eine 91 m² große 4-Raum-Wohnung mit einer damaligen Grundmiete in Höhe von 363,49 EUR sowie Vorauszahlungen auf Betriebskosten in Höhe von 101,35 EUR und auf Heizung und Warmwasser in Höhe von 32,29 EUR. Bereits im Bescheid vom 20. Dezember 2004 wurden die Kläger darauf hingewiesen, dass die Bruttokaltmiete die angemessenen Kosten, die 365,00 EUR für einen 2-Persoen-Haushalt betrügen, übersteige und deshalb die tatsächliche Unterkunftskosten nur für sechs Monate übernommen würden. Bei späteren Berechnungen von Leistungsansprüchen legte die ARGE eine Grundmiete in Höhe von 365,00 EUR zugrunde.

Ausweislich einer Niederschrift über ein Gespräch am 30. November 2006 erklärte sich die Klägerin zu 1 bereit, dass der Differenzbetrag zur Miete übernommen werde. Mit Schreiben vom 4. März 2008 unterrichtete die ARGE die Klägerin zu 1 über die Grenzbeträge in der Unterkunfts- und Heizungsrichtlinie des Stadt C. Die derzeitigen Unterkunftsaufwendungen würden den Umfang der Angemessenheit um 117,49 EUR überschreiten. Die Klägerin zu 1 wurde ferner über die Pflicht zur Kostensenkung unterrichtet und ge-beten, zur abschließenden Klärung der Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung eine Erklärung abzugeben. Das beigefügte Formular sah folgende zwei Alternativen vor: - "Ich möchte meine derzeitige Wohnung behalten und trage die monatlichen Mehrkosten über die Angemessenheit sowie evtl. Betriebskostennachzahlungen selber." - "Ich bin grundsätzlich bereit auf Verlangen der Arbeitsgemeinschaft Chemnitz SGB II mir einen angemessenen Wohnraum zu suchen." Unter dem 4. März 2008 kreuzte die Klägerin zu 1 die erste Variante an und unterschrieb die Erklärung.

Mit Bescheid vom 13. März 2008 bewilligte die ARGE SGB II C den Klägern für die Zeit vom 1. März 2008 bis 31. August 2008 Leistungen zur Sicherung des Lebens-unterhaltes nach dem SGB II. Für die Leistungsberechnung legte sie 365,00 EUR als angemessene Unterkunftskosten zugrunde. Mit Schreiben vom 15. März 2008 legte die Klägerin zu 1 Widerspruch ein. Im Schreiben vom 21. März 2008 trug sie hierzu vor, dass ihr bei ihrer Unterschrift auf dem Formular am 4. März 2008 nicht die Auswirkungen auf den Leistungsbescheid bewusst gewesen seien. Ihr Mann leide seit dem Jahr 2003 an Krebs. Im Juli 2005 sei ihre Erkrankung (chronische Pankreatitis) hinzugekommen. Sie seien deshalb über Jahre geschwächt und nicht in der Lage umzuziehen. Beide würden eine Erwerbsminderungsrente erhalten. Ihr Mann sei zusätzlich schwerbehindert. Diese Angaben zur Begründung des Widerspruches machte die Klägerin zu 1 auch anlässlich einer telefonischen Rücksprache eines Mitarbeiters der ARGE SGB II C am 27. März 2008. Am Ende der Gesprächsnotiz ist festgehalten, der Klägerin zu 1 sei mitgeteilt worden, dass nach Posteingang ihrer schriftlichen Begründung zum Widerspruch vom 15. März 2007 eine Prüfung erfolgen werde, ob und in welcher Form ein etwaiger Umzug zumutbar sei.

Nach einem Aktenvermerk über ein internes Gespräch am 2. April 2008 bei der ARGE sollte der Kläger zu 2 zu einem Gespräch eingeladen werden. Dort wollte sich die zuständige Mitarbeiterin einen persönlichen Eindruck verschaffen und die Erteilung eines Gutachtenauftrages besprechen. Nachdem die Klägerin zu 1 inzwischen Widerspruch gegen den Folgebescheid eingelegt und mit Schreiben vom 11. Oktober 2008 eine Untätigkeitsklage wegen der nicht beschiedenen Widersprüche angekündigt hatte, erteilte die ARGE am 19. September 2008 eine Gutachtenauftrag. Ausweislich eines handschriftlichen Vermerkes war am 30. Oktober 2008 noch kein Termin für eine Begutachtung vergeben.

Im Gutachten des Ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit C nach Aktenlage stellt Dipl.-Med. H am 2. Dezember 2012 für den Kläger zu 2 folgende Diagnosen: Rachen-Karzinom mit operativer Behandlung sowie kombinierter Radio- und Chemo-therapie; Bluthochdruck; Hals-Schulter-Nacken-Beschwerden; Zustand nach Operation eines Grauen Stars beider Augen; Störung des Harnsäurestoffwechsels. Der Kläger zu 2 könne täglich eine ständig leichte Tätigkeit von drei bis unter sechs Stunden verrichten; zum negativen Leistungsbild wurden 14 Punkte aufgelistet. Aus arbeitsmedizinischer Sicht werde eine Teilzeitarbeit bei Beachtung des Leistungsbildes vorgeschlagen. Als Maurer sei der Kläger zu 2 nicht mehr marktgerecht belastbar. Das Gutachten ging am 6. Januar 2009 bei der ARGE ein.

Mit Widerspruchsbescheid vom 7. Januar 2009 wies die ARGE den Widerspruch zurück. In Bezug auf die Angemessenheit der Kosten für Unterkunft und Heizung nahm sie Bezug auf die Unterkunfts- und Heizkostenrichtlinie der Stadt C. Aus dem medizinischen Gutachten leitete sie ab, dass dem Kläger zu 2 ein Umzug in eine kleinere Wohnung zumutbar sei.

Auf die Klage vom 4. Februar 2009 hin hat das Sozialgericht die ARGE mit Urteil vom 25. August 2010 verurteilt, den Klägern unter Aufhebung der entgegenstehenden Ver-waltungsentscheidungen im Zeitraum vom 1. März 2008 bis zum 31. August 2008 die tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung zu bewilligen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass den Klägern jedenfalls bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides ein Umzug nicht zumutbar gewesen sei. Die Kläger hätten jedenfalls solange, wie die ARGE zu erkennen gegeben habe, dass die Frage der Zumutbarkeit des Umzuges geprüft werde, davon ausgehen dürfen, dass die Kosten für die Unterkunft in voller Höhe übernommen würden. Die Absichtserklärung der Klägerin zu 1 in Bezug auf die Tragung der über-schießenden Kosten könne nicht dazu führen, dass sie auf alle Zeit und zugleich für ihren Ehemann sich eines sozialrechtlichen Anspruches begebe. Erst mit dem Eingang des Gutachtens am 6. Januar 2009 habe die 6-Monats-Frist mit der Aufforderung des Verlassens der Wohnung erfolgen können. Das Sozialgericht hat der ARGE auch vorgehalten, sich nicht ernsthaft und zeitnah um seine Sachverhaltsaufklärung bemüht zu haben.

Die ARGE hat gegen das ihr am 15. September 2010 zugestellte Urteil am 12. Oktober 2010 Beschwerde eingelegt. Sie hat die Nichtzulassungsbeschwerde zunächst im Schriftsatz vom 12. November 2010 in Form einer Berufung begründet. Im Schriftsatz vom 28. Februar 2011 hat sie die Rechtsfrage als klärungsbedürftig erachtet, ob der Leistungsträger nach einer (bestandskräftigen) Begrenzung der Unterkunftskosten auf die angemessene Höhe zur Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten verpflichtet werden könne, wenn die Prüfung der Unzumutbarkeit eines Umzuges zugesagt worden sei. Klärungsbedürftig sei, ob bei einer solchen Zusage erneut die 6-Monats-Frist des § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II zu laufen beginnen könne.

Der zum 1. Januar 2011 an die Stelle der ARGE getretene Beklagte, das Jobcenter C , beantragt,

die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 25. August 2010 zuzulassen.

Die Kläger beantragen,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie vertreten die Auffassung, dass kein Zulassungsgrund vorliege. Die als klärungsbedürftig angesehene Rechtsfrage gehe nicht über den Einzelfall hinaus.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten aus beiden Verfahrenszügen und die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

II.

1. Die Beschwerde gemäß § 145 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 25. August 2010 ist statthaft.

Gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bedarf die Berufung der Zulassung im Urteil oder auf Beschwerde durch Beschluss des Landessozialgerichts, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld- oder Sach-leistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR nicht übersteigt. Das gilt gemäß § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

In Streit steht die Übernahme der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung und nicht nur von Aufwendungen in dem in der Unterkunfts- und Heizungsrichtlinie des kommunalen Trägers festgelegten Umfang. Es werden höhere Leistungen als die bislang bewilligten begehrt. Klageziel ist somit nicht, wie vom Sozialgericht tenoriert, die Aufhebung des maßgebenden Bewilligungsbescheides, sondern dessen Abänderung. Bei den in Ziffer I des Urteilstenors angesprochenen "entgegenstehenden Verwaltungsentscheidungen" be-treffend den Zeitraum vom 1. März 2008 bis zum 31. August 2008 handelt es sich um den Bewilligungsbescheid vom 13. März 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Januar 2009.

Dies vorangestellt errechnet sich folgender Wert des Beschwerdegegenstandes: Die tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung beliefen sich im streitbefangenen Zeitraum monatlich auf insgesamt 508,49 EUR (= 363,49 EUR Grundmiete + 119,00 EUR Vorauszahlungen auf Betriebskosten + 26,00 EUR Vorauszahlungen auf Heizung und Warm-wasser). Im Bewilligungsbescheid vom 13. März 2008 sind Kosten in Höhe von 381,20 EUR anerkannt. Dieser Betrag setzt sich ausweislich einer Berechnungsübersicht (Blatt 259 der Verwaltungsakte) zusammen aus einer Grundmiete in Höhe von 365,00 EUR und Heizkosten in Höhe von 16,20 EUR (= 26,00 Heizkosten – 9,80 EUR Warmwasserpauschale). Damit sind ohne Abzug der Warmwasserpauschale Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von insgesamt 391,00 EUR anerkannt. Im Verhältnis zu den tatsächlichen Aufwendungen verbleibt ein offener Betrag in Höhe von 117,49 EUR. Für die streitbefangenen sechs Monate errechnet sich danach ein streitiger Betrag in Höhe von 704,94 EUR. Dieser Wert des Beschwerdegegenstandes liegt unterhalb des Grenzwertes in § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG. Die Voraussetzungen für die Sonderregelung des § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG sind nicht gegeben. Da auch das Sozialgericht die Berufung nicht zugelassen hat, ist die Beschwerde statthaft.

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist aber unbegründet, weil keine Zulassungsgründe vorliegen.

Nach § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nummer 1), das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht (Nummer 2) oder ein an der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (Nummer 3). Diese Zulassungsgründe sind abschließend. Das Sozialgerichtsgesetz sieht im Gegensatz zur Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nicht die Möglichkeit einer Berufungszulassung vor, wenn ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils bestehen (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

a) Eine Rechtssache hat dann grundsätzliche Bedeutung, wenn die Streitsache eine bisher nicht geklärte Rechtsfrage aufwirft, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern. Ein Indivi-dualinteresse genügt hingegen nicht (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG [9. Aufl., 2008], § 144 Rdnr. 28). Die entscheidungserhebliche Rechtsfrage muss klärungsbedürftig und klärungsfähig sein (vgl. BSG, Beschluss vom 16. November 1987 – 5b BJ 118/87SozR 1500 § 160a Nr. 60 = JURIS-Dokument Rdnr. 3; BSG, Beschluss vom 16. Dezember 1993 – 7 BAr 126/93SozR 3-1500 § 160a Nr. 16 = JURIS-Dokument Rdnr. 6; ferner: Leitherer, a. a. O., § 144 Rdnrn. 28 f. und § 160 Rdnrn. 6 ff. [jeweils m. w. N.]). Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage dann nicht mehr, wenn sie schon entschieden ist oder durch Auslegung des Gesetzes eindeutig beantwortet werden kann (vgl. BSG, Beschluss vom 30. September 1992 – 11 BAr 47/92SozR 3-4100 § 111 Nr. 1 S. 2 = JURIS-Dokument Rdnr. 8). Zur Klärungsbedürftigkeit der Rechtsfrage muss die abstrakte Klärungsfähigkeit, das heißt die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung, und die konkrete Klärungsfähigkeit, das heißt die Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage hinzutreten (vgl. dazu BSG, Urteil vom 14. Juni 1984 – 1 BJ 72/84SozR 1500 § 160 Nr. 53). Die Frage, ob eine Rechtssache im Einzelfall richtig oder unrichtig entschieden ist, verleiht ihr noch keine grundsätzliche Bedeutung (vgl. BSG, Beschluss vom 26. Juni 1975 – 12 BJ 12/75SozR 1500 § 160a Nr. 7 = JURIS-Dokument Rdnr. 2). Hinsichtlich Tatsachenfragen kann über § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG eine Klärung nicht verlangt werden.

Es kann dahingestellt bleiben, ob es für die vom Beklagten formulierten Rechtsfragen bereits an der abstrakten Klärungsfähigkeit fehlt, wie dies die Kläger vertreten. Denn es ist jedenfalls eine im vorgenannten Sinne klärungsbedürftige Rechtsfrage nicht gegeben, weil sich die Fragen an Hand der einschlägigen Regelungen beantworten lassen.

(1) Maßgebend für einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung ist § 22 SGB II in der vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2008 geltenden Fassung (im Folgenden: a. F.). Gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II a. F. wurden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen waren. Soweit die Aufwendungen für die Unterkunft den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang überstiegen, waren sie gemäß § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II a. F. als Bedarf des allein stehenden Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft so lange zu berücksichtigen, wie es dem allein stehenden Hilfebedürftigen oder der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zuzumuten war, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate.

Daraus folgt, dass die Kläger auf der Grundlage von § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II a. F. grundsätzlich nur einen Anspruch auf Übernahme ihrer Unterkunftskosten in Höhe der tatsäch-lichen Aufwendungen bis zur Grenze der angemessenen Kosten hatten. Es oblag ihnen zu entscheiden, ob und gegebenenfalls wie sie einen Differenzbetrag zwischen den tatsäch-lichen Unterkunftskosten und den bewilligten Leistungen für die Unterkunft decken wollten (vgl. Berlit, in: Münder [Hrsg.], SGB II [4. Aufl., 2011], § 22 Rdnr. 74). Dass ihre Unterkunftskosten nicht angemessen sind, ist unbeschadet der vom Sozialgericht nicht geprüften Frage, wo die Angemessenheitsgrenze gemessen an den Vorgaben des Bundessozialgerichtes (vgl. hierzu: Berlit, in: Münder [Hrsg.], SGB II [4. Aufl., 2011], § 22 Rdnr. 40 ff.; Piepenstock, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II [3. Aufl., 2012], § 22 Rdnr. 64 ff.; jeweils m. w. N.) im vorliegenden Fall liegt, nicht streitig.

Ausnahmsweise hatten die Kläger bei nicht angemessenen Unterkunftskosten einen Anspruch auf Übernahme nicht nur der angemessenen, sondern der sie übersteigenden Unterkunftskosten, wenn die Voraussetzungen des Ausnahmetatbestandes in § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II a. F. erfüllt waren. Entscheidend war allein, ob diese Voraussetzungen vorlagen. Hingegen gab es – und gibt es – im SGB II keine Regelung, auf Grund derer in Fällen, in denen die Zumutbarkeit eines Umzuges streitig ist, die Unterkunftskosten bis zum Abschluss der Sachverhaltsermittlung in vollem Umfang zu übernehmen wären. Auch aus der Erklärung einer Behörde, die Zumutbarkeit eines Umzuges prüfen zu wollen, kann grundsätzlich ein solcher Anspruch auf Kostenübernahme für eine Übergangszeit nicht herge-leitet werden.

Das vorliegend streitige Tatbestandsmerkmal der Unzumutbarkeit der Kostensenkung ist ein unbestimmter Rechtsbegriff (vgl. zum Begriff "Zumutbarkeit": Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz [10. Aufl., 2012], § 54 Rdnr. 30), der der vollen Prüfung durch die Sozialgerichte unterliegt. Das Bundessozialgericht hat in den Urteilen von 19. Februar 2009 (vgl. BSG, Urteil von 19. Februar 2009 – B 4 AS 30/08 RBSGE 102, 263 Rdnr. 32 ff. = SozR 4-4200 § 22 Nr. 19 Rdnr. 32 ff. = JURIS-Dokument Rdnr. 32 ff.) und vom 17. Dezember 2009 (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009 – B 4 AS 27/09 RSozR 4-4200 § 22 Nr. 27 Rdnr. 33 = JURIS-Dokument Rdnr. 33) beispielhaft Umstände aufgeführt, die der Zumutbarkeit eines Umzugs entgegenstehen können. Hierzu zählt auch die Einschränkung der Umzugsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009, a. a. O.). Um prüfen zu können, ob im Einzelfall, hier bei den Klägern, ein Umzug und damit eine Kostensenkung zumutbar oder unzumutbar ist, sind Feststellungen zu den entscheidungserheblichen Tatsachen zu treffen. Die hierzu erforderlich Sachverhaltsermittlung hat die zuständige Behörde, hier die ARGE, gemäß § 40 Abs. 1 Satz1 SGB II i. V. m. § 20 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuches Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) von Amts wegen durchzuführen. Sie hat alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen (vgl. § 20 Abs. 1 Satz 2 SGB X). Danach hat sie auf der Grundlage des ermittelten Sachverhaltes zu entscheiden, ob die Voraussetzungen der Ausnahmeregelung des § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II a. F. gegeben sind oder ob es bei der Grundregelung des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II a. F. verbleibt.

Wenn vor dem Hintergrund dieser Regelungen eine Behörde erklärt, sie werde nach dem Eingang der Widerspruchsbegründung prüfen, ob und in welcher Form ein etwaiger Umzug zumutbar sei, gibt sie damit nur das wieder, wozu sie nach der Gesetzeslage verpflichtet ist. Einer solchen Erklärung kann deshalb grundsätzlich nicht der Erklärungsinhalt beigemessen werden, dass bis zum Abschluss der Sachverhaltsermittlung die Unterkunfts-kosten in tatsächlichem Umfang und nicht nur in angemessener Höhe übernommen würden.

Ob ausnahmsweise eine Erklärung einer Behörde zur Prüfung des Sachverhaltes vom Antragsteller so zu verstehen ist oder jedenfalls verstanden werden kann, dass er bis zu einer Entscheidung der Behörde über die Zumutbarkeit seines Umzuges von dieser Form der Kostensenkungsobliegenheit befreit ist und die Behörde die tatsächlichen Unterkunfts-kosten übernimmt, hängt von den Umstanden des Einzelfalles ab. Diese Rechtsfrage besitzt keine grundsätzliche Bedeutung.

(2) Auch soweit das Sozialgericht für seine Auffassung, die Kläger hätten einen Anspruch nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II a. F. auf Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten, auf die Dauer und die Art der Sachverhaltsermittlung abstellt, lassen sich die damit im Zusammenhang stehenden Rechtsfragen aus dem Gesetz beantworten.

Die Dauer eines Verwaltungsverfahrens eröffnet grundsätzlich nur die Möglichkeit, nach Maßgabe von § 88 SGG eine Untätigkeitsklage zu erheben oder wegen einer zögerlichen Verfahrensbearbeitung einen Amtshaftungsanspruch (vgl. Ossenbühl, Amtshaftungsrecht [5. Aufl., 1998], 2. Teil Ziff. II Nr. 2 Buchst. b Doppelbuchst. gg) geltend zu machen. Ferner kann sich bei einer erforderlichen Beweiswürdigung eine zögerliche Sachverhaltsermittlung unter Umständen zu Lasten der Behörde auswirken, weil ihr eventuell der Vorwurf der (fahrlässigen) Beweisvereitelung gemacht werden kann. Ein Anspruch auf bestimmte Sozialleistungen kann aber allein auf Grund der Dauer eines Verwaltungsverfahrens grundsätzlich nicht entstehen.

Entsprechendes gilt in Bezug auf die Art der Sachverhaltsermittlung. Dem Sozialgericht ist allerdings insoweit beizutreten, als dass das von der ARGE eingeholte ärztliche Gutachten nur in begrenztem Umfang geeignet ist, Aufschluss über die Zumutbarkeit eines Umzuges des Klägers zu 2 zu geben. Denn es trifft Aussagen zur Erwerbsfähigkeit des Klägers zu 2 und wurde anscheinend vor dem Hintergrund der Regelung in § 44a SGB II erstellt. Die dem Kläger zu 2 in dem Gutachten attestierte sehr eingeschränkte Erwerbsfähigkeit ist zwar ein Indiz für die Zumutbarkeit eines Umzuges, beantwortet aber letztlich die entscheidende Frage, ob und gegebenenfalls welche gesundheitlichen Einschränkungen einem Umzug entgegenstehen könnten, nicht. Andererseits begründen gesundheitliche Beeinträchtigungen nicht per se die Unzumutbarkeit eines Umzuges. Denn ein Hilfebedürftiger ist zwar grundsätzlich gehalten, den Umzug selbst zu organisieren und durchzuführen (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 19. September 2007 – L 3 B 411/06 AS-ER – JURIS-Dokument Rdnr. 18, m. w. N.). Er kann aber professionelle Umzugshilfe in Anspruch nehmen, wenn er den Umzug zum Beispiel wegen Alters, Behinderung, körperlicher Beeinträchtigungen oder aus sonstigen, in seiner Person liegenden Gründen, nicht selbst vornehmen kann (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 19. September 2007, a. a. O., Rdnr. 20, m. w. N.). Deshalb werden gesundheitliche Beeinträchtigungen nur ausnahmsweise einem Umzug entgegen stehen.

Gleichwohl begründet eine unzureichende oder gänzlich unterbliebene Sachverhaltsermittlung keinen Anspruch nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II a. F. auf Übernahme der tatsäch-lichen Unterkunftskosten. Das Sozialgericht hat in einem solchen Fall nur zwei Möglichkeiten: Entweder hebt es nach den Maßgaben von § 131 Abs. 5 SGG den angefochtenen Bescheid und den Widerspruch auf mit der Folge, dass die Behörde die weitere Sachaufklärung durchzuführen und erneut über den Antrag zu entscheiden hat. Oder das Gericht kann den Sachverhalt selbst von Amts wegen erforschen (vgl. § 103 SGG) und gegebenenfalls eine Kostenentscheidung nach § 192 Abs. 4 SGG treffen.

(3) Schließlich lässt sich auch die Frage nach einem etwaigen neuen Beginn der Frist in § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II a. F. nach einer Erklärung der Behörde, die Zumutbarkeit eines Umzuges prüfen zu wollen, aus dem Gesetz beantworten. Da nach den obigen Ausführungen eine solche Erklärung grundsätzlich nicht zur Folge hat, dass ein Anspruch nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II a. F. auf Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten entsteht, beginnt mit einer solchen Erklärung auch keine neue Frist zu laufen. Lediglich wenn im Einzelfall der Hilfebedürftige auf Grund einer Erklärung der Behörde von seiner Kostensenkungsobliegenheit entbunden ist, beginnt die Regelfrist aus § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II a. F. erneut. Entsprechendes gilt in Bezug auf eine zögerliche Sachverhaltsermittlung. Diese Pflichtverletzung der Behörde bewirkt nicht, dass der Hilfebedürftige gleichsam im Gegenzug seinerseits von der Kostensenkungsobliegenheit befreit wäre.

(4) Über die vom Beklagten formulierten Rechtsfragen hinaus ergibt sich auch aus der vom Sozialgericht angesprochenen Erklärung der Klägerin zu 1 keine klärungsbedürftige Rechtsfrage.

Die Erklärung, die derzeitige Wohnung behalten und den Differenzbetrag zu den angemessenen Unterkunftskosten tragen zu wollen, ist auslegungsbedürftig. Sie kann zum einen dahingehend verstanden werden, dass die Kostentragung im Rahmen der gesetzlichen Regelungen erfolgen solle. Dann hätten die Kläger den Differenzbetrag nur zu tragen, soweit sie nicht einen Anspruch auf Übernahme der vollen, tatsächlichen Unterkunftskosten hätten. In diesem Sinne käme der Erklärung keine rechtliche Bedeutung zu, sondern diente nur der Klarstellung zwischen den Beteiligten. Die Erklärung könnte aber auch in dem – so wohl vom Sozialgericht verstandenen – Sinne dahingehend ausgelegt werden, dass die Klägerin zu 1 auf die Geltendmachung des Anspruches aus § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II a. F. verzichtete. Eine Erklärung mit diesem Inhalt wäre allerdings im Hinblick auf die Regelung in § 46 Abs. 2 des Sozialgesetzbuches Erstes Buch – Allgemeiner Teil – (SGB I) problematisch (vgl. hierzu: BSG, Urteil vom 22. März 2012 – B 4 AS 26/10 R – JURIS-Dokument Rdnr. 18 ff.). Die Auslegung der Erklärung der Klägerin zu 1 kann jedoch dahingestellt bleiben, weil die Auslegung einer bestimmten Willenserklärung den konkreten Einzelfall betrifft. Eine sich im Zusammenhang mit der Auslegung ergebende, über den Einzelfall hinausgehende Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung ist vorliegend nicht gegeben.

b) Auch der Zulassungsgrund der Divergenz im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG ist nicht gegeben. Der Zulassungsgrund liegt nur dann vor, wenn das Urteil des Sozialgerichts entscheidungstragend auf einem abstrakten Rechtssatz beruht, der von dem zur gleichen Rechtsfrage aufgestellten Rechtssatz in einer Entscheidung eines der im § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte abweicht (vgl. BSG, Beschluss vom 29. November 1989 – 7 BAr 130/88SozR 1500 § 160a Nr. 67 = JURIS-Dokument Rdnr. 7; Leitherer, a. a. O., § 160 Rdnr. 13). Dabei ist erforderlich, dass das Sozialgericht objektiv von einer solchen höhergerichtlichen Entscheidung abgewichen ist und nicht etwa nur fehlerhaft das Recht angewendet hat (vgl. Leitherer, a. a. O., § 160 Rdnr. 14a). Eine Divergenz in dem beschriebenen Sinne ist nicht festzustellen.

c) Schließlich liegt auch der Zulassungsgrund des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG nicht vor. Ein Verfahrensmangel ist ein Verstoß gegen eine Vorschrift, die das sozialgerichtliche Ver-fahren regelt. Er bezieht sich begrifflich auf das prozessuale Vorgehen des Gerichts auf dem Weg zum Urteil, nicht aber auf dessen sachlichen Inhalt, d. h. seine Richtigkeit (vgl. Leitherer, a. a. O., § 144 Rdnr. 32 ff.). Die Zulassung der Berufung aufgrund eines Ver-fahrensmangels erfordert, dass dieser Mangel nicht nur vorliegt, sondern auch geltend gemacht wird (§ 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG). Daran fehlt es hier. Der Beklagte hat das sozial-gerichtliche Verfahren nicht beanstandet.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.

4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (vgl. § 177 SGG).

Dr. Scheer Atanassov Krewer
Rechtskraft
Aus
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