L 11 KR 4517/12 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 14 KR 3240/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 4517/12 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 28.09.2012 aufgehoben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragsteller vorläufig beidseitig mit Hörgeräten des Typs Phonak HdO NAIDA S V UP im Wege der Sachleistung zu versorgen.

Die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Antrags- und Beschwerdeverfahren trägt die Antragsgegnerin.

Gründe:

I.

Der Antragsteller verfolgt das Ziel, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm vorläufig beidseitig Hörgeräte des Typs Phonak HdO NAIDA S V UP als Sachleistung zu verschaffen.

Der 1990 geborene, bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversicherte Antragsteller leidet seit frühester Kindheit an einer beidseitigen an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit. Er trägt deshalb seit dem 5. Lebensmonat Hörgeräte. Der Grad der Behinderung beträgt seit Geburt 100. Außerdem wurde ihm das Merkzeichen RF zuerkannt.

Auf den Antrag des Antragstellers, die Kosten für zwei Hörgeräte des Typs Phonak HdO NAIDA S V UP zum Preis von 3.598,40 Euro zu übernehmen, entschied die Antragsgegnerin mit den Bescheiden vom 08.12.2011 und 29.12.2011, Kosten nur in Höhe des Vertragspreises für die Versorgung an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit in Höhe von 1.975,87 Euro zu übernehmen und eine darüber hinaus gehende Kostenübernahme abzulehnen. Neben dem Wunschgerät seien auch zwei Vertragsgeräte getestet worden. Mit diesen Geräten sei jeweils ein Mehrsilbenverstehen von 60% erreicht worden und mit dem Wunschgerät 80%, dh lediglich zwei Zahlen mehr. Dies liege im Bereich der Messtoleranz. Der vorliegende Hörverlust könne deshalb bei sach- und fachgerechter Anpassung auch eigenanteilsfrei ausreichend versorgt werden. Den Widerspruch des Antragstellers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11.07.2012 als unbegründet zurück.

Am 30.07.2012 hat der Antragsteller Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben (S 14 KR 2753/12), die noch beim SG anhängig ist. Außerdem hat er am 07.09.2012 den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, das bessere Mehrsilbenverstehen (80% statt 60%) mit der von ihm gewünschten Hörgeräteversorgung stelle eine wesentliche Verbesserung des Hörvermögens dar. Im täglichen Leben habe er in der Testphase mit den streitgegenständlichen Hörgeräten ein deutlich besseres Verständnis seines Gegenübers sowohl im persönlichen Gespräch als auch bei Telefonaten feststellen können als mit den anderen getesteten Geräten. Im Gegensatz zu den Festbetragsmodellen gebe es bei den von ihm ausgewählten Hörgeräten keine Rückkoppelungseffekte und laute Umgebungsgeräusche, die das Hörverstehen des Gesprächspartners verschlechterten. Die von den Festbetragsmodellen ständig verursachten Rückkoppelungsgeräusche und Pfeiftöne führten außerdem zu starken Kopfschmerzen, die sich auch nach einer Eingewöhnungszeit nicht besserten. Die begehrten Hörgeräte seien für ihn die optimale und bedarfsgerechte Versorgung, die ihm im Alltagsleben deutliche Gebrauchsvorteile biete. Das BSG habe mit Urteil vom 17.12.2009 (B 3 KR 20/08 R) ausgeführt, dass ein Versicherter Anspruch auf eine solche Hörgeräteversorgung habe, die nach dem Stand der Medizintechnik die bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder erlaube.

Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 28.09.2012 abgelehnt. Es fehle bereits an einem Anordnungsgrund. Der Antragsteller habe nicht glaubhaft machen können, dass er mit seinen derzeitigen Hörgeräten kein ausreichendes Sprachverstehen mehr erzielen könne. Dem vorgelegten Attest des Dr. N. vom 20.12.2011 sei lediglich zu entnehmen, dass die Apparate nach Aussage des Antragstellers in letzter Zeit an Leistung eingebüßt hätten. Messungen seien demnach nicht vorgenommen worden. Der Beschluss des SG ist dem Antragsteller am 04.10.2012 zugestellt worden.

Am 30.10.2012 hat der Antragsteller Beschwerde eingelegt. Ein Anordnungsgrund sei sehr wohl glaubhaft gemacht worden. Er habe sich nunmehr nochmals bei seinem behandelnden HNO-Arzt vorgestellt und Messungen mit seinen derzeitigen Hörgeräten vornehmen lassen. Dabei habe sich ergeben, dass diese Geräte nur ein Hörverständnis von ca 40% vermittelten.

Das SG hat dem Senat am 22.11.2012 die Ergebnisse einer von der Firma A. Augenoptik-Hörgeräteakustik A. GmbH am 07.11.2012 durchgeführten Ton- und Sprachaudiometrie vorgelegt. Danach waren alle von ihr zum Festbetrag angebotenen Geräte zum Ausgleich der beim Antragsteller bestehenden Behinderung geeignet. Verstärkungswerte, maximaler Ausgangsschalldruckpegel und Begrenzungssysteme seien zum Ausgleich der Hörminderung ausreichend. Die streitige Versorgung biete ein 10% besseres Sprachverstehen (gemessen mit Zahlen 1 Zahl = 10%). Zudem verfüge das Gerät über 16 Kanäle, eine bessere Rückkoppelungsunterdrückung, eine bessere Störgeräuschunterdrückung, eine Spracherkennung, ein Automatikprogramm, das dem Antragsteller besonders im lauten Arbeitsumfeld sehr unterstütze.

Der Antragsteller beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 28.09.2012 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller zur Neuversorgung vorläufig beidseitig Hörgeräte des Typs Phonak HdO NAIDA S V UP als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenkasse im Wege der Sachleistung zu verschaffen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde des Antragstellers zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des SG für zutreffend und verweist auf ihren bisherigen Vortrag im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren. Der Antragsteller könne auch mit eigenanteilsfreien Hörgeräten ausreichend versorgt werden.

II.

Die gemäß § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist statthaft und zulässig (§ 172 Abs 1, Abs 3 Nr 1 SGG) sowie in der Sache begründet. Der Antragsteller hat einen Anspruch darauf, vorläufig beidseitig mit Hörgeräten des Typs Phonak HdO NAIDA S V UP versorgt zu werden.

Nach § 86b Abs 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Absatzes 1 der Vorschrift vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2 aaO). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der angestrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 4 SGG iVm. § 920 Abs 2 der Zivilprozessordnung (ZPO)); dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl BVerfG 25.07.1996, 1 BvR 638/96, NVwZ 1997, 479; BVerfG 12.05.2005, 1 BvR 569/05, NVwZ 2005, 927 = Breithaupt 2005, 803). Wird im Zusammenhang mit dem Anordnungsanspruch auf die Erfolgsaussichten abgestellt, ist uU die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (vgl BVerfG 12.05.2005, aaO). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, weil etwa eine vollständige Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden unter Berücksichtigung insbesondere der grundrechtlichen Belange des Antragstellers. Maßgebend für die Beurteilung der Anordnungsvoraussetzungen sind regelmäßig die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Eilentscheidung (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl, § 86b RdNr 42).

Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung sind erfüllt. Dabei bleibt offen, ob sämtliche Voraussetzungen für den Anspruch auf die beantragte Hilfsmittelversorgung nachgewiesen sind. Die vorzunehmende Folgenabwägung fällt zugunsten des Antragstellers aus. Ein Anordnungsgrund ist zu bejahen, da die vorhandene Hörgeräteversorgung nicht mehr ausreichend ist und dem Antragsteller nicht mehr länger zugemutet werden kann, auf eine Neuversorgung zu warten. Die am 07.11.2012 durchgeführte Ton- und Sprachaudiometrie hat zwar ergeben, dass alle vom Hörgeräteakustiker zum Festbetrag angebotenen Geräte zum Ausgleich der beim Antragsteller bestehenden Behinderung geeignet sind. Verstärkungswerte, maximaler Ausgangsschalldruckpegel und Begrenzungssysteme sind zum Ausgleich der Hörminderung ausreichend. Die streitige Versorgung bietet allerdings nicht nur ein um 10% besseres Sprachverstehen (gemessen mit Zahlen 1 Zahl = 10%). Das vom Antragsteller gewünschte Gerät verfügt auch über eine bessere Rückkoppelungsunterdrückung, eine bessere Störgeräuschunterdrückung und ein Automatikprogramm, das den Antragsteller besonders im lauten Arbeitsumfeld unterstützt. Dies hält der Senat im vorliegenden Fall für ausschlaggebend. Der Antragsteller ist nicht nur seit frühester Kindheit hochgradig schwerhörig, er ist auch noch relativ jung (Jahrgang 1990) und steht erst am Anfang seines Erwerbslebens. Er ist daher in besonderem Maße auf einen optimalem Ausgleich seiner Hörminderung angewiesen, um sein Leben eigenständig und ohne fremde Hilfe gestalten zu können. Dies rechtfertigt es, ihm die gewünschte Hörgeräteversorgung ausnahmsweise im Wege der vorläufigen Anordnung zuzusprechen. Die von der Antragsgegnerin hinzunehmenden Nachteile, die darin bestehen, einen möglicherweise vom Antragsteller geschuldeten Eigenanteil nicht oder nicht in voller Höhe zu erhalten, sind demgegenüber von untergeordneter Bedeutung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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