L 4 AS 243/12 B ER

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gotha (FST)
Aktenzeichen
S 40 AS 8350/11 ER
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 4 AS 243/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Liegt einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren in der Hauptsache ein Anfechtungswiderspruch oder eine Anfechtungsklage gegen einen Versagungsbescheid nach § 66 Abs. 1 S. 1 SGG zu Grunde, ist gerichtlicher einstweiliger Rechtsschutz eigentlich im Wege der Anordnung oder Feststellung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG zu gewähren.
2. Das verfassungsrechtliche Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG macht es jedoch erforderlich, ausnahmsweise über den Streitgegenstand der Hauptsache hinaus einstweiligen Rechtsschutz auch für das ggf. in der Hauptsache nachfolgende Leistungsbegehren im Wege der Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG zu gewähren, soweit die Regelung des Versagungsbescheides reicht.
3. Ein Rechtsschutzbedürfnis für die aufschiebende Wirkung nach Ziffer 1 besteht nur, soweit eine einstweilige Anordnung zu erlassen ist.
4. Setzt die einstweilige Anordnung jedenfalls einen möglicherweise bestehenden Anordnungsanspruch voraus, kann dem entgegenstehen, dass der Versagungsbescheid nach § 66 Abs. 1 S. 1 SGG rechtmäßig ist. Im Übrigen sind, wie sonst auch, die Anspruchsvoraussetzungen zu prüfen.
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 13. Januar 2012 wird als unzulässig verworfen, soweit sie den Zeitraum vom 1. Juli 2011 bis 13. Dezember 2011 erfasst, und im Übrigen zurückgewiesen. Kosten der Beschwerde sind auch nicht zu erstatten.

Gründe:

Die am 15. Februar 2012 bei dem Thüringer Landessozialgericht eingelegte Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gotha (SG) vom 13. Januar 2012, ihm zugestellt am 18. Januar 2012, mit den sinngemäßen Anträgen,

den Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 13. Januar 2012 aufzuheben und 1. festzustellen, dass die Klage gegen den Versagungsbescheid des Antragsgegners vom 4. Juli 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21. November 2011 aufschiebende Wirkung hat, hilfsweise die aufschiebende Wirkung anzuordnen und 2. den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm Arbeitslosengeld II ab dem 1. Juli 2011 bis 31. Dezember 2011 bis zu einer Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache zu zahlen,

hat keinen Erfolg.

Entgegen der Auffassung des SG ist bei verständiger Auslegung das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers so zu verstehen, dass er allein einstweiligen Rechtsschutz wegen der in der Hauptsache bei dem SG anhängigen Klage gegen den vorbezeichneten Versagungsbescheid des Antragsgegner begehrt. Nicht einbezogen ist hingegen der weitere Leistungsantrag des Antragstellers vom 7. Dezember 2011 für den Zeitraum ab 1. Januar 2012, auf den der Antragsgegner mittlerweile einen weiteren Versagungsbescheid vom 13. Januar 2012 erlassen hat.

Nach § 123 SGG entscheidet das Gericht über die vom Kläger erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Bei unklaren Anträgen muss das Gericht mit den Beteiligten klären, was gewollt ist, und darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (§ 106 Abs. 1, § 112 Abs. 2 S. 2 SGG). Im Übrigen muss dann, wenn der Wortlaut eines Antrags nicht eindeutig ist, im Wege der Auslegung festgestellt werden, welches das erklärte Prozessziel ist. In entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 Bürgerliches Gesetzbuch ist nicht am Wortlaut der Erklärung zu haften; die Auslegung von Anträgen richtet sich vielmehr danach, was als Leistung möglich ist, wenn jeder verständige Antragsteller mutmaßlich seinen Antrag bei entsprechender Beratung angepasst hätte und keine Gründe zur Annahme eines abweichenden Verhaltens vorliegen. Im Zweifel ist davon auszugehen, dass der Kläger alles zugesprochen haben möchte, was ihm aufgrund des Sachverhalts zusteht (stRspr, zuletzt etwa BSG, Urteil vom 24. Februar 2011 - B 14 AS 49/10 R m.w.N., juris).

Anhand dieses Maßstabs ist aus dem Sachzusammenhang erkennbar, dass das einstweilige Rechtsschutzbegehren des Antragstellers sich ausschließlich auf die vorbenannte Hauptsache bezieht, weil der Antrag ausschließlich in der eingereichten Klageschrift gestellt ist, die sich nur gegen diesen Versagungsbescheid richtet. Zudem hat der Antragsteller im Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 10. Februar 2012 und 9. März 2012 nochmals klargestellt, sich des unterschiedlichen Regelungsgegenstandes des ersten Versagungsbescheides und des Folgeantrages für den Zeitraum ab 1. Januar 2012, auf den der Antragsgegner einen weiteren Versagungsbescheid mit Datum vom 13. Januar 2012 erlassen hat, bewusst zu sein, und vorliegend sich allein gegen den ersten Versagungsbescheid auch im einstweiligen Rechtsschutz zu wenden.

Es ist daher davon auszugehen, dass der Antragsteller einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutz erwirken möchte, soweit der Regelungsgegenstand des ersten Versagungsbescheids reicht.

Stellt nach der Rechtsprechung des BSG der Versagungsbescheid nach § 66 Abs. 1 S. 1 SGG jedoch keine Entscheidung über die beantragte Leistung dar, sondern enthält lediglich die Regelung, dass der Leistungsträger bis zur Nachholung der geforderten Mitwirkung des Antragstellers von weiteren Ermittlungen und einer Bescheidung des Leistungsantrags in der Sache absehen darf (BSG, Urteile vom 25. Oktober 1988 ? 7 RAr 70/87, 17. Februar 2004 ? B 1 Kr 4/02 R, 1. Juli 2009 - B 4 AS 78/08 R, alle juris), ist dagegen im Wege des Anfechtungswiderspruchs- oder der Anfechtungsklage in der Hauptsache vorzugehen, ohne dass damit unmittelbar in der Hauptsache eine Leistungsverpflichtung des Leistungsträgers durchgesetzt werden kann. Einstweiliger Rechtsschutz kann daher grundsätzlich nur gemäß oder entsprechend § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG mit dem Ziel beantragt werden, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, soweit ihr gesetzlich keine aufschiebende Wirkung zukommt, oder die aufschiebende Wirkung festzustellen, falls der Leistungsträger die gesetzlich angeordnete aufschiebende Wirkung nicht beachtet.

Aus diesem Grunde ist zur Wahrung des gebotenen effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG ausnahmsweise das einstweilige Rechtsschutzbegehren über den Gegenstand der Hauptsache hinaus auch im Wege der Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 SGG auf ein vorläufiges Verpflichtungsbegehren zu erweitern, obwohl dieses eigentlich erst im sich ggf. anschließenden Verfahren mit Sachentscheidung in der Hauptsache durchgesetzt werden kann (für Sozialhilfe: Hessisches LSG, Beschluss vom 22. Dezember 2008 - L 7 SO 80/08 B ER; unveröffentlicht; LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 14. Juni 2007 - L 28 B 769/07 AS ER und 22. November 2005 - L 29 B 1212/05 AS ER; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 12. Januar 2006 - L 7 AS 5532/05 ER-B; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14. Januar 2008 - L 7 AS 772/07 ER; alle juris; vgl. Hölzer in info also 2010, S. 99, 101 f.). Das vorläufige Verpflichtungsbegehren kann jedoch nicht weiterreichen als die zeitliche Wirkung des Versagungsbescheides.

Hat jedoch der Antragsgegner auf den weiteren Leistungsantrag für den Zeitraum ab 1. Januar 2012 einen weiteren Versagungsbescheid vom 13. Januar 2012 erlassen, erledigt sich ab diesem Zeitraum gemäß § 39 Abs. 2 SGB X der vorherigen Versagungsbescheid und kann keine Regelungswirkung mehr entfalten (vgl. Urteile des BSG für SGB II: vom 7. November 2006 ? B 7b AS 14/06 R; 16. Mai 2007 ? B 11b AS 37/06 R; 31.Oktober 2007 ? B 14/11b AS 59/06 R und 7/07 R; für SGB XII: BSG, 11. Dezember 2007 ? B 8/9b SO 12/06 R; alle juris).

Ist das Begehren des Antragstellers so richtig verstanden, ist die Beschwerde bereits unzulässig, soweit das SG über den Antrag nicht entschieden hat. Gemäß § 29 Abs. 1 SGG darf das LSG in zweiter Instanz nur über Beschwerden entscheiden, soweit eine erstinstanzliche Entscheidung vorliegt. Daran mangelt es vorliegend für den Zeitraum vom 1. Juli 2011 bis 13. Dezember 2011, weil das SG nach seiner Auffassung zu Recht insoweit keine Entscheidung getroffen hat. Unschädlich ist es hingegen, dass das SG ausdrücklich auch nicht über den Antrag auf Feststellung oder Anordnung der aufschiebenden Wirkung entschieden hat, weil dieser im einstweiligen Rechtsschutz nicht methodisch, aber faktisch nur als Annex zum vorrangigen Verpflichtungsbegehren anzusehen ist, für den in der Rechtsprechung deshalb teilweise eine gesonderte Entscheidung für entbehrlich gehalten wird (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 14. Juni 2007 und 22. November 2005; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 12. Januar 2006; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14. Januar 2008; jeweils a.a.O.).

Ist damit die Beschwerde nur hinsichtlich des Zeitraumes vom 14. Dezember 2011 bis 31. Dezember 2011 instanziell zulässig, hat sie insoweit in der Sache keinen Erfolg.

Der Antrag zu 1 ist mangels Rechtsschutzbedürfnis bereits deshalb unzulässig, weil die aufschiebende Wirkung dem Antragsteller nicht zu seinem eigentlichen Rechtsschutzziel vorläufige Leistungen zu erhalten, verhelfen kann. Der Antrag zu 2 bleibt jedenfalls, wie im Folgenden ausgeführt ist, in der Sache ohne Erfolg. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob eine Klage gegen einen Versagungsbescheid bereits nach § 86a Abs. 1 SGG aufschiebende Wirkung hat oder die aufschiebende Wirkung wegen der Regelung in § 39 Nr. 1 SGB II gesondert angeordnet werden muss.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung für den Zeitraum vom 14. Dezember 2011 bis 31. Dezember 2011 ist ohnehin abzulehnen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen.

Nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag bei Leistungsbegehren in der Regel durch einstweilige Anordnung eine vorläufige Regelung treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Danach muss die einstweilige Anordnung erforderlich sein, um einen wesentlichen Nachteil für den Antragsteller abzuwenden. Ein solcher Nachteil ist nur anzunehmen, wenn einerseits dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner ein materiell-rechtlicher Leistungsanspruch in der Hauptsache ? möglicherweise - zusteht (Anordnungsanspruch) und es ihm andererseits nicht zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund).

Insoweit fehlt es bereits mit hoher Wahrscheinlichkeit an einem Anordnungsanspruch, weil der Antragsgegner nach § 66 Abs. 1 S. 1 SGG insoweit die Leistung mangels hinreichender Mitwirkung des Antragstellers versagen darf. Insoweit wird auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung des SG gemäß § 142 Abs. 2 S. 3 SGG verwiesen.

Soweit danach gleichwohl der Ausgang der Hauptsache mit einer gewissen Unsicherheit verbunden ist, fehlt es hingegen an dem weiter erforderlichen Anordnungsgrund, da bei einem nur kurzen Leistungsbegehren ausschließlich für die Vergangenheit ein gegenwärtiger unzumutbarer Nachteil für den Antragsteller nicht zu erkennen ist, auch wenn existenzsichernde Leistungen in der Hauptsache betroffen sind.

Auf Hinweis des Antragstellers wird das SG auch für den Zeitraum vom 1. Juli 2011 bis 13. Dezember 2011 eine Entscheidung zu treffen haben, obwohl Erfolgsaussichten nicht gegeben sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf dem Ausgang des Rechtsstreits entsprechend § 193 Abs. 1 S. 1 SGG.

Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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