L 1 U 1304/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 1 U 4788/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 1304/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 22.02.2012 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung einer Berufskrankheit (BK) nach der Nummer 4302 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) im Streit.

Der 1938 geborene Kläger stellte am 20.03.2001 bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten einen Antrag auf Feststellung seiner Gesundheitsbeschwerden als BK, wozu er auch auf eine chronische Bronchitis und ein hirnorganisches Psychosyndrom mit Persönlichkeitsstörung und depressive Verstimmungszustände verwies. Der Kläger brachte diese Beschwerden in Verbindung mit seiner beruflichen Tätigkeit als Spritzlackierer und Entgrater bei verschiedenen Arbeitgebern bis zum 18.11.1986. Bei seinen Tätigkeiten hatte der Kläger nach den von der Beklagten aufgenommenen Ermittlungen Umgang mit Spezialverdünnung, Decklacken, Polyesterharz, Aceton, Beschleuniger, lufttrocknendem Motorenlack und Feinstäuben. Die Beklagte zog außerdem eine Vielzahl von Befundberichten der behandelnden Ärzten des Klägers bei. Der Beklagten lag unter anderem ein Bescheid des Versorgungsamtes S. vor, durch den ab 03.03.2000 ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 sowie das Merkzeichen ?G? festgestellt worden waren. Als Behinderungen waren hierin anerkannt eine psychische Behinderung, eine chronische Bronchitis, eine Lungenventilationsstörung, degenerative Veränderungen an Hals- und Lendenwirbelsäule mit Funktionsbeeinträchtigung und zeitweiligen Muskelreizerscheinungen, sowie eine Neigung zu Hypotonie mit Schwindelerscheinungen.

Der von der Beklagten beauftragte Gutachter Dr. W. B. (Internist, Pulmologe, Allergologe und Sportmediziner) stellte am 21.11.2001 eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung fest, welche als typisches Krankheitsbild mutmaßlich als Folge eines langjährigen Nikotinkonsums entstanden sei. Die Entstehung der Erkrankung erst nach 1989, als keine berufliche Tätigkeit mehr ausgeübt worden sei, spreche gegen eine berufliche Verursachung. Befunde, welche ursächlich auf berufliche Einwirkungen zurückzuführen seien, hätten nicht abgegrenzt werden können. Auch sei eine berufliche Exposition gegenüber Substanzen, die bekanntermaßen zu obstruktiven Atemwegserkrankungen führten, nicht erkennbar. Die Berufskrankheiten der Nummern 1315, 4301 und 4302 der Anlage zur BKV könnten nicht anerkannt werden. Nachdem auf Veranlassung des Staatlichen Gewerbearztes weitere Erhebungen zur beruflichen Exposition des Klägers durchgeführt worden waren, vertrat Dr. W. B. am 08.03.2002 und am 12.04.2002 erneut die Auffassung, dass eine BK nicht anzuerkennen sei.

Die Staatliche Gewerbeärztin Dr. G. vertrat demgegenüber die Ansicht, dass zwar eine genaue Abgrenzung zwischen privaten und beruflichen Verursachungsfaktoren nicht möglich sei, eine BK Nummer 4302 aber dem Grunde nach anzuerkennen sei und Leistungen zur Prävention nach § 3 BKV erbracht werden sollten.

Mit bestandskräftigem Bescheid vom 24.06.2002 lehnte die Rechtsvorgängerin der Beklagten die Gewährung von Leistungen und die Feststellung einer BK nach der Nummer 4302 der Anlage zur BKV unter Hinweis auf die Ausführungen vom Dr. W. B. ab. Entgegen der Auffassung der Staatlichen Gewerbeärztin sei eine Anerkennung der BK dem Grunde nach nicht möglich, weil noch bei gutachterlichen Untersuchungen nach der Beendigung des Arbeitslebens keine Gasaustauschstörungen hätten nachgewiesen werden können.

Der Kläger sprach am 24.02.2011 bei der Beklagten vor und beantragte erneut die Anerkennung seiner Lungenerkrankung als BK sowie die Gewährung einer Verletztenrente. Er legte zur Begründung den bereits aktenkundigen Bescheid des Versorgungsamtes Stuttgart vor, durch den ab 03.03.2000 ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 sowie das Merkzeichen ?G? festgestellt worden waren (vgl. Bl. 109, 219 der Verwaltungakte).

Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) teilte auf Anfrage der Beklagten mit, dass der Kläger Altersrentenbezieher sei und ärztliche Unterlagen bei ihr nicht mehr vorlägen.

Mit Bescheid vom 28.03.2011 lehnte die Beklagte die Rücknahme des bestandskräftigen Bescheides vom 24.06.2002 nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ab. Es lägen keine Erkenntnisse oder Hinweise vor, die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Ablehnungsbescheides begründeten.

Seinen deswegen eingelegten Widerspruch begründete der Kläger damit, dass seine Altersrente zu niedrig sei und die in seinem Berufsleben erworbenen Erkrankungen nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Der Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 19.07.2011 zurückgewiesen.

Der Kläger hat am 17.08.2011 Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben, mit der er zugleich die Anerkennung einer BK nach den Nummern 1303 und 1317 der Anlage 1 zur BKV geltend gemacht hat (Aktenzeichen S 1 U 4788/11). Das SG hat die weitere Klage betreffend die Berufskrankheiten nach den Nummern 1303 und 1317 mit Beschluss vom 13.12.2011 abgetrennt und unter dem Aktenzeichen S 1 U 7023/11 fortgeführt (vgl. hierzu das Parallelverfahren L 1 U 1303/12 bei dem erkennenden Senat).

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage auf Anerkennung der BK 4302 der Anlage 1 zur BKV mit Gerichtsbescheid vom 22.02.2012 als unbegründet abgewiesen. Mit dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten des Dr. Buchbender komme die Kammer zu dem Ergebnis, dass die chronisch obstruktive Lungenerkrankung des Klägers auf dessen langjährigen Nikotinkonsum zurückzuführen sei. Der Gutachter habe bei der Untersuchung des Klägers auch einen deutlichen Nikotingeruch wahrgenommen. Eine berufsbedingte Erkrankung habe der Gutachter ausdrücklich ausgeschlossen. Neue Tatsachen seien im Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X nicht vorgetragen worden. Auch eine zwischenzeitliche Verschlimmerung der psychiatrischen Erkrankungen könne einen Kausalzusammenhang mit der Berufstätigkeit nicht begründen. Der Gerichtsbescheid ist dem Kläger am 29.02.2012 zugestellt worden.

Am 27.03.2012 hat Herr M. D. als Bevollmächtigter des Klägers beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) Berufung eingelegt. Die BK könne durch ein Gutachten einer Klinik für Arbeitsmedizin nachgewiesen werden, welches vom SG jedoch nicht eingeholt worden sei. Es werde beantragt, ein Gutachten bei einer Klinik für Arbeitsmedizin einzuholen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 22.02.2012 sowie den Bescheid der Beklagten vom 28.03.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2011 aufzuheben und die Beklagte unter Rücknahme ihres Bescheides vom 24.06.2002 zu verurteilen, bei ihm das Vorliegen einer Berufskrankheit nach der Nummer 4302 der Anlage 1 zur BKV festzustellen und aus diesem Grund eine Verletztenrente zu gewähren, hilfsweise die Einholung eines Gutachtens einer Klinik für Arbeitsmedizin.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Mit Senatsbeschluss vom 27.08.2012 ist Herr M. D. als Bevollmächtigter des Klägers im vorliegenden Verfahren zurückgewiesen worden. Am 30.08.2012 ist im LSG ein Erörterungstermin durchgeführt worden.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten sowie die Akten des SG und des LSG Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143 f. und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Berufung ist nicht begründet.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X in der seit dem 18.01.2001 geltenden Fassung ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Ziel des § 44 SGB X ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zu Gunsten letzterer aufzulösen (BSG SozR 3-1300 § 44 Nr. 24). Ist ein Verwaltungsakt rechtswidrig, hat der betroffene Bürger einen einklagbaren Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsaktes unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt wurde (BSGE 51, 139, 141 = SozR 3900 § 40 Nr. 15; BSG SozR 2200 § 1268 Nr. 29). Auch wenn der Versicherte schon wiederholt Überprüfungsanträge nach § 44 SGB X gestellt hat, darf die Verwaltung einen erneuten Antrag nicht ohne Rücksicht auf die wirkliche Sach- und Rechtslage zurückweisen. Entsprechend dem Umfang des Vorbringens des Versicherten muss sie in eine erneuten Prüfung eintreten und den Antragsteller bescheiden (BSG, Urteil vom 05.09.2006 - B 2 U 24/05 R -, BSGE 97, 54 m.w.N.).

Die Voraussetzungen einer Korrektur der angegriffenen Entscheidungen der Beklagten nach dieser Vorschrift liegen jedoch nicht vor, da Anhaltspunkte für eine unrichtige Rechtsanwendung oder für die Annahme eines unzutreffenden Sachverhalts nicht vorliegen. Das SG hat demgemäß die Klage zu Recht abgewiesen.

Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche hinaus um wenigstens 20 v.H. gemindert ist, Anspruch auf eine Rente. Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VII]). Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII).

In Nr. 4302 der Anlage 1 zur BKV sind durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, als BK anerkannt. Anhaltspunkte dafür, dass eine solche BK beim Kläger vorliegt, sind weiterhin nicht vorhanden.

Der Kläger hat im Überprüfungsverfahren lediglich einen bereits bekannten Bescheid des Versorgungsamtes S. vorgelegt, dem sich für die entscheidende Frage der Verursachung seiner Erkrankung keine wesentlichen Anhaltspunkte entnehmen lassen. Auch der Vortrag des Klägers, dass seine Erkrankungen sich verschlimmert hätten, legt es nicht nahe, die Frage nach der Kausalität seiner Leiden neu zu bewerten. Schließlich sind auch seine Ausführungen zu seiner aus seiner Sicht zu niedrigen Altersrente kein hinreichender Grund für weitere Ermittlungen oder eine andere Entscheidung im Sinne von § 44 SGB X. Auch sonst sind aus den Akten keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass bei den Ablehnungsentscheidungen der Beklagten eine falsche Tatsachengrundlage bestand oder eine unrichtige Rechtsanwendung erfolgte. Die vom Kläger hilfsweise beantragte Einholung eines Gutachtens einer Klinik für Arbeitsmedizin war daher nicht veranlasst.

Zur Vermeidung von Wiederholungen wird daher nach § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden und ausführlichen Entscheidungsgründe in dem angegriffenen Gerichtsbescheid des SG Bezug genommen, denen der Senat sich ausdrücklich anschließt. Danach ist davon auszugehen, dass die chronisch obstruktive Lungenerkrankung des Klägers maßgeblich aufgrund des nachgewiesenen langjährigen Nikotinkonsums entstanden ist. Entgegen der Auffassung der Staatlichen Gewerbeärztin ist die Anerkennung einer BK Nr. 4302 auch zu Recht nicht erfolgt, weil beim Kläger das typische Krankheitsbild eines langjährigen Nikotinkonsums festgestellt wurde und noch bei Untersuchungen, die mehrere Jahre nach Beendigung der Berufstätigkeit vorgenommen wurden, keine Gasaustauschstörungen festgestellt wurden. Demnach spricht auch die Entstehung der Erkrankung nach der Beendigung der Berufstätigkeit gegen eine berufliche Verursachung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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