L 15 SF 131/11 B E

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
15
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 7 SF 159/11 E
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 SF 131/11 B E
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Gegen diese Beschlüsse über Erinnerungen, welche gegen Kostenfestsetzungen der Urkundsbeamten der Geschäftsstelle im Verfahren nach §§ 45 ff. RVG erhoben worden sind, ist das Rechtsmittel der Beschwerde statthaft; § 178 SAtz 1 SGG tritt insoweit gegenüber § 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 1 RVG zurück.
2. Das verfassungsrechtliche Vertrauensschutzprinzip gebietet, dass das Erinnerungsrecht der Staatskasse trotz des Fehlens einer ausdrücklichen Befristung nicht "bis in alle Ewigkeit" besteht. Dem kann durch das Rechtsinstitut der Verwirkung Rechnung getragen werden.
3. Spätestens nach einem Jahr nach dem Wirksamwerden der Kostenfestsetzungsentscheidung ist das Erinnerungsrecht der Staatskasse verwirkt, sofern nicht besonders missbilligenswerte Umstände in der Sphäre des Anwalts vorliegen. Offen bleibt, ob dies in gleicher Weise für das Erinnerungsrecht des Anwalts gilt.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts München vom 22. März 2011 wird zurückgewiesen.




Gründe:


I.
Das Beschwerdeverfahren betrifft die Vergütung als beigeordneter Rechtsanwalt, die dem Beschwerdegegner gegen die Staatskasse zusteht.

Der Beschwerdegegner war in einem schwerbehindertenrechtlichen Klageverfahren dem damaligen Kläger im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnet worden. Die Klageparteien hatten einen außergerichtlichen Vergleich geschlossen, was zur Erledigung des Klageverfahrens führte. Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle beim Sozialgericht München setzte am 06.10.2009 die Vergütung nach §§ 45 ff. RVG fest und erkannte dabei auch eine Terminsgebühr zu. Dagegen hat der Bezirksrevisor beim Bayerischen Landessozialgericht am 12.01.2011 für die Staatskasse Erinnerung eingelegt; er hat sich gegen den Ansatz einer Terminsgebühr gewandt. Die Kostenrichterin beim Sozialgericht hat die Erinnerung mit Beschluss vom 22.03.2011 zurückgewiesen. Dies hat sie damit begründet, das Recht zur Erinnerung sei für die Staatskasse verwirkt, wobei sie die in § 20 Abs. 1 GKG genannten Frist entsprechend herangezogen und sich auf einen Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 01.11.2010 - S 127 SF 407/10 E bezogen hat. Eine Beschwerde zum Bayer. Landessozialgericht, so die Kostenrichterin, sei aufgrund von § 178 Satz 1 SGG nicht statthaft.

Gleichwohl hat der Bezirksrevisor am 05.04.2011 Beschwerde eingelegt. Er ist der Ansicht, das Rechtsmittel sei statthaft, weil § 178 Satz 1 SGG gegenüber §§ 56 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 33 Abs. 3 Satz 1 RVG zurücktrete. Die Staatskasse habe das Recht zur Erinnerung nicht verwirkt; der Bezirksrevisor hat insoweit auf eine Entscheidung des Bayer. Landessozialgerichts vom 25.08.1995 - L 14 Ar 214/89.Ko Bezug genommen. Die Staatskasse habe im November 2010 erstmals von der überhöhten Auszahlung Kenntnis erlangt. Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

II.
Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg.

Zuständig für die Entscheidung über die Beschwerde ist zwar prinzipiell der Einzelrichter (§ 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 8 Satz 1 RVG). Jedoch entscheidet wegen grundsätzlicher Bedeutung der Angelegenheit gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG der Senat als Gesamtspruchkörper. Ehrenamtliche Richter wirken nicht mit (§ 56 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 33 Abs. 8 Satz 3 RVG).

1. Zur Zulässigkeit der Beschwerde

Die Beschwerde ist zulässig.

Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts ist die Beschwerde statthaft. § 178 Satz 1 SGG führt nicht dazu, dass es gegen den Beschluss der Kostenrichterin kein Rechtsmittel gibt. Diese Norm bestimmt, dass gegen eine Entscheidung des Urkundsbeamten das Gericht angerufen werden kann; dessen Entscheidung ist endgültig, ein Rechtsmittel also ausgeschlossen. Genau dieser Verfahrensablauf liegt hier vor: Zunächst hat der Urkundsbeamte unter dem Datum 06.10.2009 eine Kostenfestsetzung vorgenommen. Dagegen ist Erinnerung eingelegt worden, die zu einer Entscheidung der Kostenrichterin geführt hat. Gleichwohl greift der durch § 178 Satz 1 SGG normierte Rechtsmittelausschluss nicht, weil demgegenüber § 56 RVG Vorrang genießt. Aus § 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 1 RVG geht hervor, dass die Beschwerde gegen die Entscheidung über die Erinnerung statthaft ist, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands 200 Euro übersteigt; Beschwerdeausschlusstatbestände sieht das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz ansonsten nicht vor.

Der Senat ist davon überzeugt, dass für § 178 Satz 1 SGG neben § 56 RVG kein Anwendungsbereich bleibt. Denn die Regelungen des § 56 RVG, die dieser unter Rückgriff auf § 33 RVG zu Rechtsbehelfen bzw. Rechtsmitteln trifft, verkörpern Sonderrecht und sind vorrangig.
a) Das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz in seiner Gesamtheit gestaltet die Rechtslage für einen sehr speziellen Ausschnitt aus dem rechtlich-sozialen Beziehungsgefüge des Lebens. Das tut es indes abschließend und situationsübergreifend. Das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz misst sich die Funktion bei, die Vergütung für Rechtsanwälte umfassend und in allen denkbaren Facetten zu regeln. So enthält es ganz selbstverständlich auch Bestimmungen, die das Sozialrecht und die Sozialgerichtsbarkeit betreffen; dieser Bereich bleibt keineswegs von vornherein ausgespart. Da das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz bestimmte, "horizontale" - gemeint sind fachgebietsübergreifende - Sachverhalte herausgreift und insoweit umfassende Regelungswirkung beansprucht, muss davon ausgegangen werden, dass auch die Geltungsanordnung, die § 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 1 RVG inhärent ist, sämtliche Fachbereiche umfasst.
b) Die §§ 45 ff. RVG im Besonderen verkörpern in der Sache spezielles Prozessrecht; Prozessrecht deshalb, weil es sich dabei um einen Teilsektor der Prozesskostenhilfe, nämlich um das Rechtsverhältnis des beigeordneten Rechtsanwalts zur Staatskasse, handelt. Die Prozessordnungen der Gerichtsbarkeiten klammern die Regelungsgegenstände der §§ 45 ff. RVG aus, obwohl sie der Sache nach an sich dorthin gehören würden. Dass man es dabei grundsätzlich mit Regelungsmaterie der einzelnen Prozessordnungen zu tun hat, verdeutlicht § 122 ZPO, wo das Verhältnis des beigeordneten Rechtsanwalts zur Staatskasse zumindest "angeregelt" wird. Der Gesetzgeber hat also in den §§ 45 ff. RVG Prozessrecht vor die Klammer gezogen. Wenn aber im gleichen Abschnitt wie die sachlichen Regelungen auch Bestimmungen zu Rechtsmitteln auftauchen, dann liegt die Annahme nahe, dass auch diese vor die Klammer gezogen, also speziell sein sollen. Bezeichnender Weise wird allgemein - außerhalb der Statthaftigkeit der Beschwerde - auch denjenigen Vorschriften aus den §§ 45 ff. RVG, die sich mit Rechtsbehelfen und Rechtsmitteln befassen, zumeist Spezialität beigemessen. So hat das Sozialgericht das Erinnerungsrecht offenbar nicht aus § 178 Satz 1 SGG, sondern aus § 56 RVG abgeleitet. Dass sich dann aber ausgerechnet in Bezug auf das Rechtsmittel der Beschwerde der grundsätzliche normative Vorrang in einen Nachrang verkehren soll, lässt sich mit dem rechtlichen Gesamtgefüge nur schwer vereinbaren. Vielmehr muss § 56 RVG entweder insgesamt als Spezialnorm oder aber insgesamt als Auffangnorm behandelt werden.
c) Kaum begründbar erscheint zudem, dass § 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 1 RVG nun ausgerechnet von einer Bestimmung in den Hintergrund gedrängt werden soll, die nach der Systematik des Sozialgerichtsgesetzes ihrerseits lediglich Auffangfunktion hat. § 178 Satz 1 soll im Sozialgerichtsgesetz augenscheinlich die gleiche Funktion zufallen wie in der Zivilprozessordnung § 573. Die Stellung des § 178 Satz 1 SGG wie die des § 573 ZPO jeweils im Unterabschnitt der Beschwerde weist unübersehbar in diese Richtung. Zu § 573 ZPO ist aber anerkannt, dass diese Vorschrift gegenüber thematisch speziellen Erinnerungen nachrangig ist (vgl. Jänich in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 3. Auflage 2005, § 573 Rn. 4). § 178 Satz 1 SGG hat die gleiche Wirkungsweise. Er ist thematisch nicht spezialisiert, sondern soll allgemein, quasi als Auffangnetz, sicherstellen, dass der Betroffene immer eine richterliche Entscheidung erhalten kann.
d) Die Einschätzung des Senats wird bestätigt durch den Regierungsentwurf zu einem Zweiten Gesetz zur Modernisierung des Kostenrechts. Dieser sieht für § 1 RVG folgenden neuen Absatz 3 vor (S. 156 des Gesetzentwurfs):
Die Vorschriften dieses Gesetzes über die Erinnerung und die Beschwerde gehen den Regelungen der für das zugrunde liegende Verfahren geltenden Verfahrensvorschriften vor.
Dazu führt die Begründung zum Gesetzentwurf aus, die neue Vorschrift diene der Klarstellung (S. 416 des Gesetzentwurfs). Diese Formulierung indiziert, dass mit der beabsichtigten Gesetzesänderung nur etwas bestätigt werden soll, was vorher ohnehin schon gegolten hat. Läge eine konstitutive Änderung der Rechtslage vor, wäre in der Begründung vermutlich eine andere Diktion gewählt worden.

Die Beschwerde ist auch im konkreten Fall statthaft, da der Wert des Beschwerdegegen-stands 200 Euro übersteigt (§ 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 1 RVG). Auch ist sie fristgerecht eingelegt worden (§ 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 3 RVG).

2. Zur Begründetheit der Beschwerde

Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Denn das Sozialgericht hat die Erinnerung der Staatskasse zu Recht als unzulässig verworfen. In der Tat war, wie das Sozialgericht richtig entschieden hat, das Erinnerungsrecht der Staatskasse am 12.01.2011 verwirkt.

Die Erinnerung verkörpert kein Rechtsmittel im eigentlichen Sinn, da sie keine Devolutivwirkung entfaltet; denn sie "transportiert" eine Streitsache nicht in eine höhere Instanz (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozessordnung, 70. Auflage 2012, § 573 Rn. 1). Jedoch ähnelt sie einem Rechtsmittel frappierend. Denn sie hat im Wesentlichen die gleichen Sachurteilsvoraussetzungen wie Rechtsmittel und über sie wird mit gleichen Tenorierungen entschieden. Ihr kommt auch eine dem Devolutiveffekt immerhin vergleichbare Wirkung zu, indem sie Entscheidungen in Nebenverfahren von der Ebene des Urkundsbeamten auf die Ebene des Richters "befördert" (vgl. die Legaldefinition in § 573 Abs. 1 Satz 1 ZPO: Antrag auf Entscheidung des Gerichts). Zumeist räumt das Gesetz Erinnerungsrechte nur fristgebunden ein, wobei die Erinnerungsfristen zumeist sehr kurz sind. Die hier streitige Erinnerung gegen eine Kostenfestsetzungsentscheidung des Urkundsbeamten, deren Statthaftigkeit auf § 56 Abs. 1 Satz 1 RVG beruht, ist ausnahmsweise keiner gesetzlichen Frist unterworfen.

Gleichwohl darf zumindest das Erinnerungsrecht der Staatskasse nicht "bis in alle Ewigkeit" bestehen. Das gebietet das verfassungsrechtliche Vertrauensschutzprinzip. Wie der Senat jüngst im Beschluss vom 12.09.2012 - L 15 SF 327/10 B E ausgeführt hat, verlangt der Vertrauensschutzgrundsatz, dass Entscheidungen von Behörden und Gerichten innerhalb angemessener Zeit bestandskräftig bzw. rechtskräftig werden können, und dass diejenigen Entscheidungen, die bestandskräftig bzw. rechtskräftig geworden sind, grundsätzlich nicht mehr abgeändert werden; dabei hat letztlich eine Abwägung gegen das Prinzip der materiellen Richtigkeit zu erfolgen. Der Vertrauensschutzgrundsatz greift in vollem Umfang auch im vorliegenden Fall. Der Beschwerdeführer als beigeordneter Rechtsanwalt befindet sich nicht in einer Rechtsstellung im Verhältnis zum Freistaat Bayern, für die verfassungsrechtliche Gewährleistungen von vornherein zum Teil außer Kraft gesetzt oder gelockert wären. Es liegt kein "Innenverhältnis" vor, das in die Nähe eines so genannten besonderen Gewaltverhältnisses rücken könnte. Unabhängig davon ist für besondere Gewaltverhältnisse inzwischen nahezu einhellig anerkannt, dass die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen nicht suspendiert sind, sondern allenfalls Grundrechtseinschränkungen eher gerechtfertigt sein können. Der Senat hegt vor diesem Hintergrund keine Zweifel, dass die Erinnerung durch die Staatskasse nicht zeitlich unbeschränkt möglich ist. Die Frage ist nur, wann man eine zeitliche Zäsur setzen will.

Die verfassungsrechtlichen Notwendigkeiten lassen sich durch das Rechtsinstitut der Verwirkung realisieren. Die Verwirkung verkörpert einen Tatbestand, der ein einmal entstandenes Recht nachträglich entfallen lässt, also eine rechtsvernichtende Einwendung. Sie basiert auf dem Grundsatz von Treu und Glauben, der auch außerhalb des Zivilrechts und auch im Prozessrecht Anwendung findet (vgl. BGHZ 43, 289 ). Die Verwirkung eines Rechts trägt ein Umstands- und ein Zeitmoment in sich (vgl. BGH, a.a.O.). Diese beiden Komponenten stehen sich nicht im Sinn autarker, kumulativer Tatbestandsvoraussetzungen gegenüber. Sie weisen vielmehr zahlreiche Interdependenzen auf und beeinflussen sich gegenseitig. Das führt dazu, dass die Frage der Verwirkung letztlich im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu beantworten ist. Im Ergebnis kann eine Verwirkung nur dann eintreten, wenn aus Sicht des vernünftigen, "billig und gerecht" denkenden Menschen die Rechtsausübung unangemessen erscheint. Das führt nach Ansicht des Senats dazu, dass gesetzlich normierte Rechtsbehelfsfristen nicht ohne weiteres übertragen und mehr oder weniger automatisch als Schwelle der Verwirkung behandelt werden dürfen. Da im Fall der Verwirkung die Rechtsausübung dem allgemeinen Gerechtigkeitsgefühl zuwiderlaufen muss, muss in Bezug auf einen Rechtsbehelf die "Verwirkungsfrist" prinzipiell - wobei es aber immer auf den Einzelfall ankommt - länger sein als vergleichbare, ausdrücklich normierte Rechtsbehelfsfristen. Im vorliegenden Fall werden die materiellen Voraussetzungen für eine Verwirkung, wie man sie aus dem Privatrecht kennt, durch den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz maßgeblich determiniert und modifiziert. Denn das verfassungsrechtliche Gebot, staatliche Entscheidungen relativ rasch in Bestandskraft bzw. Rechtskraft erwachsen zu lassen, lässt die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Rechtsausübung - hier die Einlegung der Erinnerung - unzulässig ist, in anderem Licht erscheinen.

Gemessen daran vermag die Staatskasse mit ihrer Beschwerde nicht durchzudringen. Der Senat legt sich darauf fest, dass spätestens nach einem Jahr nach dem Wirksamwerden der Kostenfestsetzungsentscheidung das Erinnerungsrecht der Staatskasse verwirkt ist, sofern nicht besonders missbilligenswerte Umstände in der Sphäre des Anwalts vorliegen. Offen bleiben kann, ob dies in gleicher Weise für das Erinnerungsrecht des Anwalts gilt; diese gedankliche Differenzierung ist notwendig, weil die rechtlichen Determinanten in beiden Fällen unterschiedlich sind - der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz steht nur dem Anwalt, nicht aber der Staatskasse zu. Der Senat braucht auch nicht zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen die zeitliche Schwelle der Verwirkung möglicherweise schon (wesentlich) früher erreicht sein kann. Jedenfalls kann die Jahresfrist als grundsätzlich äußerste Grenze angesehen werden. Zu diesem Ergebnis kommt der Senat aufgrund folgender Erwägungen:
a) Die wichtigsten Erinnerungsrechte, welche die deutsche Rechtsordnung kennt, sind befristet, wobei die Fristen zum Teil außerordentlich kurz sind. Vor 2002 hatte die Zivilprozessordnung noch eine sofortige und eine nicht fristgebundene Beschwerde vorgesehen sowie dementsprechend Erinnerungen statuiert, die entweder innerhalb der Frist für die sofortige Beschwerde oder aber ohne Fristbeschränkung einzulegen waren. Seit 2002 ist die Erinnerung nach § 573 Abs. 1 Satz 1 ZPO ausnahmslos binnen einer Notfrist von zwei Wochen einzulegen. Für die Erinnerung nach § 11 Abs. 2 RPflG besteht je nach Fallgestaltung entweder eine Zweiwochen- oder eine Monatsfrist. Für die Anrufung des Gerichts nach § 178 Satz 1 und nach § 197 Abs. 2 SGG ist eine Monatsfrist vorgesehen.
b) Für ein nur vergleichsweise kurzes Erinnerungsrecht spricht der Umstand, dass die Beschwerde als Rechtsmittel gegen die Entscheidung über die Erinnerung ihrerseits sehr kurz befristet ist; beide Seiten müssen eine Zweiwochenfrist einhalten (vgl. § 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 3 RVG). Es erschiene widersprüchlich, für letztlich ein und dieselbe Angelegenheit auf der ersten Anfechtungsstufe äußerste Großzügigkeit, auf der zweiten dagegen äußerste Strenge walten zu lassen.
c) Im Zivilprozessrecht entwickelte sich für die vor 2002 noch existierende unbefristete Beschwerde eine umfangreiche Rechtsprechung zur Verwirkung (vgl. dazu BTDrucks 14/4722, S. 111). Diese offenbart, dass die Zivilgerichte damals, ebenso wie es der Senat jetzt praktiziert, das Fehlen einer gesetzlichen Fristregelung nicht dahin verstanden haben, die Beschwerde müsse tatsächlich ohne zeitliche Grenzen zulässig sein. Vielmehr sind sie über die Annahme einer unzulässigen Rechtsausübung zu einer Zäsur gekommen (vgl. z.B. OLG Frankfurt a.M., MDR 1977, S. 586). Die Zeitspannen, die sich aus der zivilgerichtlichen Rechtsprechung für das Zeitmoment ergeben, sind erstaunlich kurz. Hauptanwendungsfall der unbefristeten Beschwerde war die Beschwerde nach § 127 Abs. 2 Satz 2 ZPO in der vor dem 01.01.2002 geltenden Fassung, wozu sich in der obergerichtlichen Rechtsprechung eine "Frist" von etwa sechs Monaten als Anhaltspunkt herauskristallisierte (vgl. LAG Düsseldorf, Beschluss vom 13.08.2001 - 2 Ta 200/01). Wenn man dies als Orientierungsmarke für die Lösung des hier vorliegenden Problems heranziehen möchte, so muss man sich vergegenwärtigen, dass für Rechtsmittel gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe eine spezifische Eilbedürftigkeit besteht, die man bei der Festsetzung der Vergütung nach §§ 45 ff. RVG nicht findet: Das Rechtsmittel wird in aller Regel während des laufenden Hauptsacheverfahrens eingelegt; dessen Fortsetzung unter Wahrung des rechtlichen Gehörs ist im Prinzip erst dann möglich, wenn die Ablehnung von Prozesskostenhilfe unanfechtbar ist. Das spricht dafür, bei der Erinnerung nach § 56 Abs. 1 Satz 1 RVG großzügigere Fristen einzuräumen. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass es in den besagten Fällen anders als hier um ein Rechtsmittel des Bürgers ging. Das wiederum verkörpert ein Argument dafür, im vorliegenden Fall die Frist nicht länger, sondern eher kürzer zu bemessen.
d) Erhebliche Aussagekraft misst der Senat § 127 Abs. 3 ZPO bei. Bis Ende 2001 stand der Staatskasse gegen die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ein inhaltlich stark beschränktes Beschwerderecht innerhalb von drei Monaten zu. Seit 2002 hat der Gesetzgeber den zeitlichen Druck auf die Staatskasse noch erhöht. Die Beschwerde muss jetzt grundsätzlich innerhalb eines Monats seit der Bekanntgabe des Beschlusses eingelegt werden. Wenn der Staatskasse die Entscheidung nicht bekanntgegeben worden ist, bleibt es bei dem tradierten dreimonatigen Beschwerderecht; die Frist beginnt dann mit dem Wirksamwerden der Entscheidung nach außen. Der Staatskasse wird damit nach Ablauf von drei Monaten auf jeden Fall das Beschwerderecht abgesprochen, ob nun der Bezirksrevisor von der Bewilligung von Prozesskostenhilfe Kenntnis erlangt hat oder nicht. Das entzieht der Argumentation der Staatskasse im hier vorliegenden Fall zu einem beträchtlichen Teil das Fundament. Nach der gesetzlichen Wertung des § 127 Abs. 3 ZPO kann nämlich die unterbliebene Bekanntgabe an den Bezirksrevisor gerade kein außergewöhnlich langes Erinnerungsrecht rechtfertigen. Die kurze Frist nach § 127 Abs. 3 ZPO kann nicht mit der besonderen Eilbedürftigkeit in Prozesskostenhilfesachen (vgl. die Ausführungen unter c)) erklärt werden. Denn die Beschwerde der Staatskasse kann nicht dazu führen, dass Prozesskostenhilfe doch noch abgelehnt wird mit der Folge, dass es zu einer Verkürzung des rechtlichen Gehörs kommen könnte; möglich ist allenfalls die Anordnung von Zahlungen aus dem Einkommen oder dem Vermögen.
e) Die hier zu behandelnde Frage kann nicht mit den zum Teil sehr langen Verwirkungsfristen des materiellen Privatrechts verglichen werden. Denn wie oben ausgeführt, sieht man sich hier mit dem Gebot des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes konfrontiert, staatliche Entscheidungen in vertretbarer Zeit in Bestandskraft bzw. Rechtskraft erwachsen zu lassen. Die Verwirkung dient damit unmittelbar der Wahrung spezifischer verfassungsrechtlicher Gewährleistungen zu Gunsten der Bürger.
f) Auch mit gesetzlichen Bestimmungen, die Behörden oder Gerichten die Befugnis einräumen, von Amts wegen begünstigende Entscheidungen abzuändern (z.B. § 120 Abs. 4 ZPO), verbieten sich Vergleiche. Das Problem, wie lange die Verwaltung selbst eine Begünstigung - außerhalb eines Rechtsbehelfsverfahrens - ändern darf, darf nicht mit der Frage gleichgesetzt werden, wie lange der Prozessgegner Rechtsbehelfe einlegen darf. Denn Rechtsbehelfsfristen verhindern von vornherein das Entstehen des Vertrauensschutzes. Wie Art. 50 BayVwVfG andeutet, darf sich der Begünstigte, solange noch eine Anfechtbarkeit besteht, auf keinen Vertrauensschutz einrichten. Er muss grundsätzlich mit der jederzeitigen Aufhebung der begünstigten Maßnahme rechnen unabhängig davon, ob er eine Rechtswidrigkeit verschuldet, etwas dazu beigetragen oder sich irgendwie unlauter verhalten hat. Nach Eintritt der Unanfechtbarkeit und damit der Bestandskraft ist dagegen Vertrauensschutz entstanden. Das hat zur Folge, dass die begünstigende Regelung nicht mehr nur wegen ihrer bloßen Rechtswidrigkeit aufgehoben werden darf, sondern nur dann, wenn zusätzlich der Begünstigte tatsächlich nicht auf die Bestandskraft vertraut hat oder sich aber in einer Weise missbilligenswert verhalten hat, dass das bestehende Vertrauen nicht schutzwürdig erscheint. Die Durchbrechung des erst einmal entstandenen Vertrauensschutzes ist nur unter relativ strengen materiell-rechtlichen Voraussetzungen (bei Rechtswidrigkeit von Anfang an) oder aber wegen nachträglich veränderter tatsächlicher oder rechtlicher Verhältnisse zulässig. Der Nichteintritt des Vertrauensschutzes aufgrund des Nichtablaufs von Rechtsbehelfsfristen stellt sich dagegen voraussetzungslos dar. Im vorliegenden Fall will die Staatskasse das Entstehen von Vertrauensschutz über unbegrenzte oder zumindest lange Zeit hinweg gar nicht erst zulassen, ohne dass der Betroffene sich irgendwie treuwidrig verhalten hätte. Das verkörpert eine andere rechtliche Kategorie als das Problem, wie lange der bestehende Vertrauensschutz aus besonderen Gründen durchbrochen werden darf.
g) Im Gerichtskostengesetz existiert mit § 19 Abs. 5 GKG eine explizite Regelung, wie lange die Berichtigung des Kostenansatzes zulässig ist. Danach kann der Kostenansatz im Verwaltungsweg berichtigt werden, solange nicht eine gerichtliche Entscheidung getroffen ist. § 19 Abs. 5 GKG hat die Funktion, das schutzwürdige Vertrauen zu begrenzen. Damit wird dem Betroffenen angezeigt, dass er immer mit Nachforderungen rechnen muss; folgerichtig sieht § 66 Abs. 1 GKG keine Befristung des Erinnerungsrechts vor. Eine solche Indikator-Norm fehlt im Rechtsanwaltsvergütungsgesetz. Eine analoge Anwendung von § 19 Abs. 5 GKG ist nicht möglich (vgl. Senatsbeschluss vom 12.09.2012 - L 15 SF 327/10 B E). Vertrauensschutz zerstörende Regelungen haben von vornherein spezifischen, punktuellen Charakter; denn sie sind Ausnahmen vom allgemeinen, durch Verfassungsrecht untermauerten Grundsatz. Jedes Gesetz muss den Vertrauensschutz für sich selbst regeln. Die Vertrauensschutzregelungen geben keine allgemeinen, übergreifenden Rechtsgrundsätze wieder, sondern sie haben spezifisch gestaltende Wirkung. Überdies kann sich § 19 Abs. 5 GKG wegen § 20 GKG ohnehin nur begrenzt in Nachforderungen niederschlagen, nämlich nur innerhalb des Kalenderjahres, das dem folgt, in dem die Schlusskostenrechnung erstellt worden ist.
h) Auch die Regelungen des Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetzes sind nicht auf den Bereich der §§ 45 ff. RVG analog übertragbar. Auch sie beinhalten keine allgemeinen Rechtsgrundsätze (vgl. Senatsbeschluss, a.a.O.). Nicht zuletzt bestehen zwischen Sachverständigen und beigeordneten Rechtsanwälten bedeutende Unterschiede: Der Sachverständige rechnet zum Lager des Gerichts, er ist neutrale Beweisperson und wird "herangezogen". Dagegen gehört der Rechtsanwalt trotz der Beiordnung zum Lager der Partei; er ist vollwertiger Prozessbevollmächtigter. Nach alldem wirkt sich nicht aus, dass § 4 JVEG keine Fristen für den Antrag auf gerichtliche Festsetzung und die Beschwerde vorsieht. Genauso wenig wirkt sich aus, dass zumindest innerhalb der Dreijahresfrist des § 2 Abs. 4 JVEG offenbar ein uneingeschränktes Recht des Gerichts angenommen wird, Erstattungen zu viel gezahlter Entschädigungen oder Vergütungen anzuordnen (vgl. dazu Senatsbeschluss, a.a.O.).
i) Alle Prozessordnungen sehen eine Anfechtungsfrist von einem Jahr für den Fall vor, dass eine Rechtsbehelfsbelehrung unterblieben oder falsch ist. Die Jahresfrist wird aber auch dann angewandt, wenn z.B. bei Drittanfechtungskonstellationen im Baurecht dem in seinen subjektiven Rechten betroffenen Nachbar keine Behördenentscheidung zugestellt worden ist. Dieser soll dann innerhalb eines Jahres, nachdem er Kenntnis von dem Bauvorhaben erlangt hat, den gebotenen Rechtsbehelf einlegen müssen (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 25.01.1974 -IV C 2.72). Die Jahresfrist besteht im Interesse des Adressaten des Verwaltungsakts mit Drittwirkung. Nach diesem Jahr soll auf jeden Fall Bestandskraft eintreten, wenn der Nachbar nicht vorher einen Rechtsbehelf ergriffen hat. Obwohl dem Nachbarn seinerseits das Eigentumsrecht sowie die verfassungsrechtliche Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes zustehen, ist nach einem Jahr dem Bestandsschutzinteresse des Adressaten gegenüber den verfassungsrechtlichen Rechtspositionen des Nachbarn Vorrang einzuräumen mit der Folge einer Präklusion des Nachbarn. Wenn aber nach dieser Frist schon verfassungsrechtliche subjektive Rechte eines Bürgers zurücktreten müssen, dann muss dies erst Recht für die Staatskasse als organisatorischen Bestandteil des Freistaats Bayern gelten. Denn der Freistaat Bayern ist nicht Inhaber verfassungsrechtlicher subjektiver Rechte, sondern Verpflichteter. Überhaupt erscheint es aus diesem Grund unangebracht, aus Gerichtsentscheidungen, die eine Verwirkung eines Antragsrechts des Bürgers betreffen (so z.B. die von der Staatskasse angeführte Entscheidung des Bayer. Landessozialgerichts vom 25.08.1995 - L 14 Ar 214/89.Ko), Schlüsse für die Lösung des vorliegenden Falls ableiten zu wollen.
j) Nicht überzeugend ist die sinngemäße Behauptung der Staatskasse, die Annahme der Verwirkung würde ihr ein effizientes Mittel zur Kontrolle und Korrektur nehmen. Selbstverständlich können aus den Ergebnissen, die der Bezirksrevisor im Rahmen seiner Prüfungstätigkeit gewonnen hat, Konsequenzen gezogen werden, die dafür sorgen, dass die Sozialgerichte die Rechtsanwaltsvergütung künftig korrekt festsetzen. Die Effizienz der Überwachung erfordert es aber nicht, gerade den aktuellen Bezugsfall noch rückabwickeln zu können. An dieser Stelle sei ein Hinweis auf kommunalaufsichtliche Maßnahmen nach dem bayerischen Kommunalrecht erlaubt: Dort ist unbestritten, dass die Maßnahmen der Rechtsaufsicht nur unter den Voraussetzungen der Art. 48 ff. BayVwVfG im Außenverhältnis umgesetzt werden können.
k) Die von der Staatskasse als Beleg angeführte Entscheidung des Landesarbeitsgerichts A-Stadt vom 07.07.2009 - 10 Ta 395/07 führt zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung. Das Landesarbeitsgericht hat nicht behauptet, es gäbe generell keine Verwirkung des Erinnerungsrechts. Vielmehr hat es nur im konkreten Fall keine Verwirkung angenommen. Das ist aber angesichts der dort vorliegenden Umstände - die Erinnerung wurde nur zwischen drei und sieben Monate nach den Festsetzungen eingelegt - nicht verwunderlich. Auch der Senat würde bei dieser Sachlage keine Verwirkung bejahen.

Das Verfahren ist gebührenfrei, Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 Sätze 2 und 3 RVG).

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).
Rechtskraft
Aus
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