S 29 KR 1406/10

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Köln (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
29
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 29 KR 1406/10
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 22.03.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2010 verurteilt, der Klägerin die Kosten für eine laparoskopische Einbringung eines Blasenschrittmachers durch Prof. Dr. XXXXXXXXXXXXXXX dem Grunde nach zu erstatten. Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin sind durch die Beklagte zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Bewilligung einer laparoskopischen Einbringung eines Blasenschrittmachers durch Herrn Prof. Dr. XXXXXXXXXXXXXXXXX (Schweiz).

Die am 12.04.1953 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie leidet an einer neurogenen Blasenentleerungsstörung mit Detrusorhypoaktivität und Harnretention. Sie ist nicht fähig, eigenständig die Blase zu entleeren. Sie ist zur Selbstkatheterisierung gezwungen.

Am 12.02.2010 beantragte die Klägerin gegenüber der Beklagten unter Vorlage eines Attestes des Facharztes für Urologie Dr. XXXXXXXXX vom 05.02.2010 und eines Kostenvoranschlages von Herrn Prof. Dr. XXXXXX i.H.v. 29.895,00 Schweizer Franken (Stand 24.02.2010) die Bewilligung einer laparoskopischen Einbringung eines Blasenschrittmachers durch Herrn Prof. Dr. XXXXXXXX in der XXXXXXXXX (Schweiz).

Dr. XXXXXXXXXX führte in seinem Attest vom 05.02.2010 aus, dass bei der Klägerin zweimalig erfolglos eine sakrale Nervenstimulation erprobt worden sei, um eine Verbesserung der Blasenentleerung zu erreichen. Eine Verbesserung der Situation könne durch eine laparoskopische Platzierung eines Blasenschrittmachers erfolgen. Der einzige Operateur, der laparoskopisch die Elektroden zur sakralen Nervenstimulation in diesem Bereich platziert, sei Prof. Dr. XXXXXXXXX an der XXXXXXXKlinik in Zürich. Eine andere Möglichkeit, die gesundheitlichen Probleme der Klägerin zu beheben, seien nicht gegeben.

Professor Dr. XXXXXXXXX ist Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, Gynäkologie und Neuropelveologie und Leiter des Zentrums für Neuropelveologie der Klinik XXXXXXXX in Zürich. Das von ihm angewandte Verfahren (sog. LION-Prozedur) beschäftigt sich mit der Wiedererlangung von Organfunktionen durch Elektrostimulationen der notwendigen Nerven.

Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) nahm am 15.03.2010 Stellung. Er vertrat die Auffassung, dass es sich bei der sakralen Neuromodulation (sog. Blasenschrittmacher) um eine neue Behandlungsmethode mit unzureichender Studien- und Datenlage handele. Stationär sei ein solcher Eingriff auch in Deutschland, z.B. im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Trier durchführbar. Eine andere zugelassene operative Behandlungsmöglichkeit bei der bestehenden Blasenentleerungsstörung mit regelmäßigem Selbstkatheterismus stehe nicht zur Verfügung. Bei dem Krankheitsbild der Klägerin handele es sich nicht um eine lebensgefährliche Erkrankung.

Telefonisch teilte das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Trier der Beklagten am 22.03.2010 mit, dass die sakrale Neuromodulation im Rahmen der vertraglichen Krankenhausbehandlung nach fachärztlicher Einweisung angeboten werde.

Mit Bescheid vom 22.03.2010 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin unter Bezugnahme auf die Ausführungen des MDK vom 15.03.2010 als unbegründet ab.

Die Klägerin legte hiergegen am 01.04.2010 Widerspruch ein. Mit Schreiben vom 19.04.2010 führte der die Klägerin behandelnde Facharzt für Urologie Dr. XXXXXXXX aus, dass nach ausgereizter konservativer Therapie bereits ein Therapieversuch (Testung) mit einer Modulation des sakralen Nervengeflechts erfolgt sei. Das Testergebnis habe nur zum Teil befriedigende Ergebnisse erbracht. Die Blase und deren Schließmuskel sprächen nachweislich auf die Neuromodulation an, aber der Harnverhalt habe nicht komplett beseitigt werden können, so dass die Notwendigkeit zum Katheterismus verblieben sei. Unter diesen Umständen sei die Indikation zur endgültigen Implantation eines Neuromodulators nicht vollständig gegeben. Die konservativen Therapieversuche seien ausgereizt. Auch ein erneuter Test der Neuromodulation mit einer fünfpoligen dauerhaften Elektrode habe zwar wiederum zu ansprechenden Ergebnissen und zu einer weiteren Verbesserung der Symptome im Vergleich zu der Testung mit einer einfachen Testelektrode geführt. Aber wiederum habe der Harnverhalt nicht komplett überwunden werden können, so dass auch nach einer weiteren Testung der Neuromodulation mit einer besser steuerbaren Dauerelektrode an der sakralen Nervenwurzel entschieden worden sei, den Neuromodulator nicht zu implantieren, da ein hinreichender Therapieerfolg bei dieser Art der Stimulation nicht erzielt werden könne. Es gebe die Möglichkeit, die infrage kommenden Nerven, z.B. den Nervus hypogastricus, selektiv zu stimulieren. Es habe sich gezeigt, dass hierdurch ein besseres Ansprechen der Neuromodulation resultiere. Dieses Verfahren sei allerdings operationstechnisch nicht einfach. In Deutschland werde dieses spezielle Verfahren mit einem laparoskopischen Zugang von vorne bisher in keinem Zentrum angewandt. Die nächstgelegene geeignete Behandlungsstätte für diese beantragte Therapie liege in der Schweiz bei Herrn Prof. Dr. XXXXXXX. Die im Gutachten des MDK vom 15.03.2010 benannte Klinik in Trier führe die Neuromodulation nur in der konventionellen Technik durch. Dieses habe bei der Klägerin nicht zu einem ausreichenden Erfolg geführt. Es handele sich nicht um eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode mit experimentellem Charakter, sondern um eine Auslandsbehandlung bei derzeit in Deutschland nicht gegebener Behandlungsmöglichkeit.

Der MDK nahm hierzu am 26.05.2010 ergänzend Stellung. Er wiederholte, dass es sich bei der beantragten Methode nicht um eine allgemein anerkannte, wissenschaftlich evaluierte Methode handele, so dass die Voraussetzungen nach §§ 2 und 12 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) nicht erfüllt seien. Es fehlten sowohl Ergebnisse kontrollierter Studien als auch eine breite Akzeptanz in der Fachöffentlichkeit. Eine besondere OP-Technik begründe alleine nicht die Pflicht der gesetzlichen Krankenversicherung zur Kostenübernahme einer Leistung im Ausland.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10.11.2010 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Sie verwies darauf, dass gemäß § 16 Abs. 1 Nr. 1 SGB V eine Kostenerstattung für eine Behandlung im Ausland in Betracht komme, wenn für die betreffende Krankheit im Inland überhaupt keine, also auch keine andere Behandlungsmethode zur Verfügung stehe. Es sei dem Versicherten eine und nicht die Behandlung, die gewünscht sei, zur Verfügung zu stellen. Nachdem die sakrale Nervenstimulation im Vertragskrankenhaus der Barmherzigen Brüder in Trier durchgeführt werden könne, bestehe keine Möglichkeit der Kostenübernahme für die beantragte Behandlung in Zürich.

Die Klägerin hat am 03.12.2010 Klage erhoben. Sie wiederholt ihr Vorbringen aus dem Antrags- und Widerspruchsverfahren und legt eine Bescheinigung der Oberärztin Dr. XXXXXXXX (Krankenhaus XXXXXXXXX) vom 02.12.2010 und ärztliche Atteste des Facharztes für Innere Medizin Dr. XXXXXX vom 11.01.2011, des Facharztes für Frauenheilkunde Dr. XXXXXXXX vom 27.01.2011 und des Facharztes für Urologie Dr. XXXXXXXXX vom 23.01.2011 vor.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22.03.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2010 zu verurteilen, ihr die Kosten für eine laparoskopische Einbringung eines Blasenschrittmachers durch Herrn Prof. Dr. XXXXXXXX Klinik Zürich (Schweiz) dem Grunde nach zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie nimmt Bezug auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid vom 10.11.2010 und führt ergänzend aus, dass unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16.06.1999 (Az.: B 1 KR 4/98 R) eine Kostenübernahme nicht in Betracht komme. Es gelte der Vorrang der Inlandsbehandlung, die unter Anwendung alternativer Behandlungsmethoden im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Trier möglich sei. Darüber hinaus handele es sich bei dem von Herrn Prof. Dr. XXXXXXXX angewandten Verfahren um kein evaluiertes und etabliertes Verfahren. Der Erfolg müsse sich aus wissenschaftlich einwandfrei durchgeführten Studien über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen lassen. Die Therapie müsse in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erfolgreich gewesen sein. Dies sei vorliegend nicht der Fall.

Am 10.05.2011 hat das Gericht einen Befundbericht des Facharztes für Urologie Dr. XXXXXX beigezogen. Am 18.08.2011 hat Prof. Dr. XXXXXX zu der von ihm angewandten Behandlungsmethode Stellung genommen. Sodann hat das Gericht den Direktor der Frauenklinik und Hebammenlehranstalt des Universitätsklinikums XXXXXX und XXXXXX Prof. Dr. Dr. h.c. XXXXXXX zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt und mit der Erstellung eines schriftlichen Gutachtens beauftragt. Professor Dr. Dr. h.c. XXXXXXX hat das Gutachten am 02.04.2012 nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 22.03.2012 erstattet. Wegen der weiteren Einzelheiten der Beweisaufnahme wird auf den beigezogenen Befundbericht, die eingeholte ärztliche Stellungnahme und das eingeholte Sachverständigengutachten Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Streit- und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten sowie auf die darin befindlichen gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte über die Klage durch Grundurteil entscheiden. Gemäß § 130 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann zur Leistung dem Grunde nach verurteilt werden, wenn eine Leistung in Geld begehrt wird, auf die ein Rechtsanspruch besteht, § 54 Abs. 4 SGG (vgl. Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 15.11.2001, Az.: L 4 KR 101/99).

1.) Die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) ist begründet.

Die Klägerin ist durch den ablehnenden Bescheid vom 22.03.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2010 beschwert, da er rechtswidrig ist (§ 54 Abs. 2 SGG). Die Klägerin hat einen Anspruch auf Übernahme der Kosten, die ihr durch eine laparoskopische Einbringung eines Blasenschrittmachers durch Herrn Prof. Dr. XXXXXXXXXX Klinik Zürich (Schweiz) dem Grunde nach entstehen.

Gemäß § 13 Abs. 4 Satz 1 SGB V sind Versicherte berechtigt, auch Leistungserbringer in anderen Staaten, in denen die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in ihrer jeweils geltenden Fassung anzuwenden ist, anstelle der Sach- oder Dienstleistungen im Wege der Kostenerstattung in Anspruch zu nehmen. Es dürfen nur solche Leistungserbringer in Anspruch genommen werden, bei denen die Bedingungen des Zugangs und der Ausübung des Berufes Gegenstand einer Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft sind oder die im jeweiligen nationalen System der Krankenversicherung des Aufenthaltsstaates zur Versorgung der Versicherten berechtigt sind (Satz 2). Der Anspruch auf Erstattung besteht höchstens in Höhe der Vergütung, die die Krankenkasse bei Erbringung als Sachleistung im Inland zu tragen hätte (Satz 3). Gemäß § 13 Abs. 5 Satz 1 SGB V können abweichend von Abs. 4 in anderen Staaten, in denen die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in ihrer jeweils geltenden Fassung anzuwenden ist, Krankenhausleistungen nach § 39 nur nach vorheriger Zustimmung durch die Krankenkassen in Anspruch genommen werden. Die Zustimmung darf nur versagt werden, wenn die gleiche oder eine für den Versicherten ebenso wirksame, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung einer Krankheit rechtzeitig bei einem Vertragspartner der Krankenkasse im Inland erlangt werden kann (Satz 2).

Die Schweiz gehört zu den "anderen Staaten" im Sinne von § 13 Abs. 4 und 5 SGB V. Die Klinik XXXXXX ist auch eine zulässige Leistungserbringerin für einen Anspruch gemäß § 13 Abs. 5 i.V.m. Abs. 4 SGB V. Da diese Kostenerstattungsansprüche nicht an die Einbindung in ein Sachleistungssystem anknüpfen, sondern die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) umsetzen, ist die Einbindung des ausländischen Leistungserbringers in ein solches System keine notwendige Anspruchsvoraussetzung (vgl. in Bezug auf die Klinik XXXXXXXXXXX SG Aachen, Urteil vom 23.09.2010, Az.: S 13 KR 10/10). Es genügt, dass die in einem anderen Mitgliedstaat gelegene Privatklinik in diesem Mitgliedstaat ebenfalls Qualitätskontrollen unterliegt, und dass die in diesem Staat niedergelassenen Ärzte, die in dem genannten Krankenhaus tätig sind, gleiche berufliche Garantien wie die im Inland niedergelassenen Ärzte bieten (vgl. BSG, Urteil vom 30.06.2009, Az.: B 1 KR 22/08 R; vgl. in Bezug auf die Klinik XXXXXXXX SG Aachen, Urteil vom 23.09.2010, Az.: S 13 KR 10/10). Hiervon ist für die Schweiz, die Klinik XXXXXXXX und Prof. Dr. XXXXXXXX auszugehen.

Die Inanspruchnahme von Krankenhausleistungen im Ausland - hier: der Schweiz - ist an die Voraussetzung einer vorherigen Zustimmung durch die Krankenkasse geknüpft. Diese Zustimmung hat die Beklagte gemäß § 13 Abs. 5 Satz 2 SGB V rechtswidrig versagt.

Die Zustimmung darf hiernach nur versagt werden, wenn die gleiche oder eine für den Versicherten ebenso wirksame, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung einer Krankheit rechtzeitig bei einem Vertragspartner der Krankenkasse im Inland erlangt werden kann. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Die streitgegenständliche Behandlungsmethode stellt eine wirksame und dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung dar (a). Behandlungsalternativen im Inland bestehen für die Klägerin nicht (b).

a) Das Kriterium einer dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung hat nicht nur die Behandlungsalternative im Inland zu erfüllen, sondern auch die streitige Auslandsbehandlung; denn die Vorschrift des § 13 Abs. 5 Satz 2 SGB V bezieht dieses Kriterium - das ergibt sich aus der Grammatik dieses Satzes und dem Sinn und Zweck der Regelung - sowohl auf "die gleiche" als auch "eine für den Versicherten ebenso wirksame" Behandlung (vgl. dazu auch BSG, Urteil vom 17.02.2010, Az.: B 1 KR 14/09 R). Dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht eine Behandlungsmethode, wenn sie von der großen Mehrheit der einschlägigen Fachleute (Ärzte, Wissenschaftler) befürwortet wird. Von einzelnen, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, muss über die Zweckmäßigkeit der Therapie Konsens bestehen. Das setzt im Regelfall voraus, dass über Qualität und Wirksamkeit der neuen Methode zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden können. Die Therapie muss in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erfolgreich gewesen sein. Der Erfolg muss sich aus wissenschaftlich einwandfrei geführten Statistiken über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen lassen. Unabdingbare Voraussetzung für die Erlangung der wissenschaftlichen Anerkennung ist zudem die Möglichkeit, die Behandlung an anderer Stelle und durch andere Ärzte zu wiederholen und ihre Ergebnisse überprüfbar zu machen (vgl. m.w.N. BSG, Urteil vom 16.06.1999, Az.: B 1 KR 4/98 R).

Nach Maßgabe dieser Grundsätze stellt das von Herrn Prof. Dr. XXXXXXX angewandte Verfahren der laparoskopischen Einbringung eines Blasenschrittmachers eine dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende wirksame Behandlungsmethode dar. Dies ergibt sich zur Überzeugung der Kammer aus den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. Dr. h.c. XXXXXXXX in seinem schriftlichen Gutachten vom 02.04.2012.

Die streitbefangene Behandlungsmethode ist zunächst geeignet, bei der Klägerin einen Behandlungserfolg herbeizuführen. Prof. Dr. Dr. h.c. XXXXXXXXXXXXX diagnostizierte bei der Klägerin eine neurogene Blasenentleerungsstörung mit Detrusorhypoaktivität und Harnretention, häufige Zystitiden mit konsekutiver Antibiotika-Therapie und dadurch bedingter Fehlbesiedlung des Darmes mit unphysiologischen Keimen, eine Strumatitis und eine psycho-vegetative Dysregulation mit deutlich depressiver Komponente. Es bestehe die Unfähigkeit der eigenständigen Blasenentleerung. Bei dem von Herrn Prof. Dr. XXXXXXXXXXXXX angewandten Verfahren (LION-Prozedur) handele es sich um eine Neuromodulation der sakralen Nerven. Im Unterschied zu der bereits von Dr. XXXXXXXXXXXXX praktizierten sakralen Nervenstimulation platziere man die Elektroden direkt und unter laparoskopischer Sicht an die Nerven. Da die weniger präzise sakrale Nervenstimulation durch Dr. XXXXXXXXXXXXX bereits einen mäßigen Erfolg gezeigt habe, sei die vorgeschlagene Behandlungsweise unmittelbar an der Krankheit ansetzend. Die empfohlene Therapie im Sinne der LION-Prozedur stelle eine sinnvolle und kausale Therapieoption dar. Die LION-Prozedur biete nach Umfang und Qualität hinreichende Chancen für einen Heilerfolg so wie auch andere, insbesondere die bereits praktizierten Methoden, einen ausreichenden Behandlungserfolg versprochen hätten. Unter den gegebenen Bedingungen stelle die laparoskopische Vorgehensweise im Sinne der LION-Prozedur die bestmögliche Option dar.

Die von Herrn Prof. Dr. XXXXXXXXXXXXX ausgeübte Behandlungsmethode wird von der großen Mehrheit der einschlägigen Fachleute befürwortet. Der Erfolg lässt sich aus wissenschaftlich einwandfrei geführten Statistiken über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen. So legt Herr Prof. Dr. Dr. h.c. XXXXXXXXXXXXX dar, dass die Wirksamkeit der Behandlung in einer ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen dokumentiert sei. Es liege hinreichend Literatur an z.T. sehr hohen Patientenzahlen vor, die sowohl die technische Durchführbarkeit als auch die sehr positiven Ergebnisse dokumentiere. Darüber hinaus habe Prof. Dr. XXXXXXXXXXXXX auf vielen wissenschaftlichen Veranstaltungen vor großem Fachpublikum diese Methode im Rahmen von Live-Operationen dokumentiert und seine hohe Kompetenz somit der breiten Fachöffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Die bezeichnete Behandlungsmethode sei als allgemein anerkannt und respektiert zu betrachten.

Die LION-Prozedur wird zudem nicht allein von Herrn Prof. Dr. XXXXXXXXXXXXX ausgeführt. Eine Überprüfbarkeit durch Dritte ist gegeben. Prof. Dr. Dr. h.c. XXXXXXXXXXXXX legt dar, dass die angewandte Methode ebenfalls an der Universitätsfrauenklinik Gießen unter seiner Leitung etabliert worden sei. In der gegebenen Situation aufgrund der Voroperationen sowie bereits platzierter Elektroden mit anschließender Entfernung sei indes der Situs als außerordentlich schwierig zu beurteilen, sodass einzig Prof. Dr. XXXXXXXXXXXXX über ausreichend Erfahrung verfüge, um diese Methode anzuwenden. Außerdem sei die LION-Prozedur in der Frauenklinik XXXXXXX, Österreich, unter Leitung von Prof. Dr. XXXXXXXXXXX, einem renommierten endoskopischem Operateur, etabliert worden. Auch hier sei zu vermuten, dass bei der gegebenen Vorgeschichte der Klägerin die Durchführung des Eingriffes durch Prof. Dr. XXXXXXXXXXXXX gewünscht würde.

Das Gericht schließt sich den Einschätzungen des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. h.c. XXXXXXXXXXXXX vollumfänglich an. Anhaltspunkte dafür, dass die von Prof. Dr. Dr. h.c. XXXXXXXXXXXXX unter Auswertung aller vorliegenden medizinischen Unterlagen getroffene Bewertung unrichtig oder unvollständig ist, sind nicht ersichtlich. Als Direktor der Frauenklinik und Hebammenlehranstalt des Universitätsklinikums XXXXXXXX und XXXXXXXX und ehemaligem Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für gynäkologisch-geburtshilfliche Endoskopie ist der Sachverständige für die vorliegende Begutachtung besonders qualifiziert.

b) Eine gleiche oder eine für die Klägerin ebenso wirksame, dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung ihrer Krankheit steht im Inland nicht zur Verfügung. Der Facharzt für Urologie Dr. XXXXXXXXXXXXX weist wiederholt in seinem Attest vom 05.02.2010, seinem Schreiben vom 19.04.2010 und seinem Befundbericht vom 06.05.2011 darauf hin, dass andere schulmedizinische Behandlungen im Inland nicht zur Verfügung stünden. Es bestehe eine notstandsähnliche Situation. Zudem bestätigt Frau Oberärztin Dr. XXXX (Krankenhaus XXXXXXXXX) mit Schreiben vom 02.12.2010, dass – entgegen der Auffassung des MDK in seinen Stellungnahmen vom 15.03.2010 und 26.05.2010 – eine laparoskopische Einbringung des Blasenschrittmachers in XXXXXX nicht erfolgen könne. Unterstrichen werden diese Einschätzungen durch die überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. h.c. XXXXXXXXXXXXX in seinem Gutachten vom 02.04.2012, denen sich die Kammer auch in diesem Punkt anschließt. Prof. Dr. Dr. h.c. XXXXXXXXXXXXX bekräftigt, dass der Klägerin weder nach seiner persönlichen Einschätzung noch der vorliegenden Literatur, eine andere ebenso wirksame und dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung bei einem Vertragspartner der Krankenkasse im Inland zur Verfügung stehe.

2.) Die Kostenentscheidung beruht auf den Vorschriften der §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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