L 13 SB 79/10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 9 SB 97/09
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 79/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 4. März 2010 wird zurückgewiesen. Eine Kostenerstattung für das Berufungsverfahren findet nicht statt. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt im Berufungsverfahren zuletzt noch die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 70.

Bei dem 1941 geborenen Kläger stellte der Beklagte auf dessen Antrag vom 9. Februar 2006 mit Bescheid vom 28. Juni 2006 wegen einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, einer operierten Wirbelsäule sowie einer Versteifung von Wirbelsäulenabschnitten einen GdB von 30 sowie das Vorliegen einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit fest. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des beantragten Merkzeichens "G" lägen demgegenüber nicht vor. Den dagegen eingelegten Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 30. August 2006 zurück. Daraufhin erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht Potsdam (S 9 SB 294/06), mit der er für die Zeit vom 9. Februar 2006 bis zum 26. November 2008 die Feststellung eines GdB von 50 sowie des Merkzeichens "G" begehrte.

Am 4. Dezember 2007 beantragte der Kläger die Neufeststellung des GdB sowie die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" beim Beklagten. Mit Schriftsatz vom 13. Oktober 2008 erkannte der Beklagte im Verfahren S 9 SB 294/06 einen GdB von 40 ab dem 4. Dezember 2007 an.

Der Kläger beantragte am 27. November 2008 beim Beklagten neben einer Neufeststellung des GdB die Zuerkennung der Merkzeichen "aG" und "H". Nach Beiziehung medizinischer Unterlagen und Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme stellte der Beklagte mit Be-scheid vom 24. Februar 2009 bei dem Kläger mit Wirkung ab dem 18. September 2006 einen GdB von 50 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" fest und hob die Bescheide vom 28. Juni 2006 und 30. August 2006 entsprechend auf. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche "aG" und "H" lägen nicht vor. Der Feststellung des Gesamt-GdB lagen folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 50) Versteifung von Wirbelsäulenabschnitten (Einzel-GdB 10) Nervenwurzelreizerscheinungen beidseits (Einzel-GdB 10)

Der Beklagte erklärte den Bescheid hinsichtlich des festgestellten GdB und des Merkzeichens "G" zum Gegenstand des vor dem Sozialgericht Potsdam anhängigen Klageverfahrens gegen den Bescheid vom 28. Juni 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. August 2006. Im Übrigen könne gegen den Bescheid Widerspruch erhoben werden. Den gegen den Bescheid vom 24. Februar 2009 vom Kläger eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23. März 2009 mit der Begründung zurück, nach dem medizinisch umfassend aufgeklärten Sachverhalt käme weder eine Feststellung eines höheren GdB noch des Vorliegens der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen "aG" und "H" in Betracht. Mit Bescheid vom 3. April 2009 berichtigte der Beklagte den Bescheid vom 24. Februar 2009 dahingehend, dass die Entscheidung ab dem 27. November 2008 und nicht ab dem 18. September 2006 wirksam sei. Insoweit läge eine offenbare Unrichtigkeit vor, die jederzeit berichtigt werden könne. Aus dem Zusammenhang des Bescheides ergebe sich, dass dieser aufgrund des Verschlimmerungsantrages vom 27. November 2008 ergangen sei. Von dem Kläger sei auch keine rückwirkende Feststellung beantragt worden. Im Rahmen der Datenverarbeitung sei irrtümlich das Eingangsdatum der Klage als Antragsdatum aufgenommen worden.

Das Sozialgericht Potsdam wies die über das Anerkenntnis des Beklagten in dem Verfahren S 9 SB 294/06 hinausgehende Klage mit Urteil vom 4. März 2010 ab. Der Beklagte stellte entsprechend seinem abgegebenen Teilanerkenntnis mit Bescheid vom 17. März 2010 mit Wirkung für die Zeit vom 4. Dezember 2007 bis zum 26. November 2008 für den Kläger einen GdB von 40 fest. Gegen das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 4. März 2010 legte der Kläger Berufung zum Landessozialgericht Berlin-Brandenburg zum Aktenzeichen L 11 SB 78/10 ein. Der Beklagte erkannte im dortigen Verfahren bei dem Kläger das Vorliegen eines GdB von 50 sowie der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" ab dem 18. September 2006 an, indem er den Berichtigungsbescheid vom 3. April 2009 aufhob. Im Übrigen erklärten die Beteiligten das Verfahren übereinstimmend für erledigt. Der 11. Senat hatte im dortigen Verfahren auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Sachverständigengutachten vom 11. Januar 2011 nebst ergänzender gutachterlicher Stellungnahme vom 25. Juli 2011 bei dem Orthopäden Dr. L eingeholt, der in seinem Gutachten, auf das wegen der Einzelheiten verwiesen wird, bei dem Kläger aufgrund der Verlän-gerung der Versteifungskette der Wirbelsäule durch eine Operation im April 2008 ab diesem Zeitpunkt einen GdB von 70 befürwortete, sowie eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme bei Dr. B vom 24. Mai 2011, in der dieser darlegte, dass Dr. L selbst keine Untersuchungs-befunde erhoben habe, die seine Schlussfolgerung rechtfertigen könnten, so dass er an seiner Bewertung festhalte.

Der Kläger hat am 23. April 2009 auch Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 24. Februar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. März 2009 in der Fassung des Berichtigungsbescheides vom 3. April 2009 erhoben, mit der er die Feststellung eines GdB von 80 sowie des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "aG" und "H" jeweils ab dem 27. November 2008 geltend machte. Das Sozialgericht hat ein Sachverständigengutachten bei dem Chirurgen und Sozialmediziner Dr. B eingeholt, der in seinem Gutachten vom 10. Dezember 2009 nach Untersuchung des Klägers am 8. Dezember 2009 eine zunehmende Funktionseinschränkung im thorakolumbalen Wirbelsäulenabschnitt seit der Stellung des Änderungsantrages vom 25. November 2008 feststellte und zu einer Einschätzung der Funktionsstörung der Lendenwirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 50 gelangte. Da keine weiteren Gesundheitsstörungen bei dem Kläger vorlägen, bilde dies zugleich den Gesamt-GdB. Der Kläger könne sich trotz eines anhaltenden, postoperativen Schmerzzustandes aufgrund Funktionsbehinderungen großer Wirbelsäulenabschnitte nach Versteifungsoperation außerhalb eines Kraftfahrzeuges ohne fremde Hilfe bewegen. Die von dem Kläger bei der Fortbewegung als groß empfundene Anstrengung entspreche nicht den objektiven Befunden. Bei diesem lägen weder die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichen "aG" noch "H" vor. In einer ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 1. Februar 2010 hielt der Sachverständige an seiner Einschätzung fest. Auf der Grundlage der Feststellungen des Sachverständigen Dr. Bhat das Sozialgericht Potsdam die Klage mit weiterem Urteil vom 4. März 2010 abgewiesen.

Gegen das ihm am 18. März 2010 zugestellte Urteil hat der Kläger am 19. April 2010, einem Montag, Berufung zum Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingelegt, mit der er sein Begehren zunächst weiter verfolgt, dann jedoch auf die Geltendmachung eines GdB von 70 ab dem 27. November 2008 beschränkt hat. Zur Begründung verweist er auf das im Rahmen des Verfahrens L 11 SB 78/10 eingeholte Gutachten von Dr. L.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens bei dem Orthopäden und Chirurgen Dr. T, der in seinem Gutachten vom 28. Februar 2012 aufgrund der Untersuchung des Klägers am 21. Februar 2012 ab November 2008 einen GdB von 50 für gegeben erachtete. Dem legte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

Wirbelsäulenkomplex (HWS/BWS/LWS mitsamt langstreckiger Versteifung) (Einzel-GdB 50) Beginnender Hüftgelenksverschleiß (Einzel-GdB 10) Arterieller Hypertonus (Einzel-GdB unter 10)

Dabei führt Dr. T aus, dass bei dem Kläger eine langstreckige Versteifung bestünde, die im Grunde genommen einen Wirbelsäulenabschnitt erfasse und nicht mit langstreckigen Verstei-fungen, wie dies bei Skolioseoperationen über zwei Wirbelsäulenabschnitten der Fall wäre, zu vergleichen sei. Nennenswerte Funktionsstörungen im Bereich der Brustwirbelsäule hätten sich nicht feststellen lassen. Im Bereich der Halswirbelsäule bestünden leichte, allenfalls mäßige Beweglichkeitseinschränkungen. Eine höhere Bewertung des GdB sei nicht gerechtfertigt, weil auch der Kläger keine anhaltenden oder starken motorischen Ausfälle beschreibe. Die anderweitigen Feststellungen von Dr. L in seinem Gutachten seien nicht nachvollziehbar, da trotz der festgestellten starken Ausfälle Dr. L keine Atrophie am linken Ober- und Unterschenkel beschrieben habe. Dr. L habe keine Messung der Beinumfänge vorgenommen, während Dr. T keine signifikanten Umfangsdifferenzen der Beinumfänge hätte feststellen können. Es sei allgemein bekannt, dass motorische Defizite zu Muskelrückbildungen/Atrophien führten. Die Behinderungen des Klägers wirkten sich nicht gegenseitig verstärkend oder anderweitig besonders nachhaltig aus. Der Kläger sei – wenn auch mit Pausen nach etwa einer Stunde Fahrzeit – nach seiner eigenen Darstellung in der Lage, längere Wegstrecken mit seinem Auto zurückzulegen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 4. März 2010 sowie den Bescheid des Beklagten vom 24. Februar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. März 2009 zu ändern und den Beklagten zu verpflichten, bei dem Kläger ab dem 27. November 2008 einen GdB von 70 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten sowie die Gerichtsakten des Verfahrens S 9 SB 294/06/L 11 SB 78/10 vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 144 Absatz 1 SGG, in der Sache jedoch nicht begründet.

Zu Recht hat das Sozialgericht mit dem angegriffenen Urteil die Klage abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 24. Februar 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. März 2009 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen den Beklagten auf Feststellung eines GdB von 70 ab dem 27. November 2008.

Nach § 69 Absatz 1 Satz 1 SGB Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden nach Satz 4 der Vorschrift als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, wobei eine Feststellung nach § 69 Absatz 1 Satz 6 SGB IX nur zu treffen ist, wenn ein Grad der Behinderung von wenigstens 20 vorliegt. Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 69 Absatz 3 SGB IX der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Der Beurteilung sind für die Zeit bis zum 31. Dezember 2008 die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen und nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts als antizipiertes Sachverständigengutachten geltenden "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) zugrunde zu legen (für die vorliegend streitgegenständliche Zeit ab dem 27. November 2008 in der ab dem 1. Januar 2008 geltenden Ausgabe 2008). Für die Zeit ab dem 1. Januar 2009 ist für die Beurteilung – ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre – auf die als Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 veröffentlichten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" zurückzugreifen, die durch die 1., 2., 3. und 4. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 1. März 2010, vom 14. Juli 2010, vom 17. Dezember 2010 und vom 28. Oktober 2011 geändert worden sind.

Danach ist der GdB des Klägers von dem Beklagten ab dem 27. Januar 2008 mit dem angegriffenen Bescheid zu Recht mit einem GdB von 50 bewertet worden. Der Senat nimmt insoweit auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug und sieht nach § 153 Absatz 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab. Auch nach der im Berufungsverfahren durchgeführten weiteren medizinischen Sachaufklärung durch Ein-holung eines Sachverständigengutachtens bei dem Orthopäden und Chirurgen Dr. T kommt eine höhere Bewertung des GdB nicht in Betracht. Der Sachverständige Dr. T hat in seinem Gutachten nach Untersuchung des Klägers den Gesamt-GdB ab November 2008 mit 50 als angemessen bewertet erachtet und dabei nicht nur die Bewertung durch Dr. B bestätigt, sondern sich insbesondere mit dem von dieser Bewertung abweichenden Gutachten des Orthopäden Dr. L ausführlich auseinandergesetzt und nachvollziehbar dargelegt, dass die von dem Sachverständigen Dr. L für eine höhere Bewertung des GdB herangezogenen motorischen Ausfälle weder von dem Kläger selbst als anhaltend oder stark beschrieben wurden noch mit den Feststellungen von Dr. L in Übereinstimmung zu bringen sind, der keine Atrophien bei dem Kläger beschrieben hat. Diesen überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Dr. T schließt sich der Senat an.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Absatz 1 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe gemäß § 160 Absatz 2 SGG nicht gegeben sind.
Rechtskraft
Aus
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