Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
14
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 14 VJ 148/08
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Unter Aufhebung des Bescheides vom 27.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2008 wird festgestellt, dass die bei der Klägerin vorliegende transverse Myelitis Schädigungsfolge der am 18.11.1994 durchgeführten Polioimpfung ist. Der Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Impfschadens nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG) bzw. dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Bei der am 00.00.1956 geborenen Klägerin, welche seinerzeit beabsichtigte, eine private Reise nach Südafrika durchzuführen, wurde ausweislich ihres Impfbuches am 18.11.1994 eine Polioschutzimpfung mittels oraler Verabreichung des Impfstoffes "Sabin-S" durchgeführt; nach den seinerzeitigen Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission des Bundesgesundheitsamtes war eine solche Impfung empfohlen bei Reisen in Länder mit Poliorisiko, insbesondere auch Afrika.
Ausweislich eines Behandlungsberichtes des F. Krankenhauses C über stationäre Behandlung der Klägerin vom 18. bis 25.01.1995 klagte sie anamnestisch seit November 1994 über Kribbeln zunächst im Bereich der linken, dann beider Fußsohlen, ab 13.01.1995 erstmals schnell aufsteigend im Bereich des gesamten linken Beines mit Schwäche und erneuter Zunahme unmittelbar vor Aufnahme in die stationäre Behandlung. Bei fehlenden manifesten oder latenten Paresen, pathologischen neurologischen Befunden, unauffälligen Liquorwerten wurde in der stationären Behandlung ein Hinweis auf eine neurologische Erkrankung nicht gefunden; wegen der unauffälligen Liquorwerte wurde eine Encephalomyelitis disseminata (Multiple Sklerose) ausgeschlossen; im August 1995 zur diagnostischen Abklärung der anhaltenden Gefühlsempfindungs- und Taubheitsgefühle durchgeführte röntgenologische Untersuchungen der Brust- und Lendenwirbelsäule erbrachten ebenso keine Erklärung der Beschwerden. Wegen zunehmender Kribbelempfindungen und Taubheitsgefühle des linken Beines hochreichend bis zur Brustwirbelsäule wurde die Klägerin vier Jahre später, zunächst vom 17.04. bis 12.05.1999 (sodann vom 13.08. bis 18.08.1999 und 08.03. bis 11.03.2000) stationär in der Neurologischen Klinik der Krankenanstalten H in C handelt; röntgenologische Untersuchungen belegten hier eine disseminiert entzündliche spinale Erkrankung, insbesondere mit frischer Herdbildung im Brustwirbelsäulenbereich Th7/8 bei weiterhin allerdings unauffälligen Liquorbefunden; die Diagnose einer Multiplen Sklerose vermochte man insoweit weiterhin nicht zu stellen und sah die Ursache der entzündlichen Erkrankung nicht geklärt; magnetresonanztomographische Kontrolluntersuchungen im Juli 1999 wiesen für das Gehirn Entzündungsherde nicht auf; unter Gabe von Corticoiden besserte sich im Folgenden eine zunächst deutliche Gangataxie mit Fallneigung sowie eine zusätzlich im Juni aufgetretene, als Retinopathie beider Augen diagnostizierte Sehstörung.
Die Klägerin beantragte im Februar 2006 Gewährung von Beschädigtenversorgung unter Anerkennung ihrer Gesundheitsstörungen als Impfschaden als Folge der durchgeführten Polioschutzimpfung und trug ergänzend vor, vier Tage nach der Impfung erstmals unter Kribbelgefühlen unter dem linken Fuß gelitten zu haben. Im Rahmen des Feststellungsverfahrens zog der Beklagte zunächst die über die Klägerin geführten Rentenakten der Deutschen Rentenversicherung Bund, ein Vorerkrankungs- und Leistungsverzeichnis der U Krankenkasse sowie Befund- und Behandlungsberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte bei, nach deren Auswertung Dr. H1 in einer versorgungsärztlichen Stellungnahme (vom 13.07.2006) die Auffassung vertrat, weder seien die Gesundheitsstörungen der Klägerin diagnostisch gesichert, noch sei bei ihr eine über das übliche Maß hinausgehende Impfreaktion aufgetreten; die vorliegenden Berichte belegten initial sensible Symptome, hingegen keine poliomyelitisähnliche Erkrankung mit schlaffen Lähmungen. Daraufhin lehnte das Versorgungsamt C mit Bescheid vom 27.07.2006 den Antrag auf Beschädigtenversorgung ab.
Mit dem hiergegen am 03.08.2006 erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, nach neueren Erkenntnissen könnten, auch ohne Vorliegen schlaffer Lähmungen, sensible Symptome durchaus auf eine Impfpolio hinweisen; die ersten sensiblen Störungen habe sie wenige Tage nach der Impfung aufgewiesen und sich deshalb in neurologische Behandlung von Dr. L, C, begeben (Befundberichte waren nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist von diesem im Folgenden nicht mehr zu erreichen). Nach Beiziehung sämtlicher in der Vergangenheit erhobener bildgebender Befunde erstattete entsprechend beratungsärztlicher Empfehlung abschließend Prof. Dr. W, Neurologische Klinik des Klinikum M, am 14.12.2007 ein fachärztliches Zusammenhangsgutachten, in welchem er zu dem Ergebnis gelangte, das Krankheitsbild der Klägerin sei als sog. inkomplette transverse Myelitis mit chronischem, durch Schübe verschärftem Verlauf zu diagnostizieren; bei Fehlen einer sekundären Ätiologie im Rahmen einer systemischen Erkrankung sei ein Zusammenhang dieser mit der Impfung im Einzelfalle wahrscheinlich und ein Anspruch auf eine sog. Kann-Versorgung gerechtfertigt; eine Impfpoliomyelitis sei bei Fehlen seinerzeitiger Paresen zwar auszuschließen, in der Literatur beschrieben als Impfkomplikation sei jedoch eine durch reaktivierte Polioviren verursachte transverse Myelitis nach Impfung bzw. eine transverse Myelitis als ADEM-Variante (akute disseminierende Encephalomyelitis) nach Impfung bzw. eine ADEM-Myelitis, durch Impfung ausgelöst und in eine spinale Verlaufsform der Multiplen Sklerose übergehend; im Hinblick auf die geringen Fallzahlen hätten zwar die in der Forschung beschriebenen ätiologischen Zusammenhangshypothesen keine wissenschaftliche Evidenz, belegten ungeachtet dessen aber entsprechende Krankheitsmechanismen. Dieser Auffassung schloss sich Dr. C1, Leitende Prüfärztin des Beklagten, in mehreren versorgungsärztlichen Stellungnahmen (vom 12.02., 02.05., 07.07. und 25.09.2008) an, wohingegen verwaltungsseitig die Auffassung vertreten wurde, ein Impfschaden im Sinne einer unüblichen Impfreaktion sei anfänglich nicht beschrieben, das Kribbeln nicht mit den in den maßgebenden Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit beschriebenen Impfschäden vergleichbar, so dass sich die Frage einer "Kann-Versorgung" nicht stelle. Mit Widerspruchsbescheid vom 20.10.2008 wies der Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, ein Impfschaden im Anschluss an die Schluckimpfung sei nicht nachgewiesen; als Impfschaden gälten nach den den herrschenden medizinischen Wissensstand wiedergebenden Anhaltspunkten schlaffe Lähmungen innerhalb der Inkubationszeit; unabhängig davon lägen die Voraussetzungen für eine "Kann-Versorgung" nicht vor, weil es nicht gelungen sei, die heute bestehende Erkrankung eindeutig zu diagnostizieren und im Übrigen die vom Gutachter begründeten Möglichkeiten des Zusammenhanges nur theoretische seien.
Hiergegen richtet sich die am 17.11.2008 erhobene Klage, mit welche die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt und zu deren Begründung sie sich maßgeblich auf die gutachterliche Beurteilung des Sachverhalts durch Prof. Dr. W stützt. Klageunterstützend verweist sie im Übrigen auf eine ärztliche Äußerung von Prof. Dr. E, F. Krankenhaus C, (vom 30.10.2007), in welcher dieser die Auffassung vertrat, ein kausaler Zusammenhang der nunmehr eindeutig als transverse Myelitis zu diagnostizierenden Erkrankung sei bei Fehlen anderer Ursachen und Auftreten von Krankheitserscheinungen in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung wahrscheinlich.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des Bescheides vom 27.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2008 festzustellen, dass die bei ihr vorliegende transverse Myelitis Schädigungsfolge der am 18.11.1994 durchgeführten Polioimpfung ist.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht zog Streitverfahrensakten der Klägerin betreffend einen Rechtsstreit gegen die Stadt C wegen Zuerkennung des Nachteilsausgleiches "aG" (Az. S 15 SB 48/09) bei. Nach Maßgabe der Beweisanordnung vom 22.03.2010 erstatteten anschließend Prof. Dr. O, Berufsgenossenschaftliches Universitätsklinikum C2 in C3, ein radiologisches sowie Prof. Dr. U1, ebenda, ein neurologisches Gutachten, in welchem er zu der Auffassung gelangte, innerhalb der Inkubationszeit sei mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der Klägerin ein Impfschaden im Sinne einer beginnenden Myelitis aufgetreten; auch eine Myelitis sei als unübliche Impfreaktion unter Beachtung der Anhaltspunkte festzustellen, da krankhafte Prozesse des Nervensystems nicht nur das Gehirn im Sinne einer Meningoencephalitis, sondern auch das hiermit eine anatomische Einheit bildende Rückenmark betreffen könne. Auf den näheren Inhalt der Gutachten von Prof. Dr. O vom 04.06.2010 und Prof. Dr. U1 vom 03.01.2011 wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.
Wegen der sonstigen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen. Dieser war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet.
Die bei der Klägerin als transverse Myelitis diagnostizierte Erkrankung ist Folge der am 18.11.1994 durchgeführten Polioschutzimpfung mittels des in Deutschland im Zeitraum 1962 bis 1968 eingesetzten OPV-Impfstoffes nach Sabin, einem Impfstoff aus abgeschwächten vermehrungsfähigen Poliomyelitisviren. Die Klägerin ist insoweit durch den entgegenstehenden Bescheid des Beklagten vom 27.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2008 im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz –SGG- beschwert, denn dieser ist rechtswidrig.
Rechtsgrundlage für die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche sind die bis zum 31.12.2000 geltenden Vorschriften des Bundesseuchengesetzes (BSeuchG). Nach Artikel 5 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften trat das Infektionsschutzgesetz (IfSG) zwar zum 01.01.2001 in Kraft, da die streitgegenständliche Impfung zum Zeitpunkt der Geltung des BSeuchG verabreicht wurde, bleiben jedoch dessen Vorschriften maßgeblich. Letztlich kann dies jedoch dahinstehen, da die einschlägigen Vorschriften im Wesentlichen inhaltsgleich sind.
Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG (bzw. § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG) erhält derjenige, welcher durch eine empfohlene oder angeordnete Schutzimpfung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des Impfschadens auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).
Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 3 BSeuchG liegen hier vor, denn die verabreichte Impfung wurde von der Ständigen Impfkommission STIKO empfohlen und die Klägerin hat einen Impfschaden erlitten. Für die hier gegenständliche Impfung im November 1994 waren die Empfehlungen der STIKO von Oktober 1994 maßgeblich. Für Reisen nach Afrika, wie von der Klägerin seinerzeit beabsichtigt, bestand eine Impfempfehlung im Sinne einer Reiseempfehlung.
Impfschaden ist nach § 52 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG ein über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehender Gesundheitsschaden. Für die Impfopferversorgung müssen, ebenso wie für die Kriegsopferversorgung, die schädigende Einwirkung (Impfung), die gesundheitliche Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion (Impfkomplikation) und die Schädigungsfolge (ein Dauerleiden) nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen nachgewiesen und nicht nur wahrscheinlich sein (BSG, Urteil vom 19.03.1986, SozR 3850 § 51 Nr. 9). Für den ursächlichen Zusammenhang zwischen schädigendem Ereignis zwischen der (Primär-)Schädigung sowie zwischen dieser und den Schädigungsfolgen genügt es, dass die Kausalität wahrscheinlich ist (§ 52 Abs. 2 Satz 1 BSeuchG). Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen; die bloße Möglichkeit reicht nicht aus.
Bei der insoweit vorzunehmenden Kausalitätsbeurteilung sind die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" in ihrer jeweils geltenden Fassung zu beachten, die jeweils unter den Nummern 53 bis 143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen enthalten; dies gilt auch für die Zeit ab Inkrafttreten der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung zum 01.01.2009, die solche auf einzelne Krankheitszustände bezogene Hinweise nicht mehr enthält. Die auf den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft fußenden Anhaltspunkte (AHP) haben dabei normähnlichen Charakter und sind grundsätzlich heranzuziehen, um eine möglichst gleichmäßige Handhabung der in ihnen niedergelegten Maßstäbe zu gewährleisten. Grundsätzlich ist der neueste medizinische Erkenntnisstand zu berücksichtigen, und zwar auch dann, wenn der zu beurteilende Impfvorgang lange oder gar Jahrzehnte zurückliegt. Im vorliegenden Fall sind anzuwenden die AHP 1996, 2004 und 2005 als aktueller Stand der Wissenschaft; nach 2005 sind von der STIKO im epidemiologischen Bulletin (EB) keine neuen medizinischen Erkenntnisse mehr zur Abgrenzung üblicher Impfreaktionen von einer Impfkomplikation enthalten, was darin begründet ist, dass 1998 die Empfehlung des Einsatzes von OPV (oraler Poliovirus-lebend-Vakzine) aufgehoben und der Einsatz von inaktiviertem Polioimpfstoff empfohlen wurde und von daher seit 2004 keine Impfkomplikationen mehr benannt sind.
Nach Ziffer 56 Abs. 1 AHP 2004 ist ein Impfschaden gemessen an der Zahl durchgeführter Impfungen selten, weshalb in jeden Fall sorgfältige differenzialdiagnostische Erklärungen erforderlich sind; nach Absatz 2 dieser Ziffer tritt nach jeder Impfung eine Reaktion des Organismus auf, die sich in unterschiedlichen örtlichen oder allgemeinen Erscheinungen äußern kann. Dabei werden in Ziffer 57 der AHP die üblichen Impfreaktionen und möglicherweise darüber hinausgehende Impfreaktionen für die einzelnen Schutzimpfungen beschrieben. Was die hier betreffende Polioschutzimpfung anbelangt, werden nach Ziffer 57 2a der AHP 2004 als übliche Impfreaktion einige Tage nach der Schluckimpfung gelegentlich –nur wenige Tage anhaltend- Durchfälle, Erbrechen, erhöhte Temperaturen, Exanteme, Kopfschmerzen und Abgeschlagenheit angegeben. Als Impfkomplikationen werden genannt poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens sechs Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis), das Guillain-Barre-Syndrom sowie nicht poliomyelitisähnliche Erkrankungen am zentralen Nervensystem nach der Impfung, wie die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens oder eine Meningoencephalitis.
Das Gericht hat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme keinen Zweifel daran, dass es bei der Klägerin innerhalb weniger Tage nach der am 18.11.1994 durchgeführten Impfung zu einer unüblichen Impfreaktion gekommen ist. Das Gericht stützt sich dabei auf das überzeugende Sachverständigengutachten von Prof. Dr. U1 sowie das von der Beklagten veranlasste Gutachten von Prof. Dr. W, welches im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden konnte. Wenn auch die Angaben der Klägerin, bereits drei bis fünf Tage nach der oralen Poliovakzination mit Sabin erstmalig Gefühlsempfindungsstörungen im Bereich der linken, später beider Fußsohlen bemerkt zu haben, nicht belegt ist und auch von Dr. L über die am 24.11.1994 behauptete ambulante Vorstellung ein Behandlungsbericht nicht zu erreichen war, ist durch die Behandlungsberichte der Neurologischen Klinik des F. Krankenhauses C belegt, dass sich die Klägerin im Rahmen einer ambulanten Voruntersuchung am 12.12.1994 dort erstmals, dann im Januar 1995 nach weiterer Zunahme der Gefühlsverluste nebst Schwäche vornehmlich des linken Beines sich in ärztliche Behandlung begeben hat mit Beschwerden, die als Ausdruck einer unüblichen Impfreaktion zu werten waren. Eine postvakzinale Poliomyelitis oder ein Guillain-Barre-Syndrom war zwar nach übereinstimmender gutachterlicher Beurteilung von Prof. Dr. W und Prof. Dr. U1 als ausgeschossen zu betrachten, die von der Klägerin beschriebene und im Behandlungsbericht des F. Krankenhauses Widerspiegelung findende Symptomatik ist jedoch als Erstmanifestation einer sich in den folgenden Jahren kontinuierlich weiter entwickelnden, im Jahre 1999 erstmals als transverse Myelitis diagnostizierten Erkrankung des Rückenmarkes zu beurteilen. Wenn auch die Anhaltspunkte als Impfkomplikation lediglich die Meningoencephalitis ohne Symptome einer Impfpoliomyelitis aufführen, weist hier der Sachverständige zu Recht darauf hin, dass das Gehirn mit dem Rückenmark eine anatomische Einheit bildet und entzündliche Erkrankungen beider Anteile entweder einzeln oder auch in Kombination treffen kann. So führt z. B. auch aktuell das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (Urteil vom 28.04.2011 –Az. L 11 VJ 28/08-) unter Hinweis auf Fallstudien in den USA und dort beobachtete Impfkomplikationen bei Verwendung von Lebendimpfstoffen aus, dass typische Impffolgen Poliomyelitis Fälle mit Spinalparalysen, Myelitiden, Encephalitiden etc. waren. Ebenso zutreffend wird ausgeführt, dass sowohl für als Impfkomplikationen in Frage stehende poliomyelitisähnliche Erkrankungen als auch für die Meningoencephalitis entsprechend den Anhaltspunkten 1973 und 1983 ein Inkubationszeitraum von 30 Tagen anzunehmen ist und insoweit die Anhaltspunkte, soweit sie zwischen dem dritten und vierzehnten Tag ab eine Erstmanifestation fordern, nicht an Regelhaftigkeit für sich beanspruchen können. Dass die bei der Klägerin aufgetretenen Erscheinungen auch keine üblichen, den in den Anhaltspunkten dargestellten Folgen entsprechende Impfreaktionen waren, hat der Sachverständige ebenso zutreffend ausgeführt und desweiteren schlüssig dargelegt, dass sich die Entwicklung des sich zunächst in sensibler Symptomatik darstellenden, dann auf das thorakale Myelon beschränkende und später das gesamte Rückenmark in seiner Längenausdehnung betreffenden Erkrankungsbildes stimmig und mit Wahrscheinlichkeit in Zusammenhang mit der Impfung stehend darstellt. Dabei besteht Übereinstimmung des Sachverständigen mit Prof. Dr. W, dass auch andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden, insbesondere eine idiopathische transverse Myelitis in ihrer Existenz bereits in Frage zu stellen ist. Insgesamt hat das Gericht somit, anknüpfend auch an die Ausführungen von Prof. Dr. W, die 1994 aufgetretenen Symptome seien die ersten blanden Symptome einer transversen Myelitis, keine Zweifel daran, dass bei der Klägerin innerhalb der maßgebenden Inkubationszeit eine Impfkomplikation aufgetreten ist. Zweifel am ursächlichen Zusammenhang bestehen in Ansehung der schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen nicht, insoweit eine Verursachung einer transversen Myelitis postvakzinal anerkannt ist; soweit diesbezüglich, was Prof. Dr. W angesprochen hat, monophasische Verläufe beschrieben werden, macht dies einen Ursachenzusammenhang nicht unwahrscheinlich; zum einen finden sich –zwar selten- auch Verläufe, die rezidivierend-remitierend oder chronisch progredient sind, zum anderen ist immer zu vergegenwärtigen, dass Impfschäden nach Impfung mit Lebendviren ausgesprochene Seltenheit darstellen und sich insoweit eine überwiegende wissenschaftliche Lehrmeinung kaum bilden kann bzw., da hier Lebendvirenimpfungen 1998 eingestellt worden sind, Erkenntnisse sich nicht fortentwickeln können. Dass insoweit auch die Anhaltspunkte und die hierin getroffenen Aussagen zu hinterfragen sind, ergibt sich etwa auch aus den von dem Beklagten im Verwaltungsverfahren beigezogenen Abhandlungen der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten zu Impfreaktionen und Impfkomplikationen, als etwa hinsichtlich des Guillain-Barre-Syndromes von einer wissenschaftlichen Lehrmeinung bzw. Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft, welche normähnlichen Charakter beanspruchen könnten, nicht die Rede sein kann, als hier in Studien sogar kausale Zusammenhänge mit einer Poliomyelitis-Lebendimpfung ausgeschlossen wurden.
Der Klage war nach alledem stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines Impfschadens nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG) bzw. dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Bei der am 00.00.1956 geborenen Klägerin, welche seinerzeit beabsichtigte, eine private Reise nach Südafrika durchzuführen, wurde ausweislich ihres Impfbuches am 18.11.1994 eine Polioschutzimpfung mittels oraler Verabreichung des Impfstoffes "Sabin-S" durchgeführt; nach den seinerzeitigen Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission des Bundesgesundheitsamtes war eine solche Impfung empfohlen bei Reisen in Länder mit Poliorisiko, insbesondere auch Afrika.
Ausweislich eines Behandlungsberichtes des F. Krankenhauses C über stationäre Behandlung der Klägerin vom 18. bis 25.01.1995 klagte sie anamnestisch seit November 1994 über Kribbeln zunächst im Bereich der linken, dann beider Fußsohlen, ab 13.01.1995 erstmals schnell aufsteigend im Bereich des gesamten linken Beines mit Schwäche und erneuter Zunahme unmittelbar vor Aufnahme in die stationäre Behandlung. Bei fehlenden manifesten oder latenten Paresen, pathologischen neurologischen Befunden, unauffälligen Liquorwerten wurde in der stationären Behandlung ein Hinweis auf eine neurologische Erkrankung nicht gefunden; wegen der unauffälligen Liquorwerte wurde eine Encephalomyelitis disseminata (Multiple Sklerose) ausgeschlossen; im August 1995 zur diagnostischen Abklärung der anhaltenden Gefühlsempfindungs- und Taubheitsgefühle durchgeführte röntgenologische Untersuchungen der Brust- und Lendenwirbelsäule erbrachten ebenso keine Erklärung der Beschwerden. Wegen zunehmender Kribbelempfindungen und Taubheitsgefühle des linken Beines hochreichend bis zur Brustwirbelsäule wurde die Klägerin vier Jahre später, zunächst vom 17.04. bis 12.05.1999 (sodann vom 13.08. bis 18.08.1999 und 08.03. bis 11.03.2000) stationär in der Neurologischen Klinik der Krankenanstalten H in C handelt; röntgenologische Untersuchungen belegten hier eine disseminiert entzündliche spinale Erkrankung, insbesondere mit frischer Herdbildung im Brustwirbelsäulenbereich Th7/8 bei weiterhin allerdings unauffälligen Liquorbefunden; die Diagnose einer Multiplen Sklerose vermochte man insoweit weiterhin nicht zu stellen und sah die Ursache der entzündlichen Erkrankung nicht geklärt; magnetresonanztomographische Kontrolluntersuchungen im Juli 1999 wiesen für das Gehirn Entzündungsherde nicht auf; unter Gabe von Corticoiden besserte sich im Folgenden eine zunächst deutliche Gangataxie mit Fallneigung sowie eine zusätzlich im Juni aufgetretene, als Retinopathie beider Augen diagnostizierte Sehstörung.
Die Klägerin beantragte im Februar 2006 Gewährung von Beschädigtenversorgung unter Anerkennung ihrer Gesundheitsstörungen als Impfschaden als Folge der durchgeführten Polioschutzimpfung und trug ergänzend vor, vier Tage nach der Impfung erstmals unter Kribbelgefühlen unter dem linken Fuß gelitten zu haben. Im Rahmen des Feststellungsverfahrens zog der Beklagte zunächst die über die Klägerin geführten Rentenakten der Deutschen Rentenversicherung Bund, ein Vorerkrankungs- und Leistungsverzeichnis der U Krankenkasse sowie Befund- und Behandlungsberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte bei, nach deren Auswertung Dr. H1 in einer versorgungsärztlichen Stellungnahme (vom 13.07.2006) die Auffassung vertrat, weder seien die Gesundheitsstörungen der Klägerin diagnostisch gesichert, noch sei bei ihr eine über das übliche Maß hinausgehende Impfreaktion aufgetreten; die vorliegenden Berichte belegten initial sensible Symptome, hingegen keine poliomyelitisähnliche Erkrankung mit schlaffen Lähmungen. Daraufhin lehnte das Versorgungsamt C mit Bescheid vom 27.07.2006 den Antrag auf Beschädigtenversorgung ab.
Mit dem hiergegen am 03.08.2006 erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, nach neueren Erkenntnissen könnten, auch ohne Vorliegen schlaffer Lähmungen, sensible Symptome durchaus auf eine Impfpolio hinweisen; die ersten sensiblen Störungen habe sie wenige Tage nach der Impfung aufgewiesen und sich deshalb in neurologische Behandlung von Dr. L, C, begeben (Befundberichte waren nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist von diesem im Folgenden nicht mehr zu erreichen). Nach Beiziehung sämtlicher in der Vergangenheit erhobener bildgebender Befunde erstattete entsprechend beratungsärztlicher Empfehlung abschließend Prof. Dr. W, Neurologische Klinik des Klinikum M, am 14.12.2007 ein fachärztliches Zusammenhangsgutachten, in welchem er zu dem Ergebnis gelangte, das Krankheitsbild der Klägerin sei als sog. inkomplette transverse Myelitis mit chronischem, durch Schübe verschärftem Verlauf zu diagnostizieren; bei Fehlen einer sekundären Ätiologie im Rahmen einer systemischen Erkrankung sei ein Zusammenhang dieser mit der Impfung im Einzelfalle wahrscheinlich und ein Anspruch auf eine sog. Kann-Versorgung gerechtfertigt; eine Impfpoliomyelitis sei bei Fehlen seinerzeitiger Paresen zwar auszuschließen, in der Literatur beschrieben als Impfkomplikation sei jedoch eine durch reaktivierte Polioviren verursachte transverse Myelitis nach Impfung bzw. eine transverse Myelitis als ADEM-Variante (akute disseminierende Encephalomyelitis) nach Impfung bzw. eine ADEM-Myelitis, durch Impfung ausgelöst und in eine spinale Verlaufsform der Multiplen Sklerose übergehend; im Hinblick auf die geringen Fallzahlen hätten zwar die in der Forschung beschriebenen ätiologischen Zusammenhangshypothesen keine wissenschaftliche Evidenz, belegten ungeachtet dessen aber entsprechende Krankheitsmechanismen. Dieser Auffassung schloss sich Dr. C1, Leitende Prüfärztin des Beklagten, in mehreren versorgungsärztlichen Stellungnahmen (vom 12.02., 02.05., 07.07. und 25.09.2008) an, wohingegen verwaltungsseitig die Auffassung vertreten wurde, ein Impfschaden im Sinne einer unüblichen Impfreaktion sei anfänglich nicht beschrieben, das Kribbeln nicht mit den in den maßgebenden Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit beschriebenen Impfschäden vergleichbar, so dass sich die Frage einer "Kann-Versorgung" nicht stelle. Mit Widerspruchsbescheid vom 20.10.2008 wies der Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, ein Impfschaden im Anschluss an die Schluckimpfung sei nicht nachgewiesen; als Impfschaden gälten nach den den herrschenden medizinischen Wissensstand wiedergebenden Anhaltspunkten schlaffe Lähmungen innerhalb der Inkubationszeit; unabhängig davon lägen die Voraussetzungen für eine "Kann-Versorgung" nicht vor, weil es nicht gelungen sei, die heute bestehende Erkrankung eindeutig zu diagnostizieren und im Übrigen die vom Gutachter begründeten Möglichkeiten des Zusammenhanges nur theoretische seien.
Hiergegen richtet sich die am 17.11.2008 erhobene Klage, mit welche die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt und zu deren Begründung sie sich maßgeblich auf die gutachterliche Beurteilung des Sachverhalts durch Prof. Dr. W stützt. Klageunterstützend verweist sie im Übrigen auf eine ärztliche Äußerung von Prof. Dr. E, F. Krankenhaus C, (vom 30.10.2007), in welcher dieser die Auffassung vertrat, ein kausaler Zusammenhang der nunmehr eindeutig als transverse Myelitis zu diagnostizierenden Erkrankung sei bei Fehlen anderer Ursachen und Auftreten von Krankheitserscheinungen in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung wahrscheinlich.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des Bescheides vom 27.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2008 festzustellen, dass die bei ihr vorliegende transverse Myelitis Schädigungsfolge der am 18.11.1994 durchgeführten Polioimpfung ist.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht zog Streitverfahrensakten der Klägerin betreffend einen Rechtsstreit gegen die Stadt C wegen Zuerkennung des Nachteilsausgleiches "aG" (Az. S 15 SB 48/09) bei. Nach Maßgabe der Beweisanordnung vom 22.03.2010 erstatteten anschließend Prof. Dr. O, Berufsgenossenschaftliches Universitätsklinikum C2 in C3, ein radiologisches sowie Prof. Dr. U1, ebenda, ein neurologisches Gutachten, in welchem er zu der Auffassung gelangte, innerhalb der Inkubationszeit sei mit hoher Wahrscheinlichkeit bei der Klägerin ein Impfschaden im Sinne einer beginnenden Myelitis aufgetreten; auch eine Myelitis sei als unübliche Impfreaktion unter Beachtung der Anhaltspunkte festzustellen, da krankhafte Prozesse des Nervensystems nicht nur das Gehirn im Sinne einer Meningoencephalitis, sondern auch das hiermit eine anatomische Einheit bildende Rückenmark betreffen könne. Auf den näheren Inhalt der Gutachten von Prof. Dr. O vom 04.06.2010 und Prof. Dr. U1 vom 03.01.2011 wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.
Wegen der sonstigen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den weiteren Inhalt der Gerichtsakte und der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen. Dieser war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet.
Die bei der Klägerin als transverse Myelitis diagnostizierte Erkrankung ist Folge der am 18.11.1994 durchgeführten Polioschutzimpfung mittels des in Deutschland im Zeitraum 1962 bis 1968 eingesetzten OPV-Impfstoffes nach Sabin, einem Impfstoff aus abgeschwächten vermehrungsfähigen Poliomyelitisviren. Die Klägerin ist insoweit durch den entgegenstehenden Bescheid des Beklagten vom 27.07.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.10.2008 im Sinne von § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz –SGG- beschwert, denn dieser ist rechtswidrig.
Rechtsgrundlage für die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche sind die bis zum 31.12.2000 geltenden Vorschriften des Bundesseuchengesetzes (BSeuchG). Nach Artikel 5 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes zur Neuordnung seuchenrechtlicher Vorschriften trat das Infektionsschutzgesetz (IfSG) zwar zum 01.01.2001 in Kraft, da die streitgegenständliche Impfung zum Zeitpunkt der Geltung des BSeuchG verabreicht wurde, bleiben jedoch dessen Vorschriften maßgeblich. Letztlich kann dies jedoch dahinstehen, da die einschlägigen Vorschriften im Wesentlichen inhaltsgleich sind.
Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG (bzw. § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG) erhält derjenige, welcher durch eine empfohlene oder angeordnete Schutzimpfung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des Impfschadens auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).
Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 3 BSeuchG liegen hier vor, denn die verabreichte Impfung wurde von der Ständigen Impfkommission STIKO empfohlen und die Klägerin hat einen Impfschaden erlitten. Für die hier gegenständliche Impfung im November 1994 waren die Empfehlungen der STIKO von Oktober 1994 maßgeblich. Für Reisen nach Afrika, wie von der Klägerin seinerzeit beabsichtigt, bestand eine Impfempfehlung im Sinne einer Reiseempfehlung.
Impfschaden ist nach § 52 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG ein über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehender Gesundheitsschaden. Für die Impfopferversorgung müssen, ebenso wie für die Kriegsopferversorgung, die schädigende Einwirkung (Impfung), die gesundheitliche Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion (Impfkomplikation) und die Schädigungsfolge (ein Dauerleiden) nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen nachgewiesen und nicht nur wahrscheinlich sein (BSG, Urteil vom 19.03.1986, SozR 3850 § 51 Nr. 9). Für den ursächlichen Zusammenhang zwischen schädigendem Ereignis zwischen der (Primär-)Schädigung sowie zwischen dieser und den Schädigungsfolgen genügt es, dass die Kausalität wahrscheinlich ist (§ 52 Abs. 2 Satz 1 BSeuchG). Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen; die bloße Möglichkeit reicht nicht aus.
Bei der insoweit vorzunehmenden Kausalitätsbeurteilung sind die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" in ihrer jeweils geltenden Fassung zu beachten, die jeweils unter den Nummern 53 bis 143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen enthalten; dies gilt auch für die Zeit ab Inkrafttreten der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung zum 01.01.2009, die solche auf einzelne Krankheitszustände bezogene Hinweise nicht mehr enthält. Die auf den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft fußenden Anhaltspunkte (AHP) haben dabei normähnlichen Charakter und sind grundsätzlich heranzuziehen, um eine möglichst gleichmäßige Handhabung der in ihnen niedergelegten Maßstäbe zu gewährleisten. Grundsätzlich ist der neueste medizinische Erkenntnisstand zu berücksichtigen, und zwar auch dann, wenn der zu beurteilende Impfvorgang lange oder gar Jahrzehnte zurückliegt. Im vorliegenden Fall sind anzuwenden die AHP 1996, 2004 und 2005 als aktueller Stand der Wissenschaft; nach 2005 sind von der STIKO im epidemiologischen Bulletin (EB) keine neuen medizinischen Erkenntnisse mehr zur Abgrenzung üblicher Impfreaktionen von einer Impfkomplikation enthalten, was darin begründet ist, dass 1998 die Empfehlung des Einsatzes von OPV (oraler Poliovirus-lebend-Vakzine) aufgehoben und der Einsatz von inaktiviertem Polioimpfstoff empfohlen wurde und von daher seit 2004 keine Impfkomplikationen mehr benannt sind.
Nach Ziffer 56 Abs. 1 AHP 2004 ist ein Impfschaden gemessen an der Zahl durchgeführter Impfungen selten, weshalb in jeden Fall sorgfältige differenzialdiagnostische Erklärungen erforderlich sind; nach Absatz 2 dieser Ziffer tritt nach jeder Impfung eine Reaktion des Organismus auf, die sich in unterschiedlichen örtlichen oder allgemeinen Erscheinungen äußern kann. Dabei werden in Ziffer 57 der AHP die üblichen Impfreaktionen und möglicherweise darüber hinausgehende Impfreaktionen für die einzelnen Schutzimpfungen beschrieben. Was die hier betreffende Polioschutzimpfung anbelangt, werden nach Ziffer 57 2a der AHP 2004 als übliche Impfreaktion einige Tage nach der Schluckimpfung gelegentlich –nur wenige Tage anhaltend- Durchfälle, Erbrechen, erhöhte Temperaturen, Exanteme, Kopfschmerzen und Abgeschlagenheit angegeben. Als Impfkomplikationen werden genannt poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens sechs Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis), das Guillain-Barre-Syndrom sowie nicht poliomyelitisähnliche Erkrankungen am zentralen Nervensystem nach der Impfung, wie die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens oder eine Meningoencephalitis.
Das Gericht hat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme keinen Zweifel daran, dass es bei der Klägerin innerhalb weniger Tage nach der am 18.11.1994 durchgeführten Impfung zu einer unüblichen Impfreaktion gekommen ist. Das Gericht stützt sich dabei auf das überzeugende Sachverständigengutachten von Prof. Dr. U1 sowie das von der Beklagten veranlasste Gutachten von Prof. Dr. W, welches im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden konnte. Wenn auch die Angaben der Klägerin, bereits drei bis fünf Tage nach der oralen Poliovakzination mit Sabin erstmalig Gefühlsempfindungsstörungen im Bereich der linken, später beider Fußsohlen bemerkt zu haben, nicht belegt ist und auch von Dr. L über die am 24.11.1994 behauptete ambulante Vorstellung ein Behandlungsbericht nicht zu erreichen war, ist durch die Behandlungsberichte der Neurologischen Klinik des F. Krankenhauses C belegt, dass sich die Klägerin im Rahmen einer ambulanten Voruntersuchung am 12.12.1994 dort erstmals, dann im Januar 1995 nach weiterer Zunahme der Gefühlsverluste nebst Schwäche vornehmlich des linken Beines sich in ärztliche Behandlung begeben hat mit Beschwerden, die als Ausdruck einer unüblichen Impfreaktion zu werten waren. Eine postvakzinale Poliomyelitis oder ein Guillain-Barre-Syndrom war zwar nach übereinstimmender gutachterlicher Beurteilung von Prof. Dr. W und Prof. Dr. U1 als ausgeschossen zu betrachten, die von der Klägerin beschriebene und im Behandlungsbericht des F. Krankenhauses Widerspiegelung findende Symptomatik ist jedoch als Erstmanifestation einer sich in den folgenden Jahren kontinuierlich weiter entwickelnden, im Jahre 1999 erstmals als transverse Myelitis diagnostizierten Erkrankung des Rückenmarkes zu beurteilen. Wenn auch die Anhaltspunkte als Impfkomplikation lediglich die Meningoencephalitis ohne Symptome einer Impfpoliomyelitis aufführen, weist hier der Sachverständige zu Recht darauf hin, dass das Gehirn mit dem Rückenmark eine anatomische Einheit bildet und entzündliche Erkrankungen beider Anteile entweder einzeln oder auch in Kombination treffen kann. So führt z. B. auch aktuell das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (Urteil vom 28.04.2011 –Az. L 11 VJ 28/08-) unter Hinweis auf Fallstudien in den USA und dort beobachtete Impfkomplikationen bei Verwendung von Lebendimpfstoffen aus, dass typische Impffolgen Poliomyelitis Fälle mit Spinalparalysen, Myelitiden, Encephalitiden etc. waren. Ebenso zutreffend wird ausgeführt, dass sowohl für als Impfkomplikationen in Frage stehende poliomyelitisähnliche Erkrankungen als auch für die Meningoencephalitis entsprechend den Anhaltspunkten 1973 und 1983 ein Inkubationszeitraum von 30 Tagen anzunehmen ist und insoweit die Anhaltspunkte, soweit sie zwischen dem dritten und vierzehnten Tag ab eine Erstmanifestation fordern, nicht an Regelhaftigkeit für sich beanspruchen können. Dass die bei der Klägerin aufgetretenen Erscheinungen auch keine üblichen, den in den Anhaltspunkten dargestellten Folgen entsprechende Impfreaktionen waren, hat der Sachverständige ebenso zutreffend ausgeführt und desweiteren schlüssig dargelegt, dass sich die Entwicklung des sich zunächst in sensibler Symptomatik darstellenden, dann auf das thorakale Myelon beschränkende und später das gesamte Rückenmark in seiner Längenausdehnung betreffenden Erkrankungsbildes stimmig und mit Wahrscheinlichkeit in Zusammenhang mit der Impfung stehend darstellt. Dabei besteht Übereinstimmung des Sachverständigen mit Prof. Dr. W, dass auch andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden, insbesondere eine idiopathische transverse Myelitis in ihrer Existenz bereits in Frage zu stellen ist. Insgesamt hat das Gericht somit, anknüpfend auch an die Ausführungen von Prof. Dr. W, die 1994 aufgetretenen Symptome seien die ersten blanden Symptome einer transversen Myelitis, keine Zweifel daran, dass bei der Klägerin innerhalb der maßgebenden Inkubationszeit eine Impfkomplikation aufgetreten ist. Zweifel am ursächlichen Zusammenhang bestehen in Ansehung der schlüssigen Ausführungen des Sachverständigen nicht, insoweit eine Verursachung einer transversen Myelitis postvakzinal anerkannt ist; soweit diesbezüglich, was Prof. Dr. W angesprochen hat, monophasische Verläufe beschrieben werden, macht dies einen Ursachenzusammenhang nicht unwahrscheinlich; zum einen finden sich –zwar selten- auch Verläufe, die rezidivierend-remitierend oder chronisch progredient sind, zum anderen ist immer zu vergegenwärtigen, dass Impfschäden nach Impfung mit Lebendviren ausgesprochene Seltenheit darstellen und sich insoweit eine überwiegende wissenschaftliche Lehrmeinung kaum bilden kann bzw., da hier Lebendvirenimpfungen 1998 eingestellt worden sind, Erkenntnisse sich nicht fortentwickeln können. Dass insoweit auch die Anhaltspunkte und die hierin getroffenen Aussagen zu hinterfragen sind, ergibt sich etwa auch aus den von dem Beklagten im Verwaltungsverfahren beigezogenen Abhandlungen der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten zu Impfreaktionen und Impfkomplikationen, als etwa hinsichtlich des Guillain-Barre-Syndromes von einer wissenschaftlichen Lehrmeinung bzw. Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft, welche normähnlichen Charakter beanspruchen könnten, nicht die Rede sein kann, als hier in Studien sogar kausale Zusammenhänge mit einer Poliomyelitis-Lebendimpfung ausgeschlossen wurden.
Der Klage war nach alledem stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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