L 13 AL 5553/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 7 AL 2476/08
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 13 AL 5553/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 16. November 2011 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten auch für das Berufungsverfahren zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Förderung einer Umschulung zum staatlich geprüften Atem-, Sprech- und Stimmlehrer als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben und die Gewährung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Dauer der Maßnahme.

Der 1970 in der Schweiz geborene Kläger erlernte nach dem Besuch von Haupt- und Realschule in den Jahren 1987 bis 1991 den Beruf des Mechanikers und anschließend von 1991 bis 1993 denjenigen des Friseurs. Vom 1. Juli 2004 bis 31. März 2007 war der Kläger bei der Firma R. GmbH in M. als Verkäufer, Lagerist und beim Paketempfang beschäftigt. Nach Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber meldete sich der Kläger am 8. Februar 2007 mit Wirkung zum 1. April 2007 bei der Agentur für Arbeit M. arbeitslos. Die Beklagte gewährte ihm daraufhin Alg ab 1. April 2007 für die Dauer von 360 Tagen und nach eine Unterbrechung der Arbeitslosigkeit (25. Juni bis 8. August 2007) ab 9. August 2007 für die Dauer von (noch) 276 Tagen.

Im Jahre 2002 hatte der Kläger eine septische Spondylodiszitis mit hochgradiger Bandscheibendestruktion L 3/4 erlitten. Infolge dieser Erkrankung besteht neben hochgradigen Schmerzen mit Streckhaltung der LWS und paravertebralen Myogelosen eine deutliche Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule. Der Kläger hatte erstmals am 20. März 2007 bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Bund die Förderung einer Umschulung zum staatlich geprüften Atem-, Sprech- und Stimmlehrer als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben beantragt. Die DRV Bund hatte den Antrag zuständigkeitshalber an die Beklagte weitergeleitet, die diesen mit Bescheid vom 22. Mai 2007 ablehnte und den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 19. Juni 2007 zurückwies. Ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes vor dem Sozialgericht München blieb für den Kläger ohne Erfolg (Beschluss vom 20. Juli 2007 ? S 7 AL 601/07 ER).

Nachdem der Kläger die Aufnahme der begehrten Ausbildung zum Logopäden bei der IB in U. angekündigt und weitere Unterlagen vorgelegt hatte, stellte die Beklagte mit Schreiben vom 30. August 2007 die Notwendigkeit einer beruflichen Qualifizierung fest und stellte einen bis 30. November 2007 befristeten Bildungsgutschein für die angestrebte Weiterbildung aus. Mit weiterem Schreiben vom selben Tag wies die Beklagte gesondert auf die Voraussetzungen des § 85 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III; in der hier anwendbaren bis 31. März 2012 geltenden Fassung) hin. Für das dritte Ausbildungsjahr dürften keine anteiligen Maßnahmekosten anfallen; der Bildungsträger müsse die laufenden Kosten zum Lebensunterhalt, die Sozialversicherungsbeiträge, die anfallenden Reisekosten und evtl. anfallende Unterbringungs- und Verpflegungskosten tragen.

Gegen diese, nicht mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehene Entscheidung des Beklagten erhob der Kläger am 17. Oktober 2007 Widerspruch. Der Bildungsträger habe gegenüber der Beklagten bereits mit Schreiben vom 7. August 2007 bestätigt, dass die Finanzierung des dritten Ausbildungsjahres gesichert sei. Zudem hätten sich seine Eltern mit Schreiben vom 8. August 2007 verpflichtet, die Lebenshaltungskosten für das dritte Ausbildungsjahr zu übernehmen. Wegen des Inhalts dieser Schreiben wird auf Bl. 63/64 der Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen. Nach Aufnahme der Ausbildung durch den Kläger ? die Ausbildung wurde am 28. Oktober 2007 an der IB in U. begonnen, ab 17. November 2008 an der IB in Ma. fortgesetzt und dort im Oktober 2010 abgeschlossen ? hob die Beklagte die Bewilligung von Alg mit Wirkung ab 1. November 2007 auf (Bescheid vom 22. November 2007). Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 24. Dezember 2007 Widerspruch. Mit Widerspruchsbescheiden vom 30. Juni 2008 wies die Beklagte die Widersprüche des Klägers gegen die Entscheidung vom 30. August 2007 (W 3478/08) und gegen den Bescheid vom 22. November 2007 (W 100/08) zurück.

Der Kläger hat am 14. Juli 2008 Klage beim Sozialgericht Ulm (SG) erhoben, seinen bisherigen Vortrag aufrechterhalten und vertieft. Die Beklagte ist der Klage weitgehend entgegengetreten. Eine Förderung der Maßnahme komme aufgrund geänderter Weisungslage zwar für die Zeit vom 5. August 2009 bis 14. Oktober 2009 (Ende des zweiten Ausbildungsjahres) in Betracht, nicht jedoch für die Zeit bis 4. August 2009. Mit Beschluss vom 5. August 2009 hat das Sozialgericht Berlin im Rahmen einer einstweiligen Anordnung vorläufig festgestellt, dass u. a. die Weiterbildung zum Logopäden durch den IB durch die fachkundige Stelle nach § 85 SGB III für die Beklagte bindend bundesweit zugelassen ist. Die Beklagte hat daraufhin ihre Agenturen für Arbeit (u. a.) angewiesen, diesen Beschluss in allen laufenden Widerspruchs-, Klage- und Berufungsverfahren für förderfähige Zeiten ab 5. August 2009 umzusetzen. Mit Bescheid vom 26. Juli 2010 hat die Beklagte dem Kläger Alg in Höhe von 593,70 Euro monatlich für die Zeit vom 5. August bis 14. Oktober 2009 bewilligt. Gleichzeitig hat der Beklagte für die Zeit vom 5. August bis 14. Oktober 2009 Fahrtkosten in Höhe von 617,33 Euro und Lehrgangskosten in Höhe von 1.702,54 Euro (insgesamt 2.319,87 Euro) bewilligt. Mit Urteil vom 16. November 2011 hat das SG die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 30. August 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Juni 2008, unter Aufhebung des Bescheids vom 22. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Juni 2008 sowie unter Abänderung der Bescheide vom 26. Juli 2010 verurteilt, dem Kläger die beantragten Kosten für die Weiterbildung zum Logopäden an der IB in U. und Ma. auch in der Zeit vom 29. Oktober 2007 bis 4. August 2009 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren und dem Kläger in dieser Zeit der beruflichen Weiterbildungsmaßnahme Alg nach den gesetzlichen Vorschriften zu bewilligen. Die nach dem Gesetz erforderliche Sicherstellung der Finanzierung sei im Fall des Klägers durch individuelle Erklärungen des Maßnahmeträgers und der Eltern des Klägers erfolgt. Die von der Beklagten erhobene Forderung nach einer institutionellen Absicherung der Finanzierung finde im Gesetz keine Stütze.

Gegen das ihr gemäß Empfangsbekenntnis am 29. November 2011 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 16. Dezember 2011 schriftlich beim Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt. Sie vertrete in Übereinstimmung mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales weiterhin die Auffassung, dass § 85 Abs. 2 SGB III die maßnahmenbezogenen Zulassungskriterien regele. Deshalb sei eine institutionelle Finanzierungssicherstellung aufgrund allgemeiner Finanzierungsstrukturen zu fordern. Im Übrigen könne eine Finanzierungszusage der Eltern jederzeit widerrufen werden, weshalb dann der Abbruch der Maßnahme drohe. Deshalb widerspreche es auch dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit eine Finanzierungssicherstellung durch Dritte ausreichen zu lassen. Das Urteil des SG könne zudem auch im Hinblick auf die Dauer der Bewilligung keinen Bestand haben. Der Restanspruch des Klägers auf Alg habe am 1. November 2007 nur noch 193 Tage betragen. Nach Maßgabe des § 128 Abs. 1 Nr. 8 SGB III komme deshalb allenfalls ein Anspruch auf Alg für 386 Tage in Betracht.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 16. November 2011 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die rechtliche Würdigung des SG für zutreffend.

Wegen der weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten (811 A 136314), die Klageakte des SG (S 7 AL 2476/08) und die Berufungsakte des Senats (L 13 AL 5553/11) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg.

Sie ist statthaft, da Berufungsbeschränkungen nicht vorliegen (vgl. §§ 143, 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) und auch sonst zulässig, da sie unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden ist. Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Gegenstand der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist das die Förderung einer Weiterbildung zum Logopäden ablehnende und als Verwaltungsakt nach § 31 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu wertende Schreiben der Beklagten vom 30. August 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Juni 2008. Darüber hinaus wendet sich der Kläger im Wege der isolierten Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 22. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Juni 2008. Letztlich sind die Bescheide vom 26. Juli 2010 gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Die angegriffenen Bescheide sind in dem Umfang, in dem sie durch das Urteil des SG vom 16. November 2007 aufgehoben oder abgeändert worden sind, rechtswidrig und verletzen den Kläger in subjektiven Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf Förderung der Weiterbildung und Bewilligung von Alg (auch) für die Zeit vom 29. Oktober 2007 bis 4. August 2009.

I.

Rechtsgrundlage für die begehrte Förderung ist § 97 Abs. 1 SGB III in der bis 31. März 2012 geltenden Fassung. Nach dieser Vorschrift können behinderten Menschen Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben erbracht werden, die wegen Art oder Schwere der Behinderung erforderlich sind, um ihre Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu bessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben zu sichern. Bei der Auswahl der Leistungen sind gemäß § 97 Abs. 2 SGB III Eignung, Neigung, bisherige Tätigkeit sowie Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes angemessen zu berücksichtigen. Bei der hier streitigen Förderung einer Weiterbildung zum Logopäden handelt es sich gemäß § 100 SGB III um eine allgemeine Leistung, so dass gemäß § 99 SGB III die Vorschriften des ersten und vierten bis sechsten Abschnitts (§§ 45 bis 47 und §§ 57 bis 87 SGB III) Anwendung finden.

Dass der Kläger die Anspruchsvoraussetzungen insgesamt erfüllt, insbesondere zum berechtigten Personenkreis, also zu den behinderten Menschen im Sinne des § 97 Abs. 1 SGB III gehört, hat bereits das SG in rechtlich nicht zu beanstandender Weise festgestellt. Das Gleiche gilt für die Tatsache, dass aufgrund der beim Kläger vorliegenden Behinderungen eine Umschulung erforderlich und die konkret durchlaufene und zwischenzeitlich abgeschlossene Ausbildung zum Logopäden geeignet ist, um die Erwerbsfähigkeit zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Der Senat schließt sich insoweit den Entscheidungsgründen des mit der Berufung angegriffen Urteils des SG vom 16. November 2011 an und nimmt hierauf zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG). Soweit die Beklagte erstmals in der mündlichen Verhandlung am 20. November 2012 die Auffassung vertreten hat, bei der vom Kläger absolvierten Ausbildung zum Logopäden habe es sich überhaupt nicht um eine förderfähige Weiterbildung im Sinne der §§ 97, 100 und 101 SGB III gehandelt, verkennt sie, dass mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 30. August 2007 ? in Verbindung mit dem erteilten und ebenfalls als Verwaltungsakt im Sinne des § 31 SGB X zu qualifizierenden Bildungsgutschein ? eine Kostenübernahme für die konkret beantragte (und auch tatsächlich durchgeführte) Maßnahme bereits bestandskräftig verfügt worden ist. Die Förderung ist dabei lediglich von einer Zulassung nach § 85 SGB III abhängig gemacht worden. Nachdem der Bescheid vom 30. August 2007 weder aufgehoben noch zurückgenommen worden ist, muss sich die Beklagte an dessen Inhalt festhalten lassen.

In Übereinstimmung mit dem SG hält auch der Senat die Finanzierung der Weiterbildung durch die vorgelegten Zusagen des Maßnahmeträgers und der Eltern des Klägers für gesichert im Sinne des § 85 Abs. 2 Satz 3 SGB III (in der bis 31. März 2012 geltenden Fassung). Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten ist eine institutionelle Sicherung der Finanzierung durch den Maßnahmeträger allein nicht zu fordern. Das Hessische LSG hat diese Rechtsauffassung in seinem Urteil vom 1. September 2011 (L 1 AL 65/10 ? veröffentlicht in Juris) wie folgt begründet:

?Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Förderung auch nicht mangels institutioneller Förderung ausgeschlossen. Mit der Regelung in § 85 Abs. 2 Satz 3 SGB III soll vermieden werden, dass entsprechende Weiterbildungen bei Beendigung der Förderung durch die Beklagte aus finanziellen Erwägungen abgebrochen werden müssen (BT-Drucks. 14/6944 S. 35). Dabei muss die Finanzierung der gesamten Maßnahme jedoch nicht institutionell gesichert sein. Insbesondere muss das dritte Ausbildungsjahr nicht durch den Maßnahmeträger finanziert werden. Vielmehr kann die Sicherung auch durch eigene Mittel des Teilnehmers oder durch Dritte erfolgen. Hinsichtlich der Finanzierung durch Dritte folgt dies bereits aus der Gesetzesbegründung, wonach die Finanzierung ?z.B. durch Leistungen Dritter gesichert sein? kann (BT-Drucks. 14/6944 S. 35). Nichts anderes ergibt sich für die Sicherstellung durch den Teilnehmer selbst (vgl. Hessisches LSG, Beschlüsse vom 6. November 2008 - L 9 AL 158/08 B ER -, vom 28. April 2009 - L 7 AL 118/08 B ER - und vom 28. Januar 2010 - L 6 AL 167/09 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3. Dezember 2009 - L 14 AL 315/09 B; Sächsisches LSG, Beschluss vom 19. Juni 2008 - L 3 AS 39/07; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 4. Dezember 2008 - L 9 AS 529/08 ER; Stratmann in: Niesel/Brand, SGB III, Kommentar, 5. Aufl., § 85 Rn. 13).?

Diesen Ausführungen schließt sich der erkennende Senat aufgrund eigener Überzeugungsbildung an und nimmt auf diese zur weiteren Begründung Bezug. Wie im dort entschiedenen Fall ist der der Beklagten einzuräumende Ermessensspielraum (vgl. §§ 3 Abs. 5 und 97 Abs. 1 und 2 SGB III) auf eine Förderung der konkret durchlaufenen Weiterbildung reduziert. Das Hessische LSG (a.a.O.) hat hierzu Folgendes ausgeführt:

?Das sehr begrenzte Ermessen hinsichtlich der Frage, ob überhaupt Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben gewährt werden (vgl. hierzu Keller, a.a.O., § 97 Rn. 51 f.; Luik in: Eicher/Schlegel, SGB III, § 97, Rn. 55 f.), hat die Beklagte zugunsten der Klägerin ausgeübt. So hat sie entsprechende Leistungen nicht abgelehnt, sondern eine Förderung hinsichtlich anderer Ausbildungen angeboten.

Anders gestaltet sich dies hinsichtlich der Ermessensentscheidung über die Art der Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben. Insoweit steht der Beklagten prinzipiell ein Auswahlermessen zu. Bei der Auswahlentscheidung sind allerdings die in § 97 Abs. 1 SGB III und § 33 Abs. 1 SGB IX genannten Ziele, die in § 97 Abs. 2 SGB III und § 33 Abs. 4 SGB IX genannten Kriterien und die allgemeinen Grundsätze des SGB IX sowie die Wertentscheidungen des Grundgesetzes zu beachten. Die berechtigten Wünsche des behinderten Menschen sind im Hinblick auf § 9 SGB IX und Art. 12 Grundgesetz (GG) möglichst zu berücksichtigen, ebenso die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit, § 7 Satz 1 SGB III (vgl. Luik, a.a.O., Rn. 60).

Unter Beachtung des Individualisierungsgebotes ist die für den Einzelfall am besten geeignete Leistung zu wählen. Dabei ist vorrangig auf die Fähigkeit der zu fördernden Person und die Erfolgsaussichten einer Eingliederung abzustellen. Eine Leistung darf nicht bloß mit der Begründung versagt werden, es sei eine konkrete Leistung beantragt worden, es gäbe aber andere Möglichkeiten, das Eingliederungsziel zu erreichen. Die Beklagte muss erwägen, ob dieses mit anderen Mitteln erreicht werden kann (BSG, Urteil vom 15. Oktober 1981 ? 5b/5 RJ 96/79 = SozR 2200 § 1236 Nr. 35; Karmanski, in: Niesel/Brand, SGB III, 5. Aufl., § 97 Rn. 9). Aus der Verpflichtung zur Beachtung der Erfolgsaussichten folgt ebenso wie aus der Zielvorgabe, eine möglichst dauerhafte Eingliederung zu erreichen, dass zwischen mehreren Leistungen, welche voraussichtlich die Erwerbsfähigkeit steigern, möglichst diejenige zu wählen ist, welche die größte Wahrscheinlichkeit der dauerhaften Eingliederung bietet (Lauterbach, in: Gagel, SGB II/SGB III, § 97 SGB III, Rn. 54).

Bei der Ermessensentscheidung sind gemäß § 97 Abs. 2 Satz 1 SGB III die Neigungen des Betroffenen angemessen zu berücksichtigen. Dies ist vor dem Hintergrund, dass durch den Berufswunsch die Motivation des behinderten Menschen und damit die Erfolgsaussichten der Eingliederung in das Erwerbsleben entscheidend beeinflusst werden, von besonderer Bedeutung (vgl. Keller, a.a.O., § 97 Rn. 56). Auch gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist den Wünschen der Leistungsberechtigten zu entsprechen. Überragende Zielbestimmung der Leistungen zur Teilhabe im Sinne des SGB IX ist die Förderung der Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit. Eine wesentliche Ausprägung dieser Zielsetzung ist die besondere Hervorhebung der Wunsch- und Wahlrechte der Leistungsberechtigten. Die Rehabilitationsträger sind verpflichtet, bei der Entscheidung über die Leistungen zur Teilhabe den berechtigten Vorstellungen der Leistungsberechtigten zu entsprechen (vgl. Götz in: Kossens/von der Heide/Maaß, SGB IX, 3. Aufl., § 9 Rn. 2 f.; Majerski-Pahlen in: Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX, 12. Aufl., § 9 Rn. 1 f.). Bereits vor dem Inkrafttreten des SGB IX waren die angemessenen Wünsche der Betroffenen gemäß § 33 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) in die Entscheidungsfindung einzubeziehen. Mit der wiederholten gesetzlichen Benennung der Wünsche der Rehabilitanden kommt diesem Kriterium ein besonderer Stellenwert zu und ist maßgeblich zu berücksichtigen (vgl. Götz, a.a.O., § 9 Rn. 7). Die Bedeutung der Wünsche der Leistungsberechtigen bei der Entscheidung über die Auswahl der Leistung wird auch im Hinblick auf die grundrechtlich geschützte Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG deutlich. Diese Verfassungsnorm begründet zwar keinen Leistungsanspruch. Sie ist jedoch als Auslegungsmaßstab im Rahmen der §§ 97 ff. SGB III zu beachten (vgl. Luik, a.a.O., SGB III, Vor §§ 97 ? 115, Rn. 48 f.; BSG, Urteil vom 28. März 1990 ? 9b/7 Rar 92/88 = BSGE 66, 275 ff.). Dies gilt in besonderem Maße, wenn sich die Neigung tatsächlich zu einer entschiedenen Berufswahl verdichtet hat (BSG, Urteil vom 3. Juli 1991 ? 9b/7 Rar 142/89 = BSGE 69, 128 ff.; Großmann in Hauck/Noftz, SGB III, K § 97 Rn. 94). Die Beklagte ist zwar auch berechtigt und verpflichtet, finanzielle Erwägungen anzustellen (§ 7 Satz 1 SGB III). Wesentlich ist jedoch dabei, welche Leistung die größte Wahrscheinlichkeit einer dauerhaften Teilhabe am Arbeitsleben bietet (Keller, a.a.O., § 97 Rn. 55).

Dabei kann sich in Einzelfällen eine Ermessensreduzierung auf Null ergeben. Diese kann insbesondere dann vorliegen, wenn von der Beklagten zu verantwortende zeitliche Verzögerungen eintreten (vgl. Lauterbach, Gagel, SGB III, § 97 Rn. 60). Denn die zügige und lückenlose Durchführung der Rehabilitation ist für die Sicherstellung des Erfolgs von großer Bedeutung. Die möglichst baldige Eingliederung des behinderten Menschen ist Ziel der Maßnahmen. Verzögerungen können zur Demotivation des Betreffenden führen. Dieser verliert bei sachlich nicht begründeten Verzögerungen nicht nur ?Lebenszeit?, sondern muss auch eine Minderung seiner Eingliederungsaussichten hinnehmen. Gerade bei Maßnahmen der beruflichen Teilhabe gilt deshalb, dass oft eine rasche Entscheidung getroffen werden muss, um Nachteile zu verhindern (Lauterbach, a.a.O., § 97 Rn. 60). Bei sachlich nicht gerechtfertigten Verzögerungen kann das Ziel der dauerhaften Eingliederung gefährdet sein. Dem behinderten Menschen kann angesichts der fortschreitenden Lebenszeit, ungenutzter Chancen und einer fortdauernden Abhängigkeit von öffentlichen Leistungen (Arbeitslosengeld oder Rente) zudem ein Abwarten bis zur rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung über die Berechtigung nicht zugemutet werden. Auch nimmt mit zunehmendem Erwerb neuer Kenntnisse in einer selbst begonnenen Maßnahme das Gewicht von Neigung und Eignung zu und es vermehren sich die berücksichtigungsfähigen Kenntnisse im Hinblick auf die begonnene Ausbildung (BSG, Urteil vom 28. März 1990 ? 9b/7 Rar 92/88 = BSGE 66, 275 ff.). Daraus kann folgen, dass sich der Anspruch des behinderten Menschen auf ermessensfehlerfreie Entscheidung zu einem Pflichtanspruch auf eine bestimmte Leistung verdichtet (vgl. Luik, a.a.O., Rn. 59 mwN).

Nach diesen Grundsätzen, die sich der erkennende Senat vollinhaltlich zu eigen macht, kommt als ermessensfehlerfreie Entscheidung nur noch eine Förderung der vom Kläger durchlaufenen Weiterbildung zum Logopäden in Betracht. Die Beklagte hat ihre Ablehnung ? ebenso wie in dem vom Hessischen LSG (a.a.O.) entschiedenen Fall ? ausschließlich auf das Fehlen einer institutionellen Absicherung der Finanzierung gestützt. Wegen dieser rechtswidrigen Entscheidung hat es allein die Beklagte zu vertreten, dass der Kläger letztlich gehalten war, die Weiterbildung ohne vorliegende Förderzusage der Beklagten zu beginnen und sogar zu beenden. Vor diesem Hintergrund würde es sich jedenfalls als eine unzulässige Rechtsaussübung darstellen, wollte sich die Beklagte in Ausübung des ihr eingeräumten Ermessens jetzt nach Abschluss der Maßnahme (erstmals) darauf berufen, die begehrte Förderung sei deshalb abzulehnen, weil eine andere Maßnahme als ebenso geeignet oder geeigneter erscheine. Dementsprechend hat das SG die begehrte Förderung zu Recht im Rahmen eines Kostenerstattungsanspruchs gemäß § 15 Abs. 1 Satz 4 SGB IX zugesprochen, da die Beklagte die Leistung zu Unrecht abgelehnt hat (vgl. auch dazu Hessisches LSG a.a.O. m.w.N.).

Damit steht dem Kläger für die Dauer der Förderung, die hier gemäß § 85 Abs. 2 Satz 3 SGB III auf die ersten zwei Ausbildungsjahre, also auf die Zeit bis 14. Oktober 2009 begrenzt ist, Alg bei beruflicher Weiterbildung zu. Der Anspruch umfasst dabei den Zeitraum vom ersten bis zum letzten Tag der Förderung (vgl. dazu BT-Drucks. 15/1515 s. 84). Entgegen der (zunächst geäußerten) Ansicht der Beklagten führt die Anwendung des § 128 Abs. 1 Nr. 8 SGB III (in der bis 31. März 2012 geltenden Fassung) nicht zu einer Begrenzung des Anspruchs auf 386 Tage, denn eine Minderung des Anspruchs unterbleibt gemäß § 128 Abs. 2 Satz 3 SGB III vollständig, wenn sich der Restanspruch durch die Minderung auf unter 30 Tage reduzieren würde.

II.

Letztlich hat das SG auch die mit Bescheid vom 22. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Juni 2008 verfügte Aufhebung der Alg-Bewilligung ab 1. November 2007 zur Recht aufgehoben. Als Rechtsgrundlage für diese Entscheidung kommen allein die §§ 48 Abs. 1 SGB X, 330 Abs. 3 SGB III in Betracht. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Nach Satz 2 der Vorschrift soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt (Nr. 1), der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (Nr. 2), nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (Nr. 3) oder der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (Nr. 4).

Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Bewilligung von Alg liegen hier bereits deshalb nicht vor, weil eine diese Entscheidung rechtfertigende wesentliche Änderung in den - hier nur in Betracht kommenden - tatsächlichen Verhältnissen nicht eingetreten ist. Der Anspruch des Klägers auf Alg ist durch die Aufnahme der Weiterbildung zum Logopäden nicht weggefallen; ein Anspruch hat aus den oben dargelegten Gründen vielmehr gemäß §§ 117 Abs. 1 Nr. 2, 124a SGB III (in der bis 31. März 2012 geltenden Fassung) fortbestanden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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