L 11 R 4529/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 2 R 763/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 4529/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 24.03.2006 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe einer Witwenrente im Zugunstenverfahren.

Die 1931 geborene Klägerin ist die Witwe des 1934 geborenen und 2001 verstorbenen T. H. (im Folgenden H). Am 28.05.1997 übersiedelten die Eheleute aus der russischen Föderation in die Bundesrepublik Deutschland; sie waren als Spätaussiedler nach § 4 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) anerkannt. Die Beklagte bewilligte H auf seinen Antrag Altersrente für langjährig Versicherte beginnend ab 01.07.1997 (Bescheid vom 30.10.1997) und errechnete dabei 24,9745 Entgeltpunkte für Zeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG). Die Klägerin bezog ab 28.05.1997 Regelaltersrente (Bescheid vom 16.01.1998), wobei der Berechnung 19,5618 Entgeltpunkte für FRG-Zeiten zugrunde gelegt wurden wegen der Begrenzung auf 40 Entgeltpunkte für Ehegatten nach § 22b Abs 3 FRG; tatsächlich erreichte die Klägerin 23,9280 Entgeltpunkte. Ab 01.10.2001 wurden bei der Rente der Klägerin die vollen Entgeltpunkte angerechnet (Bescheid vom 20.11.2001).

Auf Antrag der Klägerin vom 25.09.2001 bewilligte ihr die Beklagte mit Bescheid vom 23.11.2001 Witwenrente in Höhe von 15,04 Euro aus 1,0720 Entgeltpunkten (25 abzüglich 23,9280 Entgeltpunkte). Dabei wurden die Entgeltpunkte nach dem FRG auf insgesamt 25 Entgeltpunkte begrenzt und die Entgeltpunkte aus eigener Versicherung vorrangig geleistet. Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit bestandskräftig gewordenem Widerspruchsbescheid vom 25.07.2002 zurück.

Mit Schreiben vom 22.04.2004 beantragte die Klägerin anwaltlich vertreten die Überprüfung des Bescheids vom 23.11.2001 im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG 30.08.2001, B 4 RA 118/00 R, BSGE 88, 288 = SozR 3-5050 § 22b Nr 2; BSG 11.03.2004, B 13 RJ 44/03 R, BSGE 92, 248 = SozR 4-5050 § 22b Nr 1; BSG 07.07.2004, B 8 KN 10/03 R, BSGE 93, 85 = SozR 4-5050 § 22b Nr 2), wonach die Begrenzung auf die 25 Entgeltpunkte nur für Fremdrentenzeiten aus dem jeweiligen Versicherungskonto gelte. Mit Bescheid vom 11.08.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.01.2005 lehnte die Beklagte den Überprüfungsantrag gestützt auf § 22b FRG in der Neufassung des Gesetzes zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RVNG) ab.

Dagegen richtet sich die am 02.03.2005 zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhobene Klage. Zur Begründung hat die Klägerin vorgetragen, dass für den Fall, dass eine Rente bereits vor Inkrafttreten des RVNG bewilligt und Entgeltpunkte festgestellt worden seien, diese in Rechtskraft erwüchsen und durch Art 14 Grundgesetz (GG) geschützt seien. Die Beklagte habe eine Witwenrente bewilligt und könne diese Bewilligung nicht mehr zurücknehmen. § 22b FRG sei vorliegend schon deshalb nicht anwendbar, weil die hier nach Meinung der Beklagten nicht zu berücksichtigenden Entgeltpunkte bereits mit Bescheid festgestellt worden seien.

Mit Urteil vom 24.03.2006 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen für die begehrte Zugunstenentscheidung nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) lägen nicht vor, denn weder habe die Beklagte das Recht unrichtig angewandt, noch sei sie von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erwiesen habe. Die Beklagte habe zu Recht die Witwenrente der Klägerin ausgehend von 1,0720 Entgeltpunkten gezahlt, weil die Höchstzahl von nach dem FRG anrechenbaren Entgeltpunkten unter Hinzurechnung der der Klägerin gewährten Regelaltersrente ausgeschöpft sei. § 22b FRG in der Fassung des Wachstums- und Beschäftigungsförderungesetzes (WFG) biete hierfür, wie das BSG mehrfach entschieden habe, zwar keine Rechtsgrundlage. Die Rechtmäßigkeit der Begrenzung der Entgeltpunkte folge aber aus § 22b Abs 1 Satz 1 FRG in der Fassung des RVNG vom 21.07.2004. Diese Vorschrift sei gemäß § 14 RVNG mit Wirkung vom 07.05.1996 in Kraft getreten und deshalb auch auf die Witwenrente der Klägerin anwendbar. Verfassungsmäßige Rechte der Klägerin würden hierdurch nicht verletzt.

Gegen das ihrem Bevollmächtigten am 18.04.2006 zugestellte Urteil richtet sich die am 18.05.2006 eingelegte Berufung der Klägerin. Im Hinblick auf Vorlagebeschlüsse des 13. Senats des BSG vom 29.08.2006 (ua B 13 RJ 47/04 R, juris) an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat der Senat auf übereinstimmenden Antrag der Beteiligten mit Beschluss vom 23.10.2006 das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Nach der Entscheidung des BVerfG vom 21.07.2010 (1 BvR 2530/05, BVerfGE 126, 369 = SozR 4-5050 § 22b Nr 9) hat die Beklagte das Verfahren wieder angerufen.

Die Klägerin trägt zur Begründung ihrer Berufung nunmehr noch vor, das BVerfG habe zwar klargestellt, dass die rückwirkende Inkraftsetzung des § 22b FRG verfassungsgemäß sei, habe jedoch offen gelassen, ob die Regelung an sich verfassungsgemäß sei. Klargestellt habe das BSG auch, dass in Fällen, in denen Witwenrente bestandskräftig bewilligt worden sei, die rückwirkende Inkraftsetzung wirkungslos sei. Dies sei hier der Fall; bereits vor Inkrafttreten der Regelung sei der Anspruch vollumfänglich entstanden. Außerdem verstoße es gegen Art 3 GG, den Deutschen, der wegen seines Vertreibungsschicksals außerhalb der Bundesrepublik Fremdrentenansprüche aus eigenem Recht erworben habe, nur deshalb zu diskriminieren, weil er Spätaussiedler sei. Es gebe keine Gründe dafür, die Witwe eines FRG-Berechtigten durch die Begrenzung auf 25 Entgeltpunkte in Addition mit der eigenen Rente schlechter zu stellen, als die Witwe eines nicht FRG-Rentenberechtigten. Zudem müsse die Auffassung, bei den Entgeltpunkten nach § 15 Abs 1 FRG handele es sich nicht um eigentumsrechtlich geschützte, auf Beiträgen beruhende Entgeltpunkte, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geprüft werden.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 24.03.2006 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 11.08.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.01.2005 zu verpflichten, der Klägerin unter teilweiser Rücknahme des Bescheids vom 23.11.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.07.2002 ab 01.10.2001 große Witwenrente ohne Begrenzung nach § 22b FRG idF des RVNG zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf den Beschluss des BVerfG vom 21.07.2010 (aaO). Weitere Verfassungsbeschwerden zu § 22b FRG habe das BVerfG am 06.09.2010 (ua 1 BvR 2553/05) mit dem Hinweis auf die Entscheidung vom 21.07.2010 nicht mehr zur Entscheidung angenommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Rechtszüge und der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§§ 153 Abs 1, 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)), hat keinen Erfolg.

Die nach §§ 143, 144, 151 Abs 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, in der Sache aber unbegründet. Der angefochtene Bescheid vom 11.08.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.01.2005 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Beklagte hat zu Recht abgelehnt, der Klägerin unter teilweiser Rücknahme des bestandskräftigen Bewilligungsbescheids vom 23.11.2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.07.2002 höhere Witwenrente zu zahlen. Nicht streitig und nicht Gegenstand dieses Verfahrens ist die Höhe der eigenen Regelaltersrente der Klägerin.

Nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein bindend gewordener Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.

Vorliegend kann dahinstehen, ob die Beklagte bei Erlass des Bescheides vom 23.11.2004 das Recht richtig angewandt hat, denn selbst bei fehlerhafter Anwendung ergäbe sich kein Rücknahmeanspruch der Klägerin. Es fehlt insoweit die weitere Voraussetzung des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X, dass wegen der unrichtigen Rechtsanwendung Sozialleistungen zu Unrecht vorenthalten worden sind. Maßgeblich ist insoweit die im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Überprüfungsentscheidung bestehende materielle Rechtslage. Hat sich das Recht während des anhängigen Rechtsstreits rückwirkend geändert, so ist das neue Recht auch im Revisionsverfahren zu beachten (st Rspr, BSG 21.06.2005, B 8 KN 1/05 R, BSGE 95, 29 = SozR 4-5050 § 22b Nr 4). Ist das neue Recht sogar im Revisionsverfahren zu beachten, so gilt dies erst recht, wenn die Rechtsänderung wie hier bereits während des laufenden Zugunstenverfahrens erfolgt. Vorliegend ist daher § 22b Abs 1 Satz 1 FRG in der Fassung des RVNG vom 21.07.2010 (BGBl I 1791) anzuwenden. Danach gilt rückwirkend zum 07.05.1996, dass für anrechenbare Zeiten nach dem FRG für Renten aus eigener Versicherung und wegen Todes eines Berechtigten insgesamt höchstens 25 Entgeltpunkte der Rentenversicherung zugrunde gelegt werden. Dabei sind nach § 22b Abs 1 Satz 3 FRG Entgeltpunkte aus der Rente mit einem höheren Rentenartfaktor vorrangig zu berücksichtigen.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist die Witwenrente der Klägerin zutreffend unter Zugrundelegung von 1,0720 Entgeltpunkten berechnet worden. Vorrangig sind die Entgeltpunkte aus der Regelaltersrente der Klägerin zu berücksichtigen, denn der Rentenartfaktor ist bei dieser Rentenart mit 1,0 (§ 67 Nr 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI)) höher als bei der großen Witwenrente nach Ablauf des sog Sterbevierteljahrs in Höhe von 0,6 bzw ab 01.01.2002 0,55 (§ 67 Nr 6 SGB VI). Da bei der Klägerin bereits 23,9280 Entgeltpunkte bei ihrer Altersrente berücksichtigt werden, verbleiben bis zur Ausschöpfung des Höchstbetrags von 25 Entgeltpunkten lediglich 1,0720 Entgeltpunkte, die die Beklagte zutreffend bei der Witwenrente zugrunde gelegt hat.

Nichts anderes ergibt sich aus § 300 Abs. 2 SGB VI, wonach ua durch Neuregelungen innerhalb des SGB VI ersetzte Vorschriften auch nach dem Zeitpunkt ihrer Aufhebung noch auf den bis dahin bestehenden Anspruch anzuwenden sind, wenn der Anspruch bis zum Ablauf von drei Monaten nach der Aufhebung geltend gemacht worden ist. Diese Regelung gilt gemäß § 14 FRG auch für Änderungen des FRG. Aus dieser Vorschrift kann indes nicht abgeleitet werden, dass der Anspruch auf Witwenrente weiterhin nach § 22b Abs 1 Satz 1 FRG aF zu beurteilen ist, weil er bereits vor Verkündung des RVNG geltend gemacht worden ist. "Aufhebung" im Sinne von § 300 Abs 2 SGB VI meint auch den rückwirkenden Zeitpunkt des Außerkrafttretens, hier also den 07.05.1996 (BSG 20.07.2011, B 13 R 36/10 R, juris). Zu diesem Zeitpunkt hatte die Klägerin aber noch keinen Anspruch auf Witwenrente, weil dieser erst nach dem Tod des H im Jahr 2001 entstanden ist.

Auch aus Art 6 § 4 Abs 4a des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG vom 25.2.1960, BGBl I 93 idF des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000, BGBl I 1827) folgt übergangsrechtlich nichts anderes. Danach sind die Vorschriften des FRG maßgebend, die bei erstmaliger Feststellung der Rente anzuwenden waren, wenn eine bereits vorher geleistete Rente neu festzustellen ist und dabei die persönlichen Entgeltpunkte neu zu ermitteln sind, soweit § 317 Abs 2a SGB VI nichts anderes bestimmt. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind hier schon deshalb nicht erfüllt, da vor Inkrafttreten des anzuwendenden Rechts am 07.05.1996 keine entsprechende Rente an die Klägerin geleistet wurde.

Die rückwirkende Inkraftsetzung des § 22b Abs 1 Satz 1 FRG zum 07.05.1996 verstößt nicht gegen Verfassungsrecht, wie das BVerfG mit Gesetzeskraft (§ 13 Nr 11 iVm § 31 Abs 2 Satz 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG)) entschieden hat (Beschluss vom 21.07.2010, aaO). Auch die Regelung selbst steht im Einklang mit dem Grundgesetz (BVerfG 21.07.2010, aaO). Das BVerfG hat im genannten Beschluss im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde ausdrücklich ausgeführt, dass weder ein Verstoß gegen Art 14 Abs 1 GG, noch gegen Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG, Art 3 Abs 3 GG oder Art 3 Abs 1 GG vorliegt. Dieser Entscheidung kommt zwar keine Gesetzeskraft zu (§ 31 Abs 2 Satz 2 iVm § 13 Nr 8a BVerfGG), der Senat hält jedoch § 22b FRG nF ebenfalls für verfassungsgemäß und schließt sich der Auffassung des BVerfG und diesem nachfolgend auch des BSG (20.07.2011, B 13 R 36/10 R, B 13 R 39/10 R, B 13 R 40/10 R ua, juris) ausdrücklich an. Neue, verfassungsrechtlich noch zu klärende Gesichtspunkte hat die Klägerin nicht vorgetragen.

Soweit sich die Klägerin der Sache nach auf die Europäische Menschenrechtskonvention beruft, ist nicht ersichtlich, wie sie hieraus einen höheren Anspruch auf Witwenrente herleiten will. Der Senat bezieht sich insoweit auf die Ausführungen des BSG im bereits genannten Urteil vom 20.07.2011 (B 13 R 36/10 R, juris RdNr 35) und schließt sich diesen an.

Soweit die Klägerin schließlich ausführt, dass Vertrauensschutz aus der bereits bestandskräftigen Zuerkennung der Witwenrente resultiere, ist diese Argumentation bezogen auf den konkreten Fall nicht nachvollziehbar. Der Klägerin wurde erstmals mit Bescheid vom 23.11.2001 Witwenrente zugesprochen, dabei wurden nicht mehr als 1,0720 Entgeltpunkte zugrunde gelegt. Die vorliegende Bewilligung ist daher durch das Inkrafttreten des RVNG nicht zum Nachteil der Klägerin geändert worden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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